Vorwärts in die Geschichte

Hefteditorial

Mit (Neo-)Kolonialismus und postkolonialen Debatten befasst sich die iz3w schon seit 1970. Doch erst die 100. Jährung des Herero-Krieges gab 2004 den Anstoß, die deutschen Anteile daran zu beleuchte

Mit (Neo-)Kolonialismus und postkolonialen Debatten befasst sich die iz3w schon seit 1970. Doch erst die hundertste Jährung des Herero-Krieges gab 2004 den Anstoß, die deutschen Anteile daran in den Blick zu nehmen. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass der deutsche Kolonialismus sehr viel tiefgehendere Konsequenzen hatte, als die weit verbreitete Schuldabwehr-Haltung "Wir warenÂ’s nicht, die anderen aber noch mehr" glauben machen möchte. Kolonialismus betraf eben nicht nur die kolonisierte, sondern auch die kolonisierende Gesellschaft, und zwar auf allen Ebenen: politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell. Diese die Selbst- und Fremdbilder strukturierende Wechselbeziehung fing nicht erst mit der formalen Besitzergreifung an und endete auch nicht mit dem Versailler Vertrag. Wir stellten uns die Frage, was das Spezifische am deutschen Kolonialprojekt war und inwieweit er als Vorläufer des Nationalsozialismus gelten kann.

Diese Aussagen ernst zu nehmen hieß, dass man koloniale Vorstellungswelten und konkrete Verflechtungen auch vor Ort nachweisen können müsste - und zwar jenseits der Kolonialmetropole Berlin und der großen Hafenstädte mit ihrer überseeischen Infrastruktur. Oder anders gesagt: Etwas, das sehr präsent war, heute aber systematisch nicht mehr gesehen oder gar aktiv ausgeblendet wird, sollte wieder ins Blickfeld geholt werden. Mit dieser Arbeitshypothese ging 2006 die Webseite und damit die zentrale Plattform unseres Projektes www.freiburg-postkolonial.de online.
Die mühsamen Recherchen ernteten zunächst manches Kopfschütteln, ob des im doppelten Sinne scheinbar exotischen Themas. Denn wenn Deutschland nur so kurzzeitig Kolonialmacht war, warum dann ausgerechnet eine süddeutsche Provinzgroßstadt wie Freiburg damit behelligen? Doch konnte recht schnell nachgewiesen werden, dass auch die Breisgaumetropole die ganze Palette kolonialer Interessen und Institutionen, Militärs und Missionare zu bieten hatte - Rasseforschung und Schutztruppengeneräle eingeschlossen. Und noch wichtiger: Es handelte sich dabei nicht um nur wenige Interessierte, die ihren Träumen nachhingen und belächelt wurden, sondern um zivilgesellschaftlich hochgradig mit anderen Institutionen vernetzte und in der Stadt verankerte Funktionäre der "kolonialen Sache".
Die daraus resultierende Öffentlichkeit schlug sich in zahlreichen, oft gut besuchten Veranstaltungen der Kolonialbewegung nieder. So wurde etwa die von der NS-Studentenschaft 1933 organisierte Marine- und Kolonialwerbewoche nicht nur von den einschlägigen Freiburger Kolonial- und Marinevereinen unterstützt, sondern auch von Uni-Rektor Martin Heidegger, Oberbürgermeister Franz Kerber, studentischen Korporationen, dem Direktor der Freiburger Museen Noack und der Wirtschaft. Bei der Eröffnungsfeier in der Universität wurde betont, "daß gerade in der Südwestecke des deutschen Vaterlandes nicht oft und eindringlich genug auf die Notwendigkeit einer starken Marine und eines großen Kolonialgebietes hingewiesen werden kann". Wie die Auswertung der Freiburger Zeitungen belegt, hatten auch diese ihren Anteil an der kolonialen Öffentlichkeit: Die Bevölkerung wurde nicht nur oft über die (ehemaligen) Kolonien informiert, sondern durchweg prokolonial.
Zu den unerwarteten Rechercheergebnissen von
freiburg-postkolonial.de gehörte etwas, was in der Forschung bislang kaum berücksichtigt wurde oder unbekannt war: Freiburg wurde 1935 zum Schauplatz einer riesigen Kolonialtagung aller Kolonialverbände des Deutschen Reiches. Das enge Zusammengehen von Kolonial- und Nazibewegung erstreckte sich von der Schirmherrschaft des Reichsstatthalters Robert Wagner bis zur Schleusung von 1.200 Kraft-durch-Freude-UrlauberInnen aus der Rheinpfalz durch die begleitende Kolonialausstellung.

Suchte man 2004 im Internet nach Seiten zum deutschen Kolonialismus, wurde man mit einer Hegemonie von Kolonialnostalgikern und Rechten konfrontiert. Kritische Inhalte gab es wenig. Freiburger Themen waren deshalb von Anfang an nur einer von mehreren Schwerpunkten unserer Webseite. In Kooperation mit einer ganzen Reihe von KolonialhistorikerInnen und politischen AutorInnen steht inzwischen ein großes, frei zugängliches Angebot an Artikeln, Rezensionen, Bildern und Dokumenten online, das sich auch in den Suchmaschinen wieder findet. Im ersten Halbjahr 2007 wurden die verschiedenen Seiten insgesamt über 70.000 Mal aufgerufen.
freiburg-postkolonial.de versteht sich als Teil einer neuen erinnerungspolitischen sozialen Bewegung. In jüngster Zeit sind vielerorts in Deutschland kolonialkritische lokale Initiativen entstanden oder im Entstehen begriffen, die sich austauschen. Ob es in Ihrer Stadt auch eine gibt, erfahren Sie aktuell in der Rubrik "Links".

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