Petition revisited

Kelek: Feminismus oder Leugnung des Sozialen?

Die "Petition" - so der Titel, den die "Zeit" dem Beitrag gegeben hatte - wurde heftig und kontrovers diskutiert.

Die „Petition" - so der Titel, den die „Zeit" dem Beitrag gegeben hatte - wurde heftig und kontrovers diskutiert. Sie hatte andere Fakten und Bewertungskriterien auf den Tisch gelegt und begründet als jene, die in Medien und auch bei ausgewiesenen Feministinnen zum „Fall Necla Kelek" vorgestellt worden waren. Der Co-Autor der ‚Petition‘ zieht ein vorläufiges Resümee.

Im Februar des letzten Jahres erschien unter dem von der Redaktion der Zeit zugespitzten Titel „Gerechtigkeit für die Muslime" ein „Offener Brief", den ich zusammen mit Yasemin Karasoglu verfasst habe. In diesem Brief ging es grob gesagt darum, dass die weiterhin äußerst restriktive deutsche Einwanderungspolitik sich mehr auf Klischees als auf seriös gewonnene Erkenntnisse stützt. Als Beispiel diente die Debatte über Zwangsheirat. Zudem beklagten wir, dass diese Klischees bevorzugt von Autorinnen nichtdeutscher Herkunft geliefert werden, deren „authentische" Beziehung zum Thema offenbar für den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen bürgt. Herausgestrichen wurden dabei die Arbeiten von Necla Kelek. Das rührte daher, dass sie einerseits in der Öffentlichkeit als Wissenschaftlerin galt (und gilt) und sich in ihren Büchern andererseits besonders krasse Beispiele von methodischer Unredlichkeit fanden. Als weiteren Punkt sprachen wir in der Petition an, dass die gesamte Diskussion über Einwanderung in der Bundesrepublik permanent zugespitzt wird auf „die Muslime", womit andere EinwandererInnengruppen und ihre spezifischen Bedürfnisse und Probleme unsichtbar gemacht werden.

Auf die Petition gab es heftige Reaktionen - nicht zuletzt, weil etwa 60 SozialwissenschaftlerInnen sie unterstützt hatten. Besonders viel Kritik kam von feministischer Seite. Nun möchte ich zu diesem Brief eine Vorgeschichte erwähnen, die zeigt, wie problematisch feministische Positionen im Zusammenhang mit Fragen der Einwanderung sein können. Im Dezember 2003 hatten Halina Bendkowski, Günter Lager und Helke Sander ebenfalls einen Offenen Brief verfasst. In diesem Schreiben anlässlich der damaligen „Kopftuch-Debatte" behaupteten die AutorInnen, dass es hierzulande einen „rechtsfreien Raum" gebe, in den Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund zwangsverheiratet oder verschleppt werden, und in dem sie dann eingesperrt, beschnitten oder zur Prostitution gezwungen werden. Obwohl das Zusammenrühren ganz unterschiedlicher Phänomene nahezu absurd erschien, präsentierten die Ver­fas­ser­In­nen auch noch einen Vorschlag zur Lösung sämtlicher Probleme: „Alle Frauen und Männer, die aus Ländern kommen, in denen Männer gegenüber den Frauen rechtlich privilegiert sind, und die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland beantragen, unterschreiben ab sofort, dass sie Art. 3 Abs. 2 GG anerkennen. Damit anerkennen sie gleichzeitig, dass sie bei Verstößen ihr Aufenthaltsrecht verwirken."

Da die UnterzeichnerInnen, unter ihnen Frigga Haug, Viola Roggenkamp, Seyran Ates und die Bundesgeschäftsstelle von Terre des Femmes, kaum davon ausgehen konnten, dass eine Unterschrift Frauen vor der Unterdrückung bewahrt, handelte es sich wohl mehr um einen symbolischen Vorschlag. Der aber führt ins Herz einer relevanten Frage: Wie lässt sich Sexismus thematisieren und bekämpfen, den Menschen mit Migrationshintergrund zeigen? Ich war zur Zeit jenes Briefes bei der Initiative Kanak Attak aktiv, und diese Intervention hat die UnterzeichnerInnen für mich nachhaltig unglaubwürdig gemacht. Zunächst, weil in besagtem Brief die Bundesrepublik, die in jeder internationalen Evaluation von Gleichstellungspolitik auf den hinteren Plätzen landet, als ein Land betrachtet wurde, in dem es keine männlichen Privilegien mehr gibt. Und dann, weil der Aufruf als Mittel gegen Sexismus das Aufenthaltsrecht in Anschlag brachte. Die Gleichheit der Geschlechter innerhalb der nationalen Gemeinschaft sollte geschützt werden, indem man den Sexismus ganz einfach ausweist.

„Keine Diskriminierung"

Mir erscheint ein Feminismus ziemlich auf den Hund gekommen, der Geschlechtergleichheit zum Vorrecht deutscher PassbesitzerInnen macht. Zudem ist es aus der Perspektive von Personen mit Migrationshintergrund nicht sensibel, wenn jene PassbesitzerInnen auch noch mit dem Entzug des Aufenthaltsrecht drohen. In Deutschland wird der Aufenthalt von MigrantInnen seit 50 Jahren bewusst auf einer prekären Ebene gehalten. Diese Unsicherheit ist ein mächtiges Instrument der Diskriminierung, das sogar zu existentiellen Gefährdungen führen kann. Tatsächlich handelt es sich auch um ein Hindernis für die Emanzipation eingewanderter Frauen, vor allem, wenn sie als Ehepartnerinnen in die Bundesrepublik einreisen. Denn ihr Aufenthaltsrecht hängt an dem des Mannes.

Die 2007 beschlossenen Änderungen im Zuwanderungsgesetz haben die Rechtsposition der Frauen mitnichten verbessert. Die Debatte über „Zwangsheirat" hat auf der rechtlichen Ebene nur dafür gesorgt, dass die Möglichkeiten zur Einwanderung erschwert wurden: Das Nachzugsalter für Ehepartner wurde heraufgesetzt, und für EhepartnerInnen speziell aus der Türkei gilt: ohne Sprachkenntnisse kein Nachzug. Diese Voraussetzung müssen Personen aus den USA oder Südkorea nicht erfüllen. Die Regierung ist nicht davor zurückgeschreckt, die Türkei oder auch Serbien zu Ländern „mit besonderem Integrationsbedarf" zu erklären. Die Botschaft ist deutlich: „Ihr" seid unerwünscht.

Tatsächlich hat das Heiratsverhalten etwas mit Einwanderung zu tun. Da es fast keine legalen Möglichkeiten gibt, nach Deutschland einzuwandern, haben sich „Heiratsmärkte" entwickelt. „Eine Migration nach Deutschland", schreibt Ahmet Toprak, „erscheint vielen von Armut und Arbeitslosigkeit betroffenen Bewohnern der ländlichen Türkei als verlockend, eine Möglichkeit dazu bietet die Ehe mit einem in Deutschland lebenden Türken".1 Viele Hochzeiten auf diesem „Markt" werden arrangiert, aber nur wenige zwangsweise geschlossen. Tatsächlich stand bei der öffentlichen Thematisierung von Zwangsheirat oft nicht das Wohl der Frauen im Vordergrund. Vielmehr sollte das Problem mit der Verhinderung weiterer Einwanderung aus der Welt geschafft werden - da waren sich die Vertreterinnen des Feminismus mit deutschem Pass und jene des (parteiunabhängigen) Konservatismus einig.

Necla Kelek und zum Teil auch Seyran Ates hatten für diese Koalition eine ähnliche Funktion wie Ayaan Hirsi Ali in den Niederlanden oder Fadela Amara in Frankreich: Sie traten als allochthone „Kronzeuginnen" für die Durchsetzung einer restriktiven Politik auf. Beide haben sich für die besagten Änderungen im Zuwanderungsrecht eingesetzt, und beide haben das Gesetz später vorbehaltlos begrüßt. Necla Kelek füllte diese Rolle besonders gut aus. Das Herausstreichen der eigenen Familiengeschichte und Herkunft, die ständig wiederholte Behauptung, „mittendrin in der anatolischen Community" zu sein2, bediente die verbreitete Vorstellung, ihre Herkunft begründe per se eine Art privilegierten Zugang zur „Realität" und mache sie automatisch zur „Expertin für Parallelgesellschaften"3.

Diese Vorstellung schlug sich auch in Alice Schwarzers Reaktion auf die Petition nieder.4 Sie beschuldigte die UnterzeichnerInnen, dass „sie von ihren Schreibtischen (...) selten weg kommen und Berlin-Kreuzberg, Köln-Mülheim oder Anatolien vorwiegend vom Papier her kennen". Zudem zog sie meine und Yasemin Karasoglus „Authentizität" in Zweifel: „Beide haben interessanter Weise", schreibt Schwarzer, „binationale Eltern, sie einen türkischen Vater, er einen griechischen." Unser beider Herkunft ist eben deswegen „interessant", weil sie auf unseren Mangel an quasi-genetischer Verbindung zur „Community" hinweist.

Diese angebliche Verbindung wurde früher vor allem negativ gesehen. Menschen mit Migrationshintergrund mussten sich anhören, sie wären zu „emotional", um „objektiv" urteilen zu können über Migration und Integration. Dieses Vorurteil wird nun in dem Moment positiv gewendet, in dem Personen wie Necla Kelek konservative Auffassungen vertreten. So leugnet Kelek etwa schlichtweg die Existenz von Rassismus: „Es gibt keine Diskriminierung von Muslimen. Sie haben alle Möglichkeiten der freien Selbstentfaltung".5 Sie behauptet, dass mindestens die Hälfte der „hier lebenden Türken" einer archaischen Kollektivkultur verhaftet sei, deren Grundlage ein von ihr als homogen verstandener Islam bilde: „Der Islam hat es 1.400 Jahre lang versäumt, kritische Fragen zu stellen und sich von der Politik zu lösen".6 In ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 2005 betonte sie: „Es ist die deutsche Gesellschaft, die dem kleinen Mädchen aus Istanbul den Zweifel, das Vertrauen, den Mut und die Freiheit schenkte". Für die EinwandererInnen türkischer Herkunft gibt es nach Kelek nur einen Weg in die Moderne: die bedingungslose Eingliederung in eben diese „deutsche Gesellschaft".

Das Funktionieren der Medien

Die Argumente gegen solche Auffassungen von Islam und Integration sind oft genug wiederholt worden. Als die Petition damals erschien, waren die Reaktionen auf Seiten der konservativen Presse negativ bis diffamierend, im liberaleren Teil wenigstens kritisch. Nur in der tageszeitung wurden auch Artikel veröffentlicht, welche die Legitimation der Petition nicht in Frage stellten. Necla Kelek durfte in drei Zeitungen ihre Antwort im gleichen Wortlaut vorbringen, was es in der Geschichte der deutschen Presse vermutlich zuvor noch nicht gegeben hat. Die FAZ inszenierte eine regelrechte Kampagne; Jürgen Kaube bezeichnete die UnterzeichnerInnen sogar als „Zwangsheiratsschwindler". Binnen weniger Tagen hatte er die Werke von etwa 60 AutorInnen durchgearbeitet und war zu dem Ergebnis gekommen, wir hätten aufgrund unserer überwiegenden Provenienz als ErziehungswissenschaftlerInnen und der von uns erforschten Themen keinerlei Berechtigung, uns zu Fragen der „Innenwelt der türkischen Migration" zu äußern.7 Kurz darauf wurden wir unter anderem in der Frankfurter Rundschau als „so genannte Migrationsforscher" angesprochen. Niemand fragte nach Kaubes plötzlicher Kompetenz für das Thema.

Unsere Vorwürfe der unlauteren Verarbeitung von Befragungsmaterial bei Necla Kelek wurde in keinem Artikel im Anschluss an die Petition geprüft. Tatsächlich konnte von rationaler Diskussion keine Rede sein. Viele JournalistInnen hatten sich auf die Aussagen von Kelek und anderen berufen, und nun galt es, die Gewährsfrauen zu verteidigen. Yasemin Karasoglu und ich riefen per E-Mail die UnterzeichnerInnen dazu auf, sich an den Diskussionen zu beteiligen - zumal sie ja aufgrund der Petition bereits „im Gespräch" waren. Getan haben das Georg Auernheimer sowie Helma Lutz und Rudolf Leiprecht. Allerdings hatten sie beträchtliche Probleme, ihre Interventionen überhaupt zu veröffentlichen. Tatsächlich war insbesondere in den Printmedien niemand so recht an Äußerungen der UnterzeichnerInnen interessiert. Wie groß der Druck wurde, das zeigte sich etwa an der defensiven Antwort von Auernheimer, der sich in der Zeitschrift Das Argument selbstkritisch zur „Mystifikation von Wissenschaft" und dem „leicht arrogant erscheinenden Gestus" in der Petition äußerte; die „unnötig scharfe Polemik gegen Necla Kelek" erschien ihm nun problematisch - sie habe die „Intervention stark um ihre Wirkung gebracht, wie viele der Reaktionen in den Printmedien gezeigt haben".8

Hierin irrt sich Auernheimer. Gerade die etwas arrogante Überbetonung der Wissenschaftlichkeit und die personalisierte Zuspitzung waren die Gründe, warum diese Petition in den Medien „funktionierte". Das war mir aus meiner Erfahrung als Journalist bewusst gewesen, und ich hatte den Text aus taktischen Gründen so angelegt. Seit Jahrzehnten wird in Deutschland Diskursanalyse betrieben, so gut wie alle Mechanismen der Medienberichterstattung sind bekannt - so auch, dass abstrakte Themen mittels Personalisierung fühlbarer gemacht werden und dass jedes Thema zur Illustration die Befragung einer „ExpertIn" benötigt. Das mag man alles kritisieren und sich auf eine Metaposition zurückziehen, die auf das Ideal eines vernunftgesteuerten Gesprächs rekurriert. Diese Art Gespräch aber wird es unter den gegebenen Bedingungen nicht geben. Daher scheint es mir sinnvoller, sich aufgrund des eigenen Wissens über die Funktionsweise von Diskursen mit bewusst taktisch gezielten Interventionen an eben diesen Diskursen zu beteiligen, wo sich die Möglichkeit bietet.

Dies haben wir mit der Petition getan. In diesem Sinne war sie erfolgreich. Allerdings muss man auch einkalkulieren: Weder kann eine solche Intervention in allen Belangen so differenziert sein wie ein reflektierender, analytischer Text, noch lässt sich eine „Wirkung" völlig kontrollieren. Insofern kommt mir eine Bemerkungen von Maria do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan aus einer anderen Stellungnahme in Argument absurd vor: Es herrsche in der Petition ein „Tunnelblick" vor, „der die Kritik an bestimmter Populärliteratur auf das Populäre schlechthin verschiebt und als Gegenpart einen wissenschaftlichen Ansatz vorschlägt. Produktiver wäre es, im Kontext eines antiislamischen Rassismus, eines zunehmenden religiösen Fundamentalismus und der anhaltenden Gewalt gegen Frauen eine Perspektive einzunehmen, die Überschneidungen unterschiedlicher Machtachsen konzentriert".9 In den Medien hätte sich freilich kaum jemand für solche „Überschneidungen" interessiert. Zudem treffen die Argumente der Autorinnen nicht. Mir wird kaum jemand vorwerfen können, Probleme mit dem „Populären" an sich zu haben.10 Und auf der Wissenschaftskritik von Michel Foucault, die von den Autorinnen ins Feld geführt wird, basieren meine Arbeiten über Rassismus.11

Eine genauere Lektüre Foucaults zeigt auch, dass sich dessen Einwände nicht gegen die „Inhalte, Methoden oder Begriffe (...) als vielmehr gegen die zentralisierenden Machtwirkungen" von Institutionen und Diskursen der Wissenschaft richten.12 Daher befindet sich die Petition durchaus im Einklang mit Foucaults Vorstößen. Denn zum einen legte diese methodisch Wert auf die Einhaltung nachvollziehbarer Verfahren. Zum anderen wurde mit Necla Kelek eine Person angegriffen, die von Politik und Medien unisono als wissenschaftliche Expertin zum Thema „Importbräute", Zwangsheiraten und Islam angesehen wurde - und eben diese Autorität galt es anzugreifen.

Spezifisches und Unspezifisches

Ein Blick auf die Rezensionen zu Keleks nach der Petition erschienenem Buch „Die verlorenen Söhne" zeigt, dass plötzlich doch methodische Fragen gestellt wurden - wie etwa die, warum die Autorin Forschung zur Männlichkeit von Migranten türkischer Herkunft ausschließlich an Inhaftierten betreibt. Unterdessen weist sogar der „Nationale Integrationsplan" auf die „fehlende wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas" Zwangsverheiratung hin.13 Nichts geändert hat die Petition an der Prominenz Necla Keleks und des Themas Zwangsheirat - und es lässt sich durchaus mutmaßen, wessen Händen die „wissenschaftliche Aufarbeitung" vorwiegend anvertraut wird. Aber das wäre auch zuviel verlangt. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft wurde eine Debatte darüber geführt, dass zur WM die Zahl der eingeschleppten Zwangsprostituierten ansteigen werde - manche Schätzungen sprachen von 40.000 Frauen. Die Interessenorganisationen von Prostituierten weisen freilich darauf hin, dass Zwangsprostitution ein marginales Problem darstellt. Ein Jahr später dann erschienen winzige Meldungen, gemäß einer Untersuchung der International Organization of Migration (IOM) habe es exakt fünf bestätigte Fälle gegeben.14 Jeder Fall ist ein Fall zuviel, aber das Ausmaß der Diskussion ist ganz sicher nicht von der Proportion des Phänomens gesteuert. Aber das ist ja ein Ergebnis der Diskursanalyse: Dass jener Diskurs eben auch immer eine Wirklichkeit erzeugt.

Nun bleibt die Frage nach dem Umgang mit Sexismus bei Personen mit Migrationshintergrund virulent. Castro Varela und Dhawan haben mir vorgeworfen, ich wolle „das Schweigen über Geschlechtergewalt" fortsetzen, weil ich Zwangsheirat für ein durchaus schwerwiegendes, aber in seinem Ausmaß überschätztes Phänomen halte und zudem den Sexismus bei Migranten einordnen möchte in die gesamtgesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse zwischen Männern und Frauen in Deutschland.15 Sie bestehen darauf, dass die Probleme von Frauen nicht in den Kämpfen „der Migranten" verschwinden dürfen, und weisen auf „migrantische Aktivistinnen" hin, die schon vor Kelek „auf die spezifische Gewalt in migrantischen Familien" hingewiesen hätten16.

Eine entscheidende Frage ist, ob eine „spezifische Gewalt" existiert. Nun ist unklar, was die Autorinnen unter „migrantischer Familie" verstehen. Gewöhnlich geht es konkret um solche türkischer Herkunft bzw. „muslimische" Familien. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Statistiken, die zeigen, dass häusliche Gewalt unter den MigrantInnen türkischer Herkunft verbreiteter ist als im Durchschnitt der Gesellschaft. Das ist zweifellos besorgniserregend; allerdings hat dieser Unterschied vermutlich nichts mit Ethnizität oder Religion zu tun. Es ist bekannt, dass die Klassenzusammensetzung der DeutschtürkInnen alles andere als „durchschnittlich" ist: Der überwiegende Teil gehört zur so genannten Unterschicht. Würde dies einkalkuliert, würden einheimische Unterschichtsfamilien mit solchen türkischen Hintergrunds verglichen, dann würde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein ähnlicher Grad an häuslicher Gewalt zeigen. Das relativiert diese Gewalt nicht, zeigt sie aber als soziales Phänomen, das oft als kulturell oder religiös verursacht angesehen wird, sich aber keineswegs hinreichend mit „Kultur" oder „Religion" erklären lässt.

Nun gibt es sicher in Familien mit nichtdeutscher Herkunft oft konservative Vorstellungen von Geschlechterrollen, die zweifellos auch etwas zu tun haben mit überkommenen Selbstverständlichkeiten im Herkunftsland. Das aber betrifft definitiv nicht nur türkische EinwandererInnen, sondern auch etwa SpätaussiedlerInnen, die selten Teil der Debatten werden. Allerdings lassen sich solche Rollen nicht allein aus verbalen Aussagen ableiten - insbesondere bei Männern mit Migrationshintergrund klafft eine immense Lücke zwischen der Art, wie sie sich zu Geschlechterfragen äußern, und der tatsächlichen Lebensweise.17 Zudem gibt es eine neue Form marginalisierter Männlichkeit, die mit der Herkunft nichts zu tun hat. Tatsächlich zeigen alle Statistiken, dass Mädchen mit Migrationshintergrund wie einheimische Mädchen auch in Bildung und Ausbildung besser abschneiden als Jungen, was möglicherweise auch damit zu tun hat, dass sie in konservativen Elternhäusern strenger behütet werden.

Während sie ihre Hausaufgaben machen, dürfen Jungs draußen ohne wirkliche Beaufsichtigung irgendwo zwischen männlichen Durchsetzungsritualen, Polizeikontrollen und Kleinkriminalität ein „Straßenwissen" erwerben, das im Sinne einer Zukunft mit Arbeitsplatz geradezu verheerend ist. Diese Jungen wachsen mit dem Bild des Patriarchen auf, ohne auch nur die geringste Chance zu haben, selbst einer zu werden - und träumen deswegen oft davon, Dealer oder Zuhälter zu werden. Diese Jungen sehen gleichzeitig die Mädchen auf dem Bildungsweg an sich vorbeiziehen. In dieser Situation der Unsicherheit und zunehmenden Konkurrenz werden Sexismus und Homophobie zu willkommenen Mitteln, um sich zu behaupten, um sich in Abgrenzung von den „Schwanzlutschern" als Mann zu fühlen und Frauen auf „ihren Platz" zu verweisen. Der Rekurs auf „Tradition" mag in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, aber die „Tradition" oder „der Islam" sind für diese neue Art von Männlichkeitsartikulation nicht verantwortlich.

Fallstrick Kontext-Auflösung

All diese Zusammenhänge, auch die Frage der „spezifischen Gewalt", wären erst noch zu untersuchen. Wichtig scheint mir, dass die berechtige Kritik an Sexismus in Einwanderungsfamilien eingebettet bleibt in die Kritik am Sexismus in der deutschen Gesellschaft. Ein Blick zurück auf die bislang geführte Diskussion um Zwangsheirat zeigt: Diese Diskussion hat eher dazu gedient, eine Trennung zwischen „ihnen" und „uns" zu befestigen, als dass sie tatsächlich den betroffenen Frauen zugute gekommen wäre. Das berechtigte Anliegen der Aufklärung kann sehr schnell umschlagen in eine renovierte Version des Ressentiments gegen „die Muslime": Musste bei „denen" die arme verschleierte Frau nicht immer schon stumm einen Meter hinter ihrem Mann herlaufen? Daraus entwickeln sich für Frauen „Fatale Effekte" - so der Titel einer Untersuchung von Margaret Jäger über die „Kritik am Patriarchat im Einwanderungsdiskurs".18 Einerseits scheint es, als müsse man an den einheimischen Geschlechterverhältnissen überhaupt nicht mehr arbeiten: Mit Blick auf die zurückgebliebenen Anderen wirkt bei „uns" doch alles perfekt in Sachen Gleichberechtigung. Zum anderen wird die berechtigte Kritik am Sexismus in den Migrantencommunities plötzlich Teil der Ausgrenzung - es ist „eure" Kultur und Religion, die dafür verantwortlich ist.

Hier liegt auch der Grund, warum Mädchen türkischer Herkunft in einer Untersuchung von Berrin Özlem Otyakmaz sagen, dass sie nicht gern mit einheimischen Frauen über ihr durchaus konservatives Elternhaus sprächen: Die regten sich schnell auf, rieten zur Flucht und begriffen dabei nicht, dass die Mehrheitsgesellschaft die Mädchen unabhängig von ihrem Selbstständigkeitsgrad keineswegs mit offenen Armen empfängt. Ein solches Verhalten setzt die Mädchen unter weiteren Legitimationsdruck.19 Zudem verprellt es jene, die sich in der hiesigen Gesellschaft bereits einen Platz erkämpft haben - auch sie stehen unter Verdacht. Ferda Ataman, Referentin im Integrationsministerium, schrieb im Anschluss an die Petition an die tageszeitung: „Was ich - dank Kelek und Konsorten - kenne, ist, dass ich gefragt werde, ob meine Eltern damit einverstanden wären, wenn ich studiere, oder, wie jetzt, in einem deutschen Ministerium arbeite". Solche Phänomene sind bekannt, aber leider hat nur ein kleiner Teil feministischer Kreise in Deutschland die zu Beginn der neunziger Jahre geführte Diskussion zum Schwarzen Feminismus zur Kenntnis genommen: Ein Blick in den 1993 erschienenen Sammelband von Gloria Joseph hätte solche Fallstricke verdeutlichen können.20

Eines scheint jedenfalls klar: Wenn Konservative den Feminismus in Anschlag bringen, um Einwanderung zu verhindern und Rassismus zu verdecken, dann darf man im Umkehrschluss Sexismus bei MigrantInnen nicht verharmlosen oder gar leugnen. Gleichzeitig sollte aber auch klar sein: Wenn die Thematisierung von Sexismus die Trennung zwischen „uns" und „ihnen" verstärkt und gleichzeitig die deutsche Gesellschaft als Gleichstellungsparadies zeichnet, dann nutzt das der Emanzipation überhaupt nichts - weder jener der einheimischen noch jener der eingewanderten Frauen. Die Politik der Marginalisierten war noch nie eine einfache Sache.

Anmerkungen

1) Toprak, Ahmet (2005): Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer, Freiburg: 123

2) Wir haben wahrlich nichts zu feiern, Streitgespräch zwischen Necla Kelek und Lale Akgün, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518, 493420,00.html

3) Kämpferisch, mutig - und verhasst, Die Welt, 12.11.06

4) Ihrem Mut verdanken wir alles, FAZ, 11.02.06

5) Der Islam wird als Waffe eingesetzt, Süddeutsche Zeitung , 03.02.06

6) Vgl. Fußnote 1

7) Zwangsheiratsschwindler, FAZ, 09.02.2006

8) Einmischung ist besser als Schweigen, Das Argument, 266, 48 Jg., Heft 3/2006: 441-445

9) Das Dilemma der Gerechtigkeit, Das Argument, 266, 48 Jg., Heft 3/2006: 427-440; 439

10) Ich war Redakteur der Musikzeitschrift Spex.

11) Terkessidis, Mark (1998): Psychologie des Rassismus, Opladen/Wiesbaden; (2004) Die Banalität des Rassismus, Bielefeld

12) Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht, Berlin: 63

13) Der nationale Integrationsplan - Neue Wege, neue Chancen, hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Stand Juli 2007, S.91

14) WM 06: Kaum Zwangshuren, die tageszeitung, 09.05.2007

15) vgl Fußnote 9: 438

16) ebd.: 437

17) Westphal, Manuela (2000): Vaterschaft und Erziehung, in L. Herwartz-Emden (Hg.): Einwandererfamilien, Osnabrück: 203

18) Duisburg 1996

19) vgl. Auf allen Stühlen. Das Selbstverständnis junger türkischer Migrantinnen in Deutschland, Köln 1995

20) Gloria I. Joseph (Hg.): Schwarzer Feminismus, Berlin 1993.

 

Dr. Mark Terkessidis ist studierter Psychologe und arbeitet als freier Publizist. Er lebt in Köln und Berlin.