EuroMayDay

Die Rebellion der Prekären als fortgesetzte Aneignung

in (12.06.2007)

Internationaler Kampftag der Arbeiterbewegung, populärer Feiertag mit Tanz in den Mai und Ausflug ins Grüne, Walpurgisnacht, Anlass für interventionistisch-anarchistisch-libertäre

Protestveranstaltungen und seit einigen Jahren auch der Tag, an dem die Prekären sicht- und hörbar rebellieren: Der Erste Mai ist ein symbolisches Datum, in dem Erinnerungen an unterschiedlichste historische und gegenwärtige Kämpfe und kollektive Erinnerungen an gesellschaftlichen Wandel aufgehoben sind. In manchen Konstellationen können solche Bedeutungen aktiviert, ineinander oder auf eine neue Situation übersetzt, umgesetzt und angeeignet werden.

Schon im Jahr 2000 hatte Peoples Global Action, ein transnationales, globalisierungskritisches Netzwerk aus der sich neu formierenden globalen Protestbewegung, den Ersten Mai zum globalen Aktionstag ausgerufen. Nach den Mobilisierungs- und Vernetzungserfolgen des Carnival against Capitalism in den Finanzzentren der Welt am 18. Juni 1999 und den Protesten gegen die Welthandelsorganisation in Seattle im November des gleichen Jahres war dies ein Versuch, die entstehende Bewegung gegen neoliberale Globalisierung durch weitere zeitlich synchronisierte und kommunikativ vernetzte Aktionstage zu stärken und sichtbar zu machen. Der Erste Mai diente hier quasi als symbolische Klammer, die die politisch, sozial und kulturell höchst unterschiedlichen Stränge der neuen Bewegung zusammenhalten könnte. Als Farben der Mobilisierung zu MayDay 2K kristallisierten sich rot, schwarz und grün heraus. Rot stand für den von der sozialistischen Internationale im Jahr 1890 ausgerufenen Internationalen Kampftag der Arbeiterbewegung für den 8-Stunden Tag, auf den sich die heute üblichen Gewerkschaftsveranstaltungen beziehen. Schwarz stand für den anarchistischen 1. Mai, dabei bezog man sich auf die Haymarket Riots in Chicago. Schon 1886 hatten die US-amerikanischen Gewerkschaften im Kampf für den 8-Stunden Tag einen Streik am 1. Mai ausgerufen. In den folgenden Tagen eskalierten in Chicago Auseinandersetzungen mit der Polizei. AnarchistInnen riefen zu einer Protestkundgebung auf, bei der es zu den erwähnten Riots kam. Vier Anarchisten wurden als Rädelsführer verurteilt und öffentlich gehenkt. Grün schließlich stand für Ökologie, vorchristliche Bräuche, Genuss, Sexualität und Frühjahrsrituale und war damit ein Identifikationsangebot für Umweltbewegung, Alternativkultur und hedonistische Orientierungen.
Globalisierungskritische Gruppen in über 20 Städten, in ca. 16 Ländern vor allem in Europa und den USA, beteiligten sich, jeweils angepasst an ihre lokalen Situationen. Berichte über die Veranstaltungen und Aktionen wurden oft zeitgleich oder nur mit kurzer Verzögerung auf einem Webportal zusammengeführt. Auch wenn in einigen Ländern in den darauf folgenden Jahren weiterhin globalisierungskritische Gruppen zum ersten Mai auf die Straße gingen, blieb seine Einreihung in die Kette der globalen Aktionstage von Seattle über Prag bis Genua ein einmaliges Ereignis. Die symbolisch gebliebene Klammer des Rot-Grün-Schwarz aus dem Bedeutungsrepertoire des Ersten Mai reichte für eine dauernde kollektive Aneignung nicht aus.

Ganz anders gestaltete sich die Aneignung des Ersten Mai durch die Bewegung der Prekären im EuroMayDay. Im Jahr 2001 wurde in Mailand im Umfeld der Centri Sociali und der Basisgewerkschaften eine MayDay-Parade durchgeführt, Thema war die fortschreitende Prekarisierung von Arbeits- und Lebensverhältnissen. In den darauf folgenden Jahren wurde die Parade immer größer, 2004 beteiligten sich, nun unter dem Label EuroMayDay, auch entsprechende Gruppen in Barcelona. Im Herbst des gleichen Jahres erklärten mehrere Gruppen auf einem Gegenforum zum Europäischen Sozialforum ihre Absicht, im nächsten Jahr nicht nur europaweit EuroMayDays durchzuführen, sondern vor allem ein transeuropäisches Netzwerk aus Bewegungen und Kollektiven zu formen, das für soziale Rechte eintreten sollte. In dieser "Middlesex Declaration" werden auch die AdressatInnen benannt: zornige ZeitarbeiterInnen, verärgerte Teilzeitkräfte, GewerkschaftsaktivistInnen, autonome MarxistInnen, postindustrielle AnarchistInnen, SyndikalistInnen, FeministInnen, Antifas, Queers, Anarchogrüne, HacktivistInnen, WissensarbeiterInnen, flexibilisierte ArbeiterInnen, Outgesourcte und Vertragsangestellte. Diese Liste der Angerufenen, die in den nächsten Jahren weiter ausgearbeitet wurde, stellt zugleich eine Beschreibung der Aufrufenden dar. Während bei der Mobilisierung des ersten Mai 2000 zu einer Identifizierung mit den als politisch verortet verstandenen "rot-grün-schwarzen" Traditionen des Ersten Mai eingeladen wurde, mischt man nun flexibilisierte und subjektivierte Arbeits- und Lebensverhältnisse mit politischen und identitären Positionen und bringt damit einen gesellschaftlichen Wandel zum Ausdruck, der nicht unter bestehende Labels subsumiert werden kann.

Der Erste Mai mit seinem dichten Bedeutungsgefüge dient den EuroMayDays nicht als Folie, in die bestehende politische Ausrichtungen, Themen und Artikulationsweisen eingeordnet werden. Die Aneignung vollzieht sich stattdessen in der Entwicklung einer Gesellschaftsanalyse, die Lebens- und Arbeitsbedingungen in postfordistischen Gesellschaften unter dem Begriff der Prekarität thematisiert. Befristete oder keine Arbeitsverträge, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und kein bezahlter Urlaub sind traditionelle Gewerkschaftsthemen. Neu ist, dass in den kreativen, praktischen und theoretischen Anstrengungen im Kontext der EuroMayDays subjektiv erfahrene Zumutungen wie etwa die Anforderung des lebenslangen Lernens, des permanent flexibel, kreativ und mobil sein Müssens eingebaut werden. Das Feld, von dem aus agiert wird, erweitert sich auf einen von Prekarität erfassten Alltag - einen Alltag, dem traditionell prekarisierte ArbeiterInnen ebenso ausgesetzt sind wie WissensarbeiterInnen etwa in der IT-Branche, der sich aber auch auf unsichere oder unbezahlbare Wohnsituationen oder etwa den unsicheren Aufenthaltsstatus von MigrantInnen erstreckt.

Der erste Versuch einer Aneignung des ersten Mai durch die transnationale Protestbewegung gegen neoliberale Globalisierung war ein einmaliges Ereignis und blieb auf der symbolischen Ebene. Im Gegensatz dazu treiben die EuroMayDays die Aneignung weiter. Mit ihrem Konzept der Prekarität postfordistischer Lebens- und Arbeitsbedingungen passen sie den im 19. Jahrhundert entstandenen Ersten Mai als internationalen Kampftag der Arbeiterbewegung langsam, aber stetig an die gegenwärtige gesellschaftliche Situation an - im kollektiven Betrachten der eigenen subjektiven Erfahrungen, in der (durchaus konflikthaften) Interaktion mit Gewerkschaften, in der Entwicklung sicht- und hörbarer Artikulierungs- und Interventionsweisen politisieren sie weithin als individuell verstandene prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG BIldende Kunst, "Aneignen", Sommer 2007.