Was heisst "kritische Rechtswissenschaft"?

Eine Polemik

Kritik ist ein Verfahren. Es dient dazu, etwas zu überprüfen. Kritisch zu sein bedeutet mehr.

"As soon as youÂ’re born they make you feel small..." John Lennon "Wer denkt, löst auf" Thomas Bernhard

I.

Kritisch ist, wer das Verfahren immer wieder, grundsätzlich, systematisch anwendet, wer es gleichsam in der Tasche trägt. Kritisch zu sein ist eine Haltung. Als solche lebt sie von einem Gefühl und einer Überzeugung: Dem Gefühl, dass nicht alles was ist auch gut ist, und der Überzeugung, dass alles was ist auch anders sein könnte. Beides bedingt sich. Wem die Welt gefällt, wird sie sich nicht anders denken wollen. Und wem sie einmal auch anders erschienen ist, für den werden sich überall ihre Schwächen auftun. Für das erwähnte Gefühl gibt es in der juristischen Ausbildung genug Stoff, tagtäglich. Wer Erstsemester unterrichtet sieht jeden Tag, wie StudentInnen verloren sind, schon in den Hörsälen, gepfercht neben vierhundert Fremde, die nun "KommilitonInnen" sein sollen, aber von denen man nur die Ellbogen fühlt, jeder betont locker, mit dem alten Schul-Gesicht, Angst haben alle. Was Jura ist, sagt keiner. Was in den ersten Klausuren geprüft wird, den Gutachtenstil, bekommt keiner irgendwo gelehrt. Wer Glück hat, hört ein wenig darüber in den Tutorien, von StudentInnen ohne Examen. Eine eigene Veranstaltung für die massgebliche (weil einzige!) juristische Argumentationstechnik, die die Fakultät vermitteln will, gibt es nicht. Literatur gibt es keine. In den Vorlesungen werden Lehrbücher verlesen. Davon gibt es hunderte, warum weiss kein Mensch. Die Professoren sind netter und offener als man erwartet hatte, die Meisten wirken überraschend engagiert und glaubwürdig erfüllt von dem was sie tun, was sie schreiben ist brillant, unterrichten können die Wenigsten, gelernt haben sie es nirgendwo. Didaktik gibtÂ’s beim Repetitor, brillant ist dort nichts mehr. Was zählt ist der Schein, denn der Schein führt zum Examen, denn das Examen führt zur Examensnote, denn die Examensnote führt zum Beruf, alles was zählt ist die Examensnote. Nach ihr und nur nach ihr wird eingestellt. Anwaltsfirmen, die "Wirtschaft" und die Verwaltung stellen ein nach Noten, die wir vergeben für die Beherrschung eines Gutachtenstils, der mit der Praxis nichts aber auch gar nichts zu tun hat. Was dort zählt wären Methoden, beigebracht werden sie nicht. Wo es ausnahmsweise mal eine Veranstaltung zur Methodenlehre gibt, ist sie nicht Pflicht. Pflicht sind die nur mit dem Zynismus der Beliebigkeit erlenbaren vierhundert Meinungsstreitigkeiten, für die man durch die Hölle einer Examensvorbereitung geschickt wird, die nicht vorbereiten kann auf ein ein- bis zweiwöchiges Roulette-Spiel, bei dem man niemals alles wissen kann und ohne Methoden hinterher alles wieder vergessen darf. Es ist ein Spiel, das brutal erzieht statt zu emanzipieren, das intellektuelle Kraft nicht fördert, sondern paralysiert. Man kann es nur verlieren. Für den psychischen Terror dieser Zeit wird keiner entschädigt. Das ist die zynische Pointe dessen, was wir JuristInnen-Ausbildung nennen: Dem Terror der Schule folgt der Terror der Examensvorbereitung, der dumpfen Beliebigkeit des Schulwissens folgt die dumpfe Beliebigkeit der Rechtsdogmatik, die eine lähmende Fremdbestimmung löst die andere ab, diesmal freilich mit festerem Griff, unausweichlich, mit dem Donnergrollen des Lebensentscheidenden.

II.

Um sich über all das zu erregen, bräuchte man die Überzeugung, daß alles auch anders sein könnte. Aber dafür müsste man darüber reden und schreiben. Dass es anders geht, zeigen die USA. Wo sind bei uns die Untersuchungen über die Art und die Technik mit der wir unterrichten,1 die Diskussion über alternative Unterrichtsmethoden,2 über Sinn und Unsinn unserer Notenvergabe,3 die Möglichkeiten und Grenzen von Gruppenarbeit,4 die Förderung sinnvoller Mitarbeit in den so entscheidenden Tutorien5 usw. usw., und für ganz Mutige vielleicht sogar einmal der Frage: Für wen oder was ist sie eigentlich da, die JuristInnenausbildung?6 "Weniger büffeln, mehr begreifen" ist das Niveau der Diskussion hierzulande.7 Wir haben eine wachsende Literatur von Legal Gender Studies, aber wo ist der Blick auf den Hörsaal?8 Wir lehren Toleranz, aber wo können wir lesen von der Erfahrung als MigrantIn, als homosexuelle(r) StudentIn etc. an unseren Fakultäten?9 Wir haben eine uferlose Diskussion über die Reform und die Schwächen der JuristInnenausbildung, aber wo ist die Beschreibung und Aufarbeitung des beispiellosen psychischen Terrors, den sich unsere (wir sind eine universitas) StudentInnen unterziehen?10 Diejenigen, die sich verloren fühlen, haben keine Stimme, sind namenlos, ihre Geschichten sind nirgendwo nachzulesen. Auch das kann anders sein.11 Es wäre eine wirklich "kritische Rechtswissenschaft", die sich so aufmachen könnte, in guter kritischer Manier freilich mit dem Weg als Ziel.

III.

Gibt es so viel Stoff für kritische Rechtswissenschaft, den gerade "linke" Rechtswissenschaft sicher gerne aufzunehmen bereit wäre, dann gibt es aber auch einen Haken für kritische Rechtswissenschaft, den gerade diese Rechtswissenschaft gerne vergisst. Der Haken geht auch StudentInnen an. Er hängt zusammen mit dem Gefühl, dass nicht alles gut ist. Wie können und dürfen wir als Universität Kritisch-Sein predigen (denn predigen lässt es sich leider auch) wenn wir in erster Linie Rechtsanwender ausbilden? Das wird gerne verdrängt. Rechtsanwender sollen das Recht anwenden, nicht schaffen. Mit ein wenig historischer Erinnerung wird daraus mehr als nur ein verfassungsrechtliches Sollen. Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung nach 1933 hängen nicht nur miteinander zusammen, sondern sind auch genuin juristische Phänomene. Es ist Zeit, endlich zu akzeptieren, dass alle drei über klare Rechtsbrüche zustande gekommen sind - Rechtsanwender haben damals damaliges (und nicht nur heutiges) Recht gebrochen, und sie haben es bewusst getan. Nicht mehr metaphysische Wert-Rhetorik, sondern mehr strikte Gesetzesanwendung von klaren Vorschriften aus BGB und StGB hätte die Opfer (jedenfalls an diesem Punkt der ihnen zugefügten Gewalt) beschützt.12 Wer sich das im einzelnen ansieht, und das heisst konkret entlang der damaligen Urteile dieser "Rechtsanwender", dem wird mulmiger werden bei dem Gedanken daran, JuristInnen zu erziehen, die dann hinausgehen in die Welt und "kritisch" sind gegenüber dem Recht. Und man muss dafür gar nicht das "Dritte Reich" bemühen. Mir ist unverständlich, wieso nicht häufiger in der Linken verstanden wird, dass die politische Kritik am "bürgerlichen Formalrecht" immer auch von denen genutzt werden kann, denen es politisch nicht "rechts" genug ist. Seinen 125. Geburtstag in diesem Jahr könnte man dazu nutzen, das bei Hans Kelsen wieder nachzulesen.13 Die Freigabe des juristischen Diskurses bis hin zu jenem Punkt, an dem sich politische Argumente erfolgreich als juristische ausgeben können, befördert schon jetzt Ansichten, bei denen sich Marcuse im Grab umdrehen dürfte.14 Ist man bereit, auch das als Ergebnis von "Rechtswissenschaft" (kritischer) auszugeben? Diese Kritiken wenden sich heute gegen positives (Verfassungs- und Richter-)Recht, das viele (wenn auch nicht sehr viele) der einstigen linken Kritiken aufgenommen hat, und sie tun das mit dem gleichen Recht (oder Unrecht) wie einst die linke Kritik. Bedeutet die Ausbildung zur "kritischen" Juristin, dass wir auch diese Rechts-Verdrehungen als Recht unterrichten wollen? Immerhin haben auch die Critical Legal Studies in den USA inzwischen dem Recht ein gewisses Mass an Bestimmtheit zugesprochen.15 Würde nicht auch hier mehr un-kritische Gesetzestreue unterscheiden helfen was etwa Art.6 GG ist - und was nur Aufblähung dieser Norm zu einem die Verfassung beherrschenden Prinzip, nur dazu angetan, (christlichen) Gott und (spiessbürgerliche) Ehe-Konventionen in die Verfassung hineinzupressen. Ist nicht zuletzt auch die Umdeutung des Folterverbots letzte, unheimliche Konsequenz eines Bindungs-befreiten Anti-Positivismus?16 Das vergisst man leicht mit postmodernem Schulterzucken über den Mythos der strikten Gesetzesanwendung. Hier liegt das Problem. Denn die Ernüchterungen liegen auf dem Tisch. Dass der Gesetzestext die Entscheidung letztendlich nicht determinieren kann, ist ein theoretischer Befund, hinter den es kein Zurück gibt.17 Dass RichterInnen ihre Vorentscheidungen haben und verwenden, ist ein alter Hut.18 Gelehrt wird er im Unterricht noch immer viel zu selten. Am von der Linken wie von der Rechten bekämpften Positivismus, der zunächst einmal Gesetzestexte angewendet wissen will, wird in den Vorlesungen (in den Repetitorien freilich gar nicht mehr) festgehalten (und sei es nur als Lippenbekenntis). Rechtserkenntnis, wo ein Recht aus den Texten nicht erkannt werden kann. Können wir diese Ernüchterungen den Erstsemestern im Unterricht vorenthalten? Was aber ist dann mit der Gesetzesbindung? Können wir Jura-StudentInnen schon im ersten Semester in einem Zustand belassen, von dem wir wissen, er sei doch nur ein Traum? Würden aber ausgeschlafene RechtsanwenderInnen auch einen so "klaren" § 1 BGB noch "anwenden" wenn das Regime ohnehin Glaubenssätze statt Texte sprechen lassen will, zumal mit der kalten Hand der Macht auf der Schulter? Meines Erachtens ist das die Kernfrage nicht nur für eine "kritische Rechtswissenschaft" sondern auch für die JuristInnenausbildung schlechthin. Wie verbinden wir radikale Rechtskritik mit der Erziehung zu einer Gesetzestreue, die immerhin krudeste politische Glaubenssätze aus dem juristischen Diskurs heraushält? Die Frage wäre zu stellen. Ich selbst weiss darauf keine gute Antwort. Vielleicht wäre eine strikte Zweiteilung notwendig, die den StudentInnen in der Ausbildung erkennbar ist und sie zu einer methodisch bewußt vollzogen Arbeitsteilung erzieht zwischen affirmativer Rechtsanwendung und radikalkritischem Rechtsdenken. Das wäre theoretisch sinnvoll, praktisch sehr merkwürdig. Aber möglich wäre es schon. Warum refereriert kein(e) ProfessorIn für eine Stunde (entlang Gesetzestext, BGH, "hM", den Herren Canaris und Medicus etc.) den Stand jenes Rechtswissens, den die Studierenden kennen (und gut kennen!) müssen, um dann in der folgenden Stunde zu erklären, warum das alles (ökonomisch, politisch, sprachphilosophisch, soziologisch etc.) Nonsense ist. Zu erklären wäre freilich so auch, wo der Ort sein soll, an dem diese Kritik in die Wirklichkeit tritt - und wo nicht. Und warum nicht. Keine fröhliche Aufgabe. Vielleicht ist aber auch notwendig, den viel geschmähten Positivismus im Umgang mit vieldeutigen Rechtstexten als das zu verstehen, was er ist: eine zynisch-pragmatische und kritische Methode: zynisch-pragmatisch weil theoretisch unhaltbar und dennoch praktisch unumgänglich, kritisch weil immer auf der Suche nach metaphysischen und/oder politischen Argumenten, deren Beweisbarkeit er zu überprüfen sucht. Ein solches Mass an juristischem Pragmatismus würde voraussetzen, dass wir uns verabschieden wollen von allen metaphysischen Argumenten in der Rechtswissenschaft. Eine derartige Suche nach diversem Nonsense in der Juristenausbildung hat die linke Rechtskritik etwa in den USA durchaus (auch) betrieben.19 Es würde aber auch voraussetzen, dass wir einen so grossen Widerspruch zwischen theoretischer Einsicht und pragmatischem Als-ob aushalten können - und wollen.

IV.

Eine zynische Rechtswissenschaft also für StudentInnen, die in einem von ihnen schon genug als zynisch empfundenen System leben20? Noch mehr Zynismus für Jura-StudentInnen, die doch eigentlich Verantwortungsgefühl lernen sollen, sich und anderen gegenüber? Ich glaube ja. Und zwar weil ich glaube, dass die eigentliche unbefriedigende Erfahrung für Jura-StudentInnen nicht der Mangel an Vermittlung von metaphysischem Rüstzeug, Lebenssinn, Handlungsanleitungen, Vorschriften für ein ‚richtigesÂ’ Leben etc. etc. ist, sondern der Mangel an Transparenz in dem was sie lernen sollen. Die wahre Emanzipation entspringt der Einsicht, dass nichts in Stein gemeisselt sondern alles hinterfragbar ist; eine nicht leichte Freiheit, die aber nach Hoffnung schmeckt, weil sie Autonomie verspricht. Damit wäre Wissenschaft vom Recht ein bißchen mehr das was Wissenschaft im besten Fall ist: Ein Instrument mit dem man alles auseinander nehmen kann um es selbst und für sich neu zusammenfügen zu können, ein Instrument von Aufklärung, im eigentlichen Sinn des Wortes. Dann mag man auch erkennen, dass man, weil nichts hält, sich an nichts halten kann. Der Zynismus, der darin liegt, tötet immerhin falsche Gespenster, die nicht länger einschüchtern. Das ermuntert, sich gross zu fühlen statt sich klein machen zu lassen. Auch wenn man sich damit noch nicht hat, zumal als Jura-StudentIn. Aber die Möglichkeiten sind grösser geworden: Wie nun? Wir sind. Aber noch haben wir uns nicht. Darum werden wir erst21. 1 Siehe nur: S. Friedland, How We Teach: A Survey of Teaching Techniques in American Law Schools, in: Seattle Univ. Law Review, Vol. 20 1996, 1. 2 Siehe nur: P. Bateman, Toward Diversity in Teaching Methods in Law Schools: Five Suggestions from the Back Row, in: Quinnipiac Law Review, Vol. 17 1997, 397. 3 Siehe nur: Aizen, Four ways to better 1L Assesments, in: Duke Law Journal, Vol. 54 2004, 765. 4 Siehe nur: Evensen, To Group or Not to Group: Students' Perceptions of Collaborative Learning Activities in Law School, in: Southern Illinois Univ. Law Journal, Vol. 28 2004, 343. 5 Siehe nur: S. Wildman, The Question of Silence: Techniques to Ensure Full Class Participation, in: Journal of Legal Education, Vol. 38 1988, 147. 6 Henderson, Asking the Lost Question: What is the Purpose of Law School? In: Journal of Legal Education, Vol. 53 2003, 48. 7 Böckenförde, Weniger Büffeln, mehr begreifen, FAZ v. 29.10.1996, 12. 8 Siehe nur: D. Rhode, Missing Questions: Feminist Perspectives on Legal Education, in: Stanford Law Review, Vol. 45 1993, 1547. 9 Siehe nur: W. Rubenstein, My Harvard Law School, in: Harvard Civil Rights - Civil Liberties Review, Vol. 39 2004, 317. 10 Siehe nur: Segerstrom, Perceptions of Stress Control in the First Semester of Law School, in: Willamette Law Review, Vol. 39 1996, 593. 11 Siehe nur kürzlich: Brittenham, In Pursuit of the Gold Star: Diary of a Law Student, in: Unbound. Harvard Journal of the Legal Left, Vol. 1 2005, 15; und mittlerweile legendär: D.Kennedy, How the law school fails - A polemic, in: Yale Law Review of Law and Social Action, Vol. 1 1970, 71. 12 Siehe nur: Rüthers, Unbegrenzte Auslegung, 1968; Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994. 13 Vor allem: Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934. 14 Siehe jetzt vor allem: Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005. Verordnet wird dort Kultur statt Freiheit. 15 So mittlerweile: D.Kennedy, A Critique of Adjudication: Fin de siècle, 1997, vor allem 272 ff., 315 ff. 16 Siehe bekanntlich: Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, in: Der Staat, Jg. 35 1996, 67 ff. 17 Siehe nur Christensen, Was ist Gesetzesbindung?, 1989; zum Ganzen jetzt grundlegend Somek, Rechtliches Wissen, 2006. 18 Zuerst wohl Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885; dann vehement Kantorowicz, Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906; dann natürlich Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970; Für die USA siehe vor allem: D.Kennedy, Form and Substance in Private Law Adjudication, in: Harvard Law Review, Vol. 89 1976, 1685. 19 D.Kennedy, Legal Education and the Reproduction of Hierarchy, 2004. 20 wer vier, fünf oder mehr Jahre an der Uni Jura studiert, lebt in diesem System. Auch das wird vergessen - am meisten von den Studierenden selbst. 21 Nach Bloch, Spuren, 1930, Motto.