Kollektivistische Abenteuer während der 1970er Jahre

Das Mexikanische Pentagon

in (27.11.2007)

Los Grupos

bekannt als "los grupos" (die Gruppen). Dazu gehörten Grupo Proceso Pentágono, Grupo Suma, Grupo Tetraedo und Taller de Arte e Ideología ("Workshop Kunst und Ideologie"), die Kollektivismus sowohl als Arbeitsmethode wie auch als einen politischen Wert verstanden. Obwohl ihre Dynamiken, Arbeitsmethoden und künstlerischen Produktionen beträchtlich variierten, teilten die meisten dieser Gruppen doch eine Reihe von Merkmalen: Ihre Mitglieder waren jung und interessierten sich leidenschaftlich für Politik (insbesondere für die zeitgenössischen Ereignisse, die Lateinamerika erschütterten, inklusive den von den USA unterstützen Putsch in Chile 1973), sie schufen Projekte, in der Regel auf der Straße, die die Grenzlinie zwischen Kunst und Aktivismus ausdehnten, und sie sahen - künstlerische wie anderweitige - kollektive Organisierung als wichtigen Schritt in Richtung des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft.

Felipe Ehrenberg, eines der Gründungsmitglieder von Proceso Pentágono, erklärte, dass die radikalste Errungenschaft der Gruppen die "Kollektivierung künstlerischer Praxis" war. [1] "Unsere Ergebnisse", schrieb er, "brachten Konzepte zum Einsturz, die uns von Kindheit an eingepaukt worden waren (eine stark individualistische Perspektive, einsiedlerische Arbeitsgewohnheiten, ein Kult der Entfremdung)." Als Gruppe wie auch als Individuen Arbeiten zu produzieren, war eine der "revolutionärsten Errungenschaften der Welt im Feld der visuellen Kunst", stellte Ehrenberg fest, und eine Praxis, die mit anderen utopischen Experimenten des Kollektivismus verbunden war, wie "dem ejido, dem Kibbuz, der Kolchose und den agrikulturellen Kooperativen." [2] Aus Ehrenbergs Sicht veranlasste die Teilnahme an einem Kollektiv die KünstlerInnen dazu, ihre Arbeitsgewohnheiten zu verändern und eine Flexibilität zu entwickeln, die er als Poetik der Zusammenarbeit rühmt. "Das kollektive Schaffen", schrieb er, "kann mit den von Jazz-Bands oder Afro-Karibischen MusikerInnen verwendeten Techniken verglichen werden, in denen die Strukturen der Sets den Rahmen für die Improvisation bieten." [3]
Die meisten Gruppen wurden in den 1970er Jahren gegründet und lösten sich in den 1980er Jahren auf. Den Gipfel ihres Ruhmes erlebten sie 1977, als vier Gruppen dazu eingeladen waren, Mexiko auf der 10. Paris Biennale zu vertreten. Diese Gruppen teilten das Anliegen, Strategien des Widerstands gegen die zunehmende Brutalität des mexikanischen Staates zu entwickeln. Es gab zwei wichtige historische Ereignisse, die die politische Atmosphäre im Mexiko der 1970er Jahre prägten, in der diese KünstlerInnen tätig waren. Das erste dieser Ereignisse war das Tlatelolco-Massaker an Studierenden am 2. Oktober 1968 und das zweite war eine blutige Konfrontation zwischen Studierenden und dem Militär, die am 10. Juni 1971 stattfand. Es war dieser Hintergrund von Repression und Gewalt, vor dem die Gruppen in den 1970er Jahren auftauchten. Sie hatten ein Interesse daran, mit den Leuten auf der Straße zu kommunizieren und die kriminellen Aktionen des mexikanischen Regimes herauszustellen. Von all den Gruppen war Proceso Pentágono die langlebigste und diejenige, die das kohärenteste künstlerische und politische Programm hervorgebracht hatte.

Proceso Pentágono

Proceso Pentágono wurde 1973, dem Jahr der von den USA unterstützen Militärputsch in Chile, von Felipe Ehrenberg, Carlos Finck, José Antonio Hernández und Víctor Muñoz gegründet. Anfänglich war die Gruppe formiert worden, um Alternativen zu den von der Regierung geführten Museen und Galerien in Mexiko-Stadt zu suchen - Einrichtungen, die Proceso Pentágono der, wenn auch indirekten, Beteiligung an der Regierungspolitik der gewalttätigen Repression beschuldigten. In einer ihrer Schriften erklärte die Gruppe, "in einer Gruppe zu arbeiten, das heißt als Kollektiv, war ein notwendiger Schritt, um sowohl dem bürokratischen Apparat des Staates entgegenzutreten, der das kulturelle Leben verwaltet, als auch den elitistischen Mafias, die - bewusst oder unbewusst - die dominante Ideologie reproduzieren." [4]
Diese Ablehnung, sich an Regierungsinstitutionen zu beteiligen, führte die Gruppe weg vom Museum - eine Entscheidung, die, wie Gregory Sholette gezeigt hat, von den meisten aktivistischen KünstlerInnen der Welt getroffen wurde - und raus auf die Straße. [5] Um dieses Anliegen zu bekräftigen, inszenierten Proceso Pentágono eines ihrer ersten Projekte, A nivel informativo (Auf informationeller Ebene, 1973) auf einer Straße vor Mexikos förmlichsten Museum: Dem Palast der Schönen Künste, einem kitschigen, prätentiösen, kuchenähnlichen Marmorgiganten, der das letzte vom Diktator Porfirio Díaz in Auftrag gegebene öffentliche Projekt war, bevor jener von der Revolution 1910 vertrieben worden war.

A nivel informativo (1973): Die Kunst raus auf die Straße bringen

Der Schauplatz von A nivel informativo war politisch belastet. Bellas Artes, wie der Palast der Schönen Künste von den BewohnerInnen der Stadt genannt wird, verdeutlichte mehr als jeder andere Raum der Regierung die enorme Trennung zwischen den kulturellen Institutionen und dem alltäglichen Leben in der Stadt. Bellas Artes steht in einem der belebtesten und pulsierendsten Arbeiterviertel der Stadt, dem Zentrum, aber sein Inneres ist eine kalte, grabähnliche Marmorgalerie. Draußen gibt es eine Menge von StraßenverkäuferInnen, BuchverkäuferInnen bieten vorsichtig auf weiße Blätter auf den Bürgersteig gelegte marxistische Abhandlungen feil, indigene Frauen mit ihren Babys im Schlepptau betteln um Geld, junge Pärchen knutschen herum, Kinder schreien und alle möglichen Leute machen irgendwelchen Radau - junge und alte, reiche und arme, angestellte und arbeitslose. Drinnen gibt es leere Galerien und eine tödliche Ruhe.
Theodor W. Adorno hob einst hervor, dass die Wörter "Museum und Mausoleum (Â…) nicht nur die phonetische Assoziation (verbindet). (Â…) Museen sind wie Erbbegräbnisse von Kunstwerken. Sie bezeugen die Neutralisierung der Kultur", und nirgendwo wird dass deutlicher als in der Umgebung von Bellas Artes: die Straßen strotzen vor Leben, das Museum ist ein Mausoleum, ein Grab, ein toter Ort. [6] Als Proceso Pentágono dazu eingeladen wurde, 1973 ein Projekt in Bellas Artes zu präsentieren, nahm die Gruppe trotz ihrer Gegnerschaft zu von der Regierung geführten Räumen die Einladung an. Die Mitglieder der Gruppe entschieden sich dazu, die Einladung als Gelegenheit zu nutzen, Bellas Artes als institutionellen Raum herauszustellen, der vollkommen ohne Kontakt zu seiner Umgebung existierte. [7] Ihr Projekt A nivel informativo öffnete tatsächlich den Palast der Schönen Künste in Richtung Straße: Während sie einige der Galerien des Museums benutzten (sie füllten sie mit Installationen, die die BetrachterInnen dazu drängten, aktive Teilnehmende sowohl an der Kunst als auch am Leben zu werden, inklusive einer Installation über passive BetrachterInnen, die ein Raum mit gefesselten und geknebelten Mannequins war, die Fernsehen guckten), bestand der Hauptteil der "Ausstellung" aus einer Straßenaktion, die konzipiert war, um mit den PassantInnen zu interagieren.
Zwei der auf der Straße inszenierten Aktionen zielten darauf ab, die PassantInnen mit der Gewalt des städtischen Lebens zu konfrontieren. Die erste, El hombre atropellado (Der überfahrene Mann) betitelte Aktion, verwies auf eines der gravierendsten Probleme, denen Mexiko-Stadt in den 1960er und 1970er Jahren gegenüberstand - den Modernisierungsboom, der, verbunden mit einer beispiellosen Bevölkerungsexplosion, eine Stadt der Flaneure in eine Megalopolis mit Autobahnen und Straßenüberführungen verwandelt hatte. Für diese Aktion gingen die Mitglieder der Gruppe raus auf eine Straße in der Nähe von Bellas Artes, legten Plastikplanen auf den Bürgersteig, zogen die Konturen menschlicher Figuren mit roter Farbe darum und ließen sie in der Mitte der Straße liegen, so dass vorbeikommende Autos sie überfuhren, die dann hellrote Reifenspuren auf dem Straßenpflaster hinterließen - eine unorthodoxe Form des "action paintings", das wie die blutige Nachwirkung eines schrecklichen Verkehrsunfalls wirkte. Als PassantInnen sich versammelten, um sich das simulierte Blutbad anzusehen, fragten die Mitglieder der Gruppe jede/n ZuschauerIn danach, seine oder ihre Reaktion in einem Wort zu beschreiben, schrieben die Antworten dann auf Pappstücke, die sie anschließend auf dem Bürgersteig arrangierten. Das Ergebnis war ein cadavre exquis, das sich als Ode an die tatsächlichen Kadaver verstand, die die Verkehrsunfälle zurückließen.
Für eine zweite Straßenaktion, El secuestro (Die Entführung) betitelt, inszenierten Proceso Pentágono eine Entführung auf einer an Bellas Arte angrenzenden Straße. Eines der Gruppenmitglieder täuschte vor, ein sich mit der Menge vermischender Passant zu sein. Plötzlich rannten drei Männer - die anderen Mitglieder von Proceso Pentágono -auf ihn zu, warfen einen Sack über seinen Kopf, fesselten ihn und schleppten ihn vor den Augen der erstaunten Menge fort. Diese Aktionen verlegten den Kern der Ausstellung vom Museum auf die Straße.

Feier der Straße, Information, Trojanisches Pferd

Alle Arbeiten von Proceso Pentágono sind durch eine Faszination am Kollektivismus charakterisiert - als organisatorisches Prinzip, politische Waffe und utopischer Wert. Und der Kollektivismus ist eng verbunden mit den drei Themen, die ich anhand der von der Gruppe hervorgebrachten Produktion herausstreichen möchte: die Feier der Straße, der Fokus auf Information und die Trojanisches-Pferd-Strategie der institutionellen Kritik.
Indem sie viele ihrer Aktionen auf der Straße inszenierten (so wie El hombre atropellado und El secuestro) schlugen die Mitglieder von Proceso Pentágono ein Gegenmittel gegen die Entfremdung vor, die von der Vielzahl der Modernisierungsprojekte in den 1950er und 1960er Jahren verursacht worden war. Zu der Zeit, als Autobahnen und andere Projekte die Hauptstadt in eine Stadt von Individuen verwandelten, die voneinander abgeschnitten waren, ermutigten die Projekte der Gruppen irgendwelche Leute, auf die Straße zu gehen, kritisch zu denken und miteinander zu interagieren. Diese Aktionen strebten an, ZuschauerInnen in ein Kollektiv engagierter BürgerInnen zu verwandeln.
Indem sie den Fokus von "Kunst" auf "Information" verschoben (wie es die Gruppe in A nivel informativo tat), distanzierten die Mitglieder der Gruppe sich selbst vom romantischen Ideal des Künstlers/der Künstlerin als Individuum. Sie bewegten sich weg vom romantischen 19. Jahrhundert-Konzept des "Künstlers" und nahmen das 20. Jahrhundert-Ideal der/des "cultural worker" an, wie die Gruppenmitglieder sich selbst am liebsten nannten. Durch ihre Verschiebung der Terminologie behaupteten die Künstler von Proceso Pentágono nicht nur eine provokative Opposition - Kunst wird von Individuen gemacht, Information wird von cultural workers bearbeitet -, sondern sie weiteten auch den sozialen Kontext ihrer Aktivitäten außerordentlich aus: Sie bezogen ihre Projekte auf andere Formen kollektiver Organisierung, Gewerkschaften und politische Parteien mit einschließend. Beispielsweise waren Mitglieder von Proceso Pentágono an der Gründung der Mexikanischen Front von Gruppen der KulturarbeiterInnen beteiligt: eine hybride Organisation, die zum Teil Gewerkschaft und zum Teil KünstlerInnenkollektiv war.
Und schließlich betrieb die von Proceso Pentágono in Projekten wie A nivel informativo und Expediente Bienal X entwickelte Strategie des Trojanischen Pferdes den Kollektivismus auf höchst unorthodoxe Weise. Die Gruppe hätte es ablehnen können, in Bellas Artes auszustellen und sie hätte sich von der Biennale zurückziehen können, aber sie entschied sich zu bleiben, um diese Institutionen von Innen zu attackieren. Hätte sich die Gruppe enthalten, sie hätte sich selbst von den Institutionen isoliert; ihre Entscheidung, teilzunehmen und die Institution dabei zu kritisieren, brachte hingegen Diskussionen, Debatten und sogar eine direkte Konfrontation zwischen Gruppenmitgliedern und Biennale-Offiziellen hervor. Wie Ehrenberg sagte, sollten KünstlerInnen weder "passive PartizipientInnen" innerhalb der Institution sein, noch sollten sie alle Verbindungen zu ihr abbrechen; sie sollten ihre Partizipation an diesen Ereignissen für politische Ziele "benutzen" - in diesem Fall für das Ziel, ein Kollektiv zu bilden. Durch die hitzigen Argumente, die von Proceso Pentágonos Kritik an der Involviertheit des aus Uruguay stammenden Biennale-Kurators Ángel Kalenberg in die dortige Militärdiktatur aufgebracht worden waren, wurden Kalenberg und Biennale-Direktor Georges Boudaille in die Dynamik des Kollektivs gezogen - sie wurden dazu gezwungen, zu tun, was die Mitglieder von Proceso Pentágono bei jedem Treffen taten: argumentieren und kämpfen (niemand hat je behauptet, kollektiv zu arbeiten sei ein Zuckerschlecken!).
In ihrem utopischen Glauben an die Macht des Kollektivismus teilten die Mitglieder den Geist der Revolutionäre, die die mexikanische Verfassung von 1917 geschrieben hatten. Das meint es, wenn Ehrenberg sagt, die Gruppen hätten viel gemeinsam mit "dem ejido, dem Kibbuz und der Kolchose."

Aus dem Englischen übersetzt von Jens Kastner.

[1] Felipe Ehrenberg, En busca de un modelo para la vida, in: De los grupos, lo individuos. Ausstellungskatalog (Mexico City: Instituto Nacional de Bellas Artes, 1985), o. S..
[2] Ebd.. Die mexikanische Verfassung von 1917 verankerte in Artikel 27 die Landreform, eine der großen Errungenschaften der Revolution, in der dem ejido eine besondere Bedeutung zukam: Auf der Grundlage dieses Artikels kam es v. a. in den 1930er Jahren zu Umverteilungen, bei denen kollektiver Grundbesitz, ejidos, an Gemeinden übergeben wurde. Im Rahmen der Verhandlungen zum Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) wurde der Art. 27 de facto abgeschafft. [Anm. J. K.]
[3] Ebd.
[4] "Grupo Proceso Pentágono," in: Presencia de México en la X Bienal de París, 1977 (Mexico City: Instituto Nacional de Bellas Artes, 1977), o. S.
[5] "Der einzige Weg, der von denen als offen wahrgenommen wurde, die mit politisch engagierter Kunst weitermachen wollten, war derjenige, der direkt aus dem Museum hinausführte.", Gregory Sholette: News from Nowhere: Activist Art and After, A Report from New York City, in: Third Text, London, Heft 45, 1998-99, S. 45-62.
[6] Theodor W. Adorno, Valéry Proust Museum, in: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I, Prismen, Gesammelte Schriften 10.1, Frankfurt a. M. 1986, S. 181-194, hier S. 181.
[7] Theodor W. Adorno, Valéry Proust Museum, in: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I, Prismen, Gesammelte Schriften 10.1, Frankfurt a. M. 1986, S. 181-194, hier S. 181.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Kollektivkräfte", Wien, Winter 2007/2008.