Initiative Alte Soziale Marktwirtschaft

Am 9. Juli erschien in der FAZ ein ganzseitiger Aufsatz von Oskar Lafontaine: ?Freiheit durch Sozialismus?.Viele werden sich die Augen gerieben haben: . . .

Am 9. Juli erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland“ ein ganzseitiger Aufsatz von Oskar Lafontaine: „Freiheit durch Sozialismus“.Viele werden sich die Augen gerieben haben: Dieser Autor mit diesem Thema in diesem Blatt? Wie kommt das?

Verschwörungstheoretiker könnten vermuten, die FAZ habe ein Interesse daran, „Die Linke“ aufzubauen, um die SPD zu schwächen.

Denkbar ist aber auch, dass die „Frankfurter Allgemeine“ gerade in ihrer Eigenschaft als repräsentative konservative Zeitung einer Berichtspflicht nachkommen wollte. Offenbar ist man dort der Ansicht, dass die neue Partei „Die Linke“ auf absehbare Zeit eine Tatsache ist, mit der zu rechnen und die deshalb in Augenschein zu nehmen ist. Dazu gehört auch, dass sie zu Wort kommt. Kommentieren kann man sie ja immer noch nach eigenem Gusto.

Hat Oskar Lafontaine in der FAZ sein Sozialistisches Manifest verkündet? Nein, oder, genauer: nicht nur dort. Er äußert sich in unterschiedlichen Medien und trägt das, was er für richtig hält, so vor, wie es seiner Meinung nach in der jeweiligen Umgebung verstanden werden soll – in der BILD-Zeitung (das ist allerdings ein paar Jahre her), in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland“ und in der „jungen Welt“.Zwar hängt er sein Mäntelchen nicht nach dem Wind, aber er (oder sein Ghostwriter) bedenkt die Aufnahmefähigkeit des Publikums, das von Organ zu Organ anders ist. Es kann reizvoll sein, den FAZ-Text mit einem anderen Dokument zu vergleichen: der Rede „Was ist die Linke? Grundlinien linker Politik“, die Lafontaine auf der XI. internationalen Rosa-LuxemburgKonferenz am 14. Januar 2006 in Berlin vorgetragen hat. Der Inhalt ist derselbe, die Verpackung anders. In der FAZ wendet sich Lafontaine an das Publikum einer Zeitung, die sich selbst als „liberal-konservativ“ versteht. „Liberal“ steht hier für „wirtschaftsliberal“. Wie kann er es anfangen, dass dort nicht gleich abgeschaltet wird?

Er beginnt mit einem Zitat des Papstes Johannes Paul II. über den Kapitalismus: „Die menschlichen Defizite dieses Wirtschaftssystems, das die Herrschaft der Dinge über die Menschen festigt, heißen Ausgrenzung, Ausbeutung und Entfremdung.“ Solche Sätze könnte man auch bei anderen Autoren finden, hätte sie aber gerade bei diesem Absender nicht unbedingt erwartet. Wir stoßen hier gleich am Anfang auf eine Besonderheit der Zitierweise Lafontaines: er ruft Zeugen auf, die in der Regel für andere Äußerungen bekannt sind, und transportiert über deren für die Linke eher untypischen, seinem Publikum aber geläufigen Namen seine eigene Botschaft.Marx und Keynes fehlen.

Zurück zu Wojtyla.Lafontaine ist Katholik. Die wirtschaftsund sozialpolitische Position von Johannes Paul II. ist niedergelegt in der Enzyklika „Centesimus annus“ von 1991, die ihrerseits in der Nachfolge von „Rerum Novarum“ (Leo XIII., 1891) und „Quadragesimo anno“ (Pius XI., 1931) steht. Sie alle gehen zurück auf Thomas von Aquin (1225-1274) und gehören zur Katholischen Soziallehre, die in der Bundesrepublik durchaus einflussreich gewesen ist, unter anderem durch Oswald von Nell-Breuning (1890-1991). Der rechte Gewerkschaftsführer Georg Leber bekannte sich zu ihr, und auf dieser Spur kam sie auch in die Programmatik des DGB – zumindest wurde dafür gesorgt, dass dort nichts stand, was damit unverträglich wäre.

Selbst der Begriff „demokratischer Sozialismus“, den Lafontaine verwendet, stammt in gewisser Weise aus den Fünfzigerjahren. Zwar hat ihn in der Weimarer Republik schon Karl Kautsky verwendet, aber die Karriere dieser Wörter-Kombination begann erst mit der Gründung der sozialdemokratischen Sozialistischen Internationale (1951), die sich damit von Kommunismus und Konservatismus abgrenzen wollte.Dies war auch die Zeit, als die „Freiheit“ gegen den Kollektivismus gesetzt wurde. Lafontaine stellt sie ebenfalls zentral, nun allerdings gegen den freiheitsberaubenden Marktradikalismus.

Das nächste Zitat ist Rousseau entnommen: „Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“ Derlei kann man auch woanders finden, Rousseau aber ist Bildungsgut. Zu Lafontaine passt er besonders wegen dessen häufig – auch in diesem Aufsatz – vorgetragenen Bekenntnisses zur plebiszitären Demokratie. Sehr überraschend ist aber der nächste Zeuge: Oswald Spengler (1880-1936) war einer der Vordenker der „Konservativen Revolution“, den die Nazis gern für sich reklamiert hätten, denen er sich aber verweigerte, sogar noch nach 1933. Dafür verehrte er umso mehr Mussolini. Er vertrat einen „Deutschen Sozialismus“: eine Kombination aus Elitenherrschaft und Gemeinwirtschaft. Lafontaine zitiert von ihm: „Die Kolonialund Überseepolitik wird zum Kampf um Absatzgebiete und Rohstoffquellen der Industrie, darunter in steigendem Maße um die Ölvorkommen.“ Das lesen wir auch bei dem britischen Linksliberalen John A. Hobson (1858-1940) und Lenin.

Ein weiterer Zeuge, Jean Jaurès, ist ein Märtyrer der sozialistischen Friedensbewegung.Am 31. Juli 1914 wurde er ermordet. In der II. Internationale gehörte er nicht zu den Marxisten, sondern setzte sich mit ihnen (unter anderem in einer berühmten Kontroverse mit Bebel) auseinander.Der entschiedene Nicht-Materialist bezog – anders als einige seiner Genossen vom marxistischen Flügel – sofort eindeutig Position für den verfolgten Juden Dreyfus. Im Kampf gegen die Kriegsgefahr plädierte er für den Generalstreik. Die fatalistische Auffassung, der Krieg sei unter kapitalistischen Verhältnissen unabwendbar und werde erst mit ihnen verschwinden, war ihm unerträglich. Gerade sein Idealismus machte ihn zum Aktivisten. Lafontaine entnimmt seinem Erbe ein Zitat, das charakteristisch ist für den sprachgewaltigen und im eher guten Sinn pathetischen Jaurès: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“

Dass anschließend Dwight D. Eisenhower als Zeuge gegen den Militärisch-Industriellen Komplex bemüht wird (und nicht etwa Baran/Sweezy), entspricht ebenfalls seiner bündnistaktischen Zitiertechnik. Anschließend weist er darauf hin, dass der Demokratische Präsidentschaftskandidat von 2004, John F. Kerry, zwar Ölkriege und Umweltzerstörung kritisiert, aber, anders als Eisenhower, den Zusammenhang mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung unterschlägt.

Indem Lafontaine dann seine wirtschaftspolitischen Vorschläge unterbreitet, macht er das, was er unter Sozialismus versteht, der Überprüfung zugänglich. Es handelt sich zunächst um die gesellschaftliche Kontrolle über Energiewirtschaft und den Militärisch-Industriellen Komplex. Vor allem die bislang „privatwirtschaftlich organisierte Waffenindustrie“ sei „einer demokratischen und gesellschaftlichen Kontrolle zu unterwerfen“. In welcher Eigentumsform dies geschehen soll, wird nicht gesagt. Präziser wird Lafontaine bei der Energiewirtschaft. Sie sei „zu rekommunalisieren“. Hier ist einiges zu fragen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, teilweise auch noch in den folgenden Jahrzehnten, gab es städtische Elektrizitätsund Gaswerke. Dort wurde Energie erzeugt, nicht nur verkauft. Heute sind die Stadtwerke lediglich noch für die Verteilung zuständig. Es ist schwer vorstellbar, wie die Funktionen der mächtigen überregionalen Versorger wieder auf die lokale Ebene zurückgebracht werden können. Lafontaine fordert genau dies: „Eine umweltfreundliche Nutzung der Energievorräte der Erde muß dezentral sein.“ Denkbar ist das zunächst wohl für die „alternative(n) Energien“, deren Ausbau er fordert. Er ist der „Auffassung, dass Wirtschaftsbereiche, die auf Netze angewiesen sind und die Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen, in gesellschaftlicher Verantwortung bleiben müssen. Das gilt beispielsweise für die Bahn, für die Strom-, Gasund Wasserversorgung und den Telekommunikationsbereich.“ Gemeint ist hier offenbar tatsächlich gesellschaftliches Eigentum, allerdings wohl nicht nur kommunales, sondern auch zentrales.

Indem er sich für eine Entmonopolisierung einsetzt, beruft sich Lafontaine auf Walter Eucken und Franz Böhm: das waren Vertreter der ordoliberalen Schule. Sie wandten sich gegen Planwirtschaft (die sie im Nationalsozialismus und im Realen Sozialismus gleichermaßen am Werk sahen) und forderten die Garantie des freien Wettbewerbs durch einen insofern starken Staat. Politischer Vormann dieser Richtung war – der ebenfalls von Lafontaine positiv genannte – Ludwig Erhard. Ein Freund der Gewerkschaften war er nicht gerade. Die Mitbestimmung lehnte er ab. Lafontaine fordert sie.

Wenn er Zitat-Gefangene macht, hantiert der Aufsatz „Freiheit durch Sozialismus“ manchmal riskant. Aus einer Rede des Perikles ist folgender Satz ausgewählt: „Der Name,mit dem wir unsere politische Ordnung bezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegenheiten nicht im Interesse weniger, sondern der Mehrheit gehandhabt werden.“ Oskar Lafontaine hat Perikles wahrscheinlich über den italienischen Altphilologen und Kommunisten Luciano Canfora rezipiert (zur neuesten Auflage von dessen Buch „Eine kurze Geschichte der Demokratie“ schrieb er ein Nachwort). Dies stellt Perikles aber auch als einen Manipulateur dar: seine Staatskunst habe darin bestanden, die Hegemonie der Oberschichten mit der formal gleichberechtigten Beteiligung der Massen zu verbinden.

„Die Linke fordert den Generalstreik“. Hier ist zu fragen: Wer fordert etwas von wem? Die Linke von den Lohnabhängigen? Ob sie dieses Mittel für geeignet halten, müssen sie selbst entscheiden. Der Satz macht aber Sinn,wenn er auf eine Revision einer seit über fünf Jahrzehnten herrschenden juristischen Lehre zielt: fast alle Arbeitsgerichte haben den Druckerstreik von 1952 gegen das Betriebsverfassungsgesetz für rechtswidrig erklärt, da er ein „politischer Streik“ gewesen sei. Seitdem gilt diese gewerkschaftliche Waffe, für deren Rechtmäßigkeit Wolfgang Abendroth in einem berühmten Gutachten eingetreten ist, als gesetzwidrig. Abendroth hat damals nachgewiesen, dass dieses Verbot einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, das Demokratieund Sozialstaatsgebot der Verfassung darstelle. Es ist verdienstvoll, wenn Lafontaine diese Debatte neu eröffnet.

„Beim heutigen Stand der Dinge ist eben doch der Sozialismus die einzige Lehre, die an den Grundlagen unserer falschen Gesellschaft und Lebensweise ernstlich Kritik übt.“ Mit diesem Satz Hermann Hesses wirbt Oskar Lafontaine für den Sozialismus. Dieser ist, nimmt man die Gesamtheit seiner Forderungen, ein Kapitalismus, in dem der Staat durch Beseitigung der Monopole den Wettbewerb garantiert, Energieversorgung und Kommunikation unter demokratische Kontrolle gestellt, der Militärisch-Industrielle Komplex in öffentliche Regie genommen wird und die Schwachen gegen die wirtschaftlich Starken geschützt bzw. befähigt werden, sich selbst zu schützen. Diesem Ideal kamen die Zustände zwischen 1945 und ca. 1973 näher als die heutigen. Insofern ist Lafontaines Zukunftsbild konservativ. Dies muss nicht schlecht sein. Vielleicht sind die „Goldenen Jahre“ des damaligen Kapitalismus seine besten – auch für die Menschen, die in ihm insässig waren – gewesen.Wer sie nicht selber erlebt hat, weiß nicht, wie schön Kapitalismus sein kann. Ist der damals erreichte Standard wieder herbeizuführen? Davon geht Oskar Lafontaine aus. Wer ihm antwortet, die Periode 1945-1973 sei eine Ausnahme gewesen, muss danach fragen,wie es dann heute weitergehen soll. Richtet sich diese Erkundigung an den Text „Freiheit statt Sozialismus“, haben wir eine Diskussion, die nicht rückwärtsgewandt ist.

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