Der schlafende Gigant

Das WSF in Nairobi zeigt die Vielfalt afrikanischen Widerstands und geht erste Schritte zu einer neuen Gleichberechtigung der Bewegung aus Nord und Süd.

Maima Machmud ist aus einem Flüchtlings­lager im äußersten Südwesten Algeriens zum Weltsozialforum gekommen. Sie war mehrere Tage unterwegs, doch der in knallig-orangene Tücher gehüllten Mutter merkt man von Erschöpfung nichts an. In der sommerlichen Hitze Nairobis schwenkt sie schon seit Stunden die Flagge ihres Staates, den es offiziell nicht gibt. "Die West-Sahara ist die letzte Kolonie Afrikas, mein Land ist von Marokko besetzt", erklärt Machmud gut 100 ZuhörerInnen, die zuvor nie etwas von dem seit mehr als 30 Jahren schwelenden Konflikt gehört haben. "Die Marokkaner beuten Phosphor aus, fischen das Meer vor der westsaharischen Küste leer und suchen nach Öl", bestätigt Machmuds Kollege Mohammed Fadel. Im von Marokko besetzten Gebiet ist niemand willkommen, auch keine Hilfsorganisation. Die UN fordern seit dem Abzug der spanischen Kolonialmacht ein Referendum über die Zukunft der West-Sahara. Doch trotz mehr als 30 Resolutionen des Sicherheitsrats weigert sich Marokko standhaft, die Volksbefragung abzuhalten.

Alltägliche Kämpfe

Es sind afrikanische Widerstands­ge­schichten wie die von Maima Mach­mud, die das Motto des sechsten Welt­sozialforums, "Widerstand von unten, Lösungen von unten", ausfüllen. Akti­vistInnen aus ganz Afrika präsentieren die Kämpfe, die sie täglich führen, die außerhalb Afrikas aber kaum jemand kennt. Auch Bewegungen, die bisher in der Illegalität arbeiten, wagen sich in Nairobi an die Öffentlichkeit. Wie der Kenianische Schwulen- und Lesbenverband, den es eigentlich gar nicht geben dürfte. Denn in Kenia, wie fast überall in Afrika, ist Homosexualität gesetzlich untersagt. "Damit muss Schluss sein, wir fordern gleiche Rechte wie Heterosexuelle" sagt Henry aus der Küstenstadt Mombasa. Henry will seinen langjährigen Partner heiraten, am liebsten in der Kirche. 120 schwule und lesbische Mitglieder zählt das im Jahr 2000 gegründete Netzwerk Equality now. Auch ein Unternehmen für schwul-lesbische Safaris haben sie bereits gegründet. "Wir hoffen auf internationale Unterstützung bei unserem Kampf um Anerkennung, auch wenn wir es letztlich in unseren Ländern selber schaffen müssen", sagt Agnes aus Uganda, während sie ein mitgebrachtes Regenbogen-Banner aufhängt.

Das Interesse der mehr als 50.000 Teil­nehmerInnen aus aller Welt freut auch Primrose Matambanadzo, die in Sim­babwes Hauptstadt Harare lebt. "Wenn wir ein Treffen haben, marschiert immer die Polizei auf", sagt die 27-jährige von der Koalition gegen die Krise in Simbabwe. "Unser Präsident Robert Mugabe bestreitet nicht einmal, dass Oppositionelle verfolgt werden." Doch für ihren Einsatz erhält Primrose Matambanadzo in Nairobi bei weitem nicht nur Zuspruch. "Viele beschimpfen mich, wie ich es wagen kann, einen alten Befreiungshelden zu diffamieren."

Stark wie noch nie sind in Nairobi die Kirchen präsent, unbestritten die größte Basisbewegung Afrikas. Der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu feiert das Weltsozialforum als große Chance für Afrika, einen schlafenden Giganten, der endlich erwachen müsse. Die "globale Zivilgesellschaft" ruft er auf, zusammenzustehen. "Niemand wird einen Krieg gegen Terror gewinnen, solange Armut und Verzweiflung so stark sind."

Im umgebauten Fußballstadion von Kasarani im Nordosten Nairobis schwitzen von morgens bis abends Tausende in Seminaren gegen bilaterale Handelsabkommen, über die Erwartungen der Ärmsten beim G8-Gipfel oder die Zukunft der Gewerkschaften. Den Weg rund um das Stadion nutzen zahlreiche Gruppen, um in Klein-Demos eine gerechtere Welt oder die Anerkennung ihrer Volksgruppe zu fordern. Andere lassen sich von der Sportplatz-Atmosphäre anstecken und laufen mit vollen Biergläsern durch die knallende Sonne.

Über das WSF hinaus

Die OrganisatorInnen hoffen, dass der Kampf für Veränderung auch nach Ende des Weltsozialforums weitergeht. Eine Kampagne trägt den Titel Stoppt EPAs. Auf Postkarten, die beim Forum verteilt werden, prangt das Foto einer Afrikanerin, der eine weiße Hand den Hals zudrückt. "Die Europäischen Partnerschaftsabkommen, kurz EPAs, gefähr­den gerade die Ärmsten in der afrikanischen Gesellschaft", bestätigt Martin Gordon von Christian Aid das drastische Bild.

Wenn Ende 2007 das Abkommen von Lomé ausläuft, das 75 Ländern bevorzugten Zugang zum europäischen Markt einräumt, will die EU es durch beiderseitige Freihandelsabkommen ersetzen. "Dann würde der afrikanische Markt noch mehr als jetzt von hoch subventionierten Überschussprodukten aus Europa überschwemmt", warnt Gordon.

Marc Engelhardt lebt in Nairobi, schreibt dort an seiner Doktorarbeit in Geographie und arbeitet als freier Journalist.

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in: sul serio Sonderausgabe Nr. 5 "Soziale Bewegungen in Afrika", Frühjahr/Sommer 2007, S. 5

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