Alle Macht der Freien Universität Kopenhagen

Von all den Angelegenheiten, an denen wir uns mit oder ohne Eigeninteresse beteiligen, ist die tastende Suche nach neuen Lebensweisen vielleicht das Einzige, das uns noch

mit Leidenschaft erfüllen kann. Die ästhetischen Disziplinen haben sich in dieser Hinsicht als himmelschreiend unzulänglich erwiesen und sie zeichnen sich durch äußerste Distanz aus, wenn es um grundlegende Fragen geht. Der Weg vorwärts ist jedoch nicht in der Auflösung der ästhetischen Disziplinen zu suchen - der Weg vorwärts heißt, mehr von ihnen zu verlangen. Auf unserer Suche nach neuen Lebensweisen verführen uns die Chemie des Unglücksbewusstseins und überschüssige Energien immer noch dazu, experimentelle Institutionen zu gründen und einen Diskurs neu zu formulieren, in dessen Rahmen wir das Wort "Ästhetik" verwenden. Die Freie Universität Kopenhagen ist eine solche Institution bzw. ein solcher Diskurs.
[...] Die Freie Universität Kopenhagen ist eine Stimme im Gemurmel vieler. Wir sind nicht zwei oder drei Einzelpersonen, sondern eine Institution, die im Prozess des Produziertwerdens und des Produzierens durch verschiedene gesellschaftliche Beziehungen driftet. Wir sind die Menschen im Haus. Diese Position schafft eine ständigen Veränderungen unterworfene Konfiguration, die durch viele Kontexte, Plattformen, Stimmen, Aktionen, aber auch durch Inaktivität, Verweigerung, Rückzug, Exodus gekennzeichnet ist. [Â…] Unsere Subjektivität (was man sagt und was man tut) steigt aus den materiellen Bedingungen unseres Alltagslebens auf und wird von den vermittelten Grundprinzipien des öffentlichen Bereichs abgezogen. Im öffentlichen Bereich fangen sich alle Argumente in den Grundprinzipien des individualisierten Bürgers und werden durch sie gefiltert. Was aber, wenn man sich nicht wie ein vernünftiger Bürger fühlt? Die Freie Universität Kopenhagen ist ein "Interessensbereich", der aus dem materiellen Leben, das wir erleben, stammt und immer schon, vor jedem Bürgerstatus politisiert ist. Unsere Reichweite ist gleichermaßen lokal und global, wir suchen Gesinnungsgenossen um die Ecke und um die ganze Welt.
Unser Ausgangspunkt ist das Hier und Jetzt: das Zirkulieren in der heutigen politischen Wissensökonomie und ihre Folgen und die Wünsche, die in den Strömungen und Netzwerken dieser Landschaft verteilt, akkumuliert, umgeleitet und aufgehalten werden. Die Tatsache, dass die höhere Bildung nicht mehr ausschließliche Domäne des Bürgertums und seiner Kinder ist und dass die ArbeitnehmerInnen heute allgemein hoch qualifiziert sind, hat zu "Massenintellektualität" geführt. Die Massenintellektualität und die heutigen immateriellen Produktionsmethoden, die verlangen, dass ArbeitnehmerInnen in einem Umfeld arbeiten können, in dem sie abstrakte Produkte herstellen, welche durch Wissen und Subjektivität gekennzeichnet sind, hat unser Interesse ganz besonders geweckt. Nicht, dass wir einen Job wollen, aber wir erkennen, dass diese Entwicklung unser Gefühlsleben beeinflusst.

[Â…] In der Produktion geht es zunehmend und auf verschiedenen Ebenen um die Fähigkeit, Entscheidungen zwischen mehreren Alternativen zu treffen, wobei der Entscheidungsprozess eine gewisse Verantwortung mit sich bringt. In der Wissensökonomie produktiv zu sein, bedeutet: von den Arbeitenden wird erwartet, dass sie aktive Subjekte werden; man muss sich ausdrücken, man muss sprechen, kommunizieren, zusammenarbeiten usw. Die Produktionsmethode wird immateriell und steht mit Kommunikationsprozessen in Verbindung, die von den Arbeitenden verlangen, dass sie kritisch sind und Subjektivität ausdrücken. Es ist keine überraschende Einsicht, dass der Ethos des Staates im Hinblick auf den Bürger fast identisch ist mit dem Ethos der kapitalistischen Produktion im Hinblick auf den Arbeitenden. Die politische Wissensökonomie von heute nimmt Gestalt an.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Methode der ästhetischen Produktion richten, so müssen wir erkennen, dass Künstlerinnen und Künstler zu Vorbildern der Arbeitenden in der Wissensökonomie werden. KünstlerInnen bringen traditionell ihre Seelen in die Arbeit ein, und das ist genau die Qualifikation, die das moderne Management sucht, wenn neue Arbeitskräfte rekrutiert werden sollen. Das Unternehmertum, die selbständige Unabhängigkeit und die geheiligte Individualität von KünstlerInnen sind die Traumqualifikationen der WissensarbeiterInnen von morgen: gewerkschaftlich nicht organisierte, bestens ausgebildete Individuen ohne Solidarität, die sich als TaglöhnerInnen verdingen. Der heroische Künstler der Avantgarde von gestern wird der Streikbrecher von morgen. Wir sehen, wie es rund um uns passiert, und wir tun es selbst, mit oder ohne Eigeninteresse.
Ein weiterer Aspekt ist die Tatsache, dass ein großer Teil der ästhetischen Produktion heute dazu instrumentalisiert wird, die Ideologie der Wissensökonomie zu reproduzieren. Das geschieht oft, wenn sich KünstlerInnen mit neuen Technologien beschäftigen, wenn sich KünstlerInnen mit gesellschaftlicher Erneuerung beschäftigen, wenn KünstlerInnen Kunst im öffentlichen Raum produzieren, oder allgemein dann, wenn KünstlerInnen sich für die gute und erbauliche Sache einsetzen. KünstlerInnen bejahen, ob nun vorsätzlich oder nicht, die derzeitige Hegemonie: sie bilden die Speerspitze neuer Marktstandards oder machen sich dort nützlich, wo Staat und Kapital auslassen. Die Freie Universität Kopenhagen ist bestrebt, andere Strategien zu entwickeln, Strategien des Rückzugs und des Protests. "Rückzug" steht für eine Aktivität, die nicht auf direkter Opposition basiert, sondern einer Ablehnung der Macht, einer Verweigerung des Gehorsams. "Protest" steht für eine Aktivität, mit der Antagonismen aufgedeckt werden sollen, welche unter der Oberfläche für die Gesellschaft charakteristisch sind und sich dort herauskristallisieren können.

[Â…] Es scheint, dass die Wissensökonomie mit einer Auffassung der ästhetischen Disziplinen arbeitet, in der es nur ein Produkt innerhalb eines Überbaus gibt. Ist eine Stadt geplant, ein Gebäude gebaut, ein Produkt entwickelt, dann sind die KünstlerInnen gefordert. Diese Auffassung ist derzeit bei Staat, Kunstinstitutionen und vielen KünstlerInnen weit verbreitet. Die Kunst ist eine gesellschaftliche Praxis, aber ist sie nur ein gesellschaftliches Konstrukt zum Wohle der Volksgesundheit? Wir haben die Absicht, die Diskussionen um die Ästhetik wieder zurück an die Basis zu tragen. Massenintellektualität und Globalisierung bieten die Möglichkeit, eine Strategie der Avantgarde wieder einzuführen, die nicht auf der Universalität der heroischen Avantgarde beruht, sondern sich in Form kollektiver und polymorpher kreativer Kräfte in der Herstellung gesellschaftlicher Beziehungen entwickelt. Ästhetik über die Disziplinen hinaus. Ästhetik als Faktum des Lebens.

Henriette Heise und Jakob Jakobsen sind Bildende KünstlerInnen und leben und arbeiten an der Copenhagen Free University (www.copenhagenfreeuniversity.dk). Der gemeinsame Text stammt aus dem Jahr 2001.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Widerstand. Macht. Wissen", Wien, Herbst 2007.