Strategische Erinnerungen als "Kampf um die Lebenden"

Das Gedenken an das Massaker von Srebrenica bei in Berlin lebenden Bosniern

Dieser Artikel1 beschreibt einen wichtigen, in der Politik der Erinnerung enthaltenen Widerspruch: die Spannung zwischen tatsächlichen Erinnerungen vergangener traumatischer Erfahrungen und den politischen Zwängen, die solche Erinnerungen in aktuellen Kontexten beeinflussen. Gegenwärtige Komplikationen mit dem rechtlichen Status der Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina in Berlin haben einen Diskurs angeregt, den ich als „strategische Erinnerung“ bezeichne und der von vergangenen Ereignissen in einer sehr selektiven, planvollen und kalkulierten Art Gebrauch macht. Diese strategische Erinnerung unterscheidet sich sowohl von der Authentizität als auch von der Nicht-Authentizität dessen, „was wirklich passierte“. Statt dessen geht es um den rechtlichen und politischen Kontext, der die Ökonomie des Gedächtnisses selbst formt: seinen Inhalt, seinen performativen Aspekt und die Erzählungen, die den „realen Schmerz und das Leiden“ umfassen. Anstatt die Genauigkeit dessen zu evaluieren, was die Menschen erinnern, wird hier die gebrochene und nichtlineare, auf verdichteten Raum-Zeit-Achsen ruhende Verlaufsrichtung des Gedächtnisses analysiert: Es stützt sich auf die Vergangenheit, wirkt auf die Gegenwart und zielt darauf ab, Spannungen des rechtlichen Status für die Zukunft zu lösen.
Die zugrunde liegende Forschung wurde in Berlin zwischen Februar und September 2005 durchgeführt und umfaßt Interviews mit 30 Flüchtlingen aus Bosnien und Herzegowina, die während des Krieges in ihrem Heimatland zwischen 1992 und 1995 nach Deutschland kamen. Viele Interviewte waren Flüchtlinge aus Srebrenica, wohin sie zum Teil bereits aus anderen Landesteilen geflohen waren, als die serbische Armee und Paramilitärs im Juli 1995 die Stadt überrannten und dort bzw. in der Umgebung 8.000 bosnische muslimische Männer und Jungen exekutierten. Dieses Ereignis gilt als der schlimmste Fall ethnischer Säuberung in der europäischen Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg und wurde zu einem Symbol für alle Schreckenstaten während des Krieges. Das eigentliche Massaker fand am 11. und 12. Juli 1995 statt. Im Frühsommer 2005 wurden weltweit Vorbereitungen für den zehnten Jahrestag des Ereignisses getroffen, und die Aufmerksamkeit der Welt war auf Srebrenica gerichtet. Die Hauptzeremonie sollte am 11. und 12. Juli 2005 ausgerichtet werden, weshalb viele Menschen nach Bosnien reisten, um das Massenbegräbnis der ausgegrabenen Leichen vorzubereiten.
Durch den Konflikt in Bosnien wurden mehr als 1,2 Millionen Menschen vertrieben, von denen 700.000 seither in vielen westlichen Ländern leben. Daher wurden neben dem zentralen Ereignis in Srebrenica auch Gedenkfeiern an vielen Orten weltweit, wo Flüchtlinge aus Bosnien lebten, organisiert. Da Berlin eine große Zahl von Menschen aus Srebrenica aufgenommen hat, waren u.a. die Bosnische Moschee in Kreuzberg, die Gesellschaft der Frauen aus Srebrenica und das SüdOst-Europa-Zentrum an den Vorbereitungen beteiligt.2 Im Rahmen des letzteren war ich selbst mit der Hilfe für Flüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien befaßt, so daß dort auch meine Studie stattfinden konnte. Das Institut ist eine non profit-Organisation, die 1991, zu Beginn des Jugoslawien-Krieges, als sich ein breiter Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland abzeichnete, mit Mitteln des Berliner Senats gegründet wurde. Die Gedenkfeier im Zentrum wurde einige Tage vor der offiziellen Feier angesetzt und sollte Erinnerungen gewidmet sein, die von in Berlin lebenden Überlebenden vorgelesen oder erzählt würden.

Erinnerungsarbeit in Berlin

Im Mai und Juni 2005 trafen sich Überlebende von Srebrenica jeden Freitag im SüdOst-Europa-Zentrum, um Berichte über das Massaker zusammenzutragen. Die Gruppe war für all diejenigen offen, die in Srebrenica oder Umgebung gewesen waren und die Belagerung und den Fall der Stadt überlebt hatten. Unter den vielen Menschen, die die Gruppe im Lauf der zwei Monate besuchten, waren sieben Frauen die regelmäßigsten Teilnehmerinnen sowie ein, zwei Mitarbeiter des SüdOst-Europa-Zentrums und ich. Wir kamen überein, daß die beste Weise, die Erzählungen zu sammeln, das zwanglose Erinnern sei: Die Überlebenden sollten ihre Geschichten nicht aufschreiben, sondern bei den Zusammenkünften darüber und miteinander sprechen. Die meisten Teilnehmer kannten sich seit langer Zeit als Nachbarn, aus Srebrenica und anderen bosnischen Städten. Meine Aufgabe war es, die Erzählungen aufzuzeichnen und in geeigneter Form zu transkribieren, damit sie während der Gedenkfeierlichkeiten vorgelesen werden konnten.
Man konnte beobachten, wie groß die politische und symbolische Bedeutung der Gedenkfeier war. Die Gruppenmitglieder waren sehr bemüht, die Ereignisse von Srebrenica für die Zuhörerschaft zu rekonstruieren, die hauptsächlich aus Deutschen bestehen würden, von hochrangigen Beamten bis zu Ärzten und Juristen. Bald nach den ersten Zusammenkünften im April 2005 wurde die Gruppe zu einem informellen Forum von mehreren Frauen, die ihre Erfahrungen während des Krieges bereits ausgetauscht hatten und ihre Berichte mit einem klaren Zweck inszenierten. Sie wollten eine Mission erfüllen und konzentrierten sich damit auf die „Zielgruppe“ der deutschen Zuhörer, auf die ständig anwesende Ethnologin und das laufende Tonbandgerät. Wenn dieses allerdings abgeschaltet war, am Ende der Sitzung, änderte sich die Stimmung drastisch. Da sich die Frauen bereits in Srebrenica gut gekannt hatten, kamen nun die verschiedenen Dimensionen der Treffen zutage: neben dem offiziellen Gedenken an die Ereignisse das inoffizielle Beisammensein der Frauen, das sich um Probleme ihres Alltagslebens drehte.

Strategisches Erinnern im Gegensatz zu tief empfundenem Erdulden

Alle Gruppenteilnehmer waren stolz, wenn Srebrenica und seine große Vergangenheit zur Sprache kamen. Mit seinen reichen Rohstoffvorkommen hatte es lange Zeit beneidenswertes Prestige und große Macht genossen; die Silberminen gaben der Stadt ihren alten und gegenwärtigen Namen: zunächst Argentia, dann Srebrenica (srebro bedeutet auf Serbokroatisch und Bosnisch „Silber“). Während des Sozialismus war die Industrie gut entwickelt, es gab viele junge Leute und kaum Arbeitslosigkeit bei relativ hohen Verdienstmöglichkeiten. Breite Straßen verbanden die ebenfalls an das Elektrizitätsnetz angeschlossenen Dörfer der Umgebung mit Srebrenica. Heute ist dies alles zerstört. Eine der Frauen beschrieb den nur wenige Kilometer breiten Streifen zwischen zwei Orten, wo 62.000 Menschen flohen und verzweifelt um ihr Leben kämpften.
Die Augen leuchteten, wenn es um die großartige Vergangenheit Srebrenicas ging, die Stimmen waren unsicher und zittrig, wenn die Frauen von der serbischen Besetzung erzählten, zum Beispiel über die gewaltsame Trennung von Müttern und Kindern. Eine der Frauen, Remzada, berichtete von einer jungen Mutter mit ihrem Baby, die bei der Flucht aus Srebrenica im selben LKW wie sie selbst mitfuhr. Der LKW war schon viele Male angehalten worden, und jedesmal suchten die serbischen Soldaten nach Geld (nur D-Mark) und Gold. Nach sieben oder acht Stopps gab es nichts mehr bei den Frauen zu holen, sie hatten alles weggegeben, was sie hatten. Beim nächsten Stopp bestand ein serbischer Soldat auf Geld, weshalb ihm eine Frau jugoslawische Dinar gab. Der Soldat wurde wütend: Dieses Geld sei wertlos, das könne man Alija (A. Izetbegovic, dem damaligen Präsidenten Bosniens) geben. Alle waren still, während der Soldat wütete, weil er leer ausging; nur das Baby schrie laut. Der Soldat verwarnte die Mutter, sie sollte das Baby zum Schweigen bringen. Sie legte ihre Hand auf den Mund des Babys, das bald blau anlief, weil es keine Luft bekam, so daß die Mutter ihre Hand wegnehmen mußte. Das darauf einsetzende laute Schreien des Babys schien den Soldaten in ein Tier zu verwandeln: Er hob das Baby mit einer Hand hoch und durchschnitt seine Kehle, dann ging er. Das Schreien der Mutter und der anderen Frauen wurde schnell von Stille abgelöst, die stundenlang währte; niemand konnte ein Wort sagen. Die Stille war so dicht und überwältigend, daß Remzada glaubte, niemand in dem LKW würde jemals wieder in der Lage sein zu sprechen. Remzada gelang es, nach Tuzla und danach nach Deutschland zu entkommen. 1995 kam sie nach Berlin und lebt seitdem bei ihrem Sohn, der bereits 1992 aus Bosnien geflohen war.
Nach der offiziellen Geschichte, die für die Gedenkfeier aufgenommen wurde, sprach Remzada über einen anderen Aspekt ihres Lebens in Berlin, ihren jetzigen Status und ihren Sohn betreffend. Bei diesem hatte sie nur ein Jahr gelebt, denn Mitte 1996, bald nach dem Ende des Krieges und dem Dayton-Abkommen, unternahm die deutsche Regierung intensive Anstrengungen, all diejenigen nach Bosnien zurückzuschicken, die keine schwere Traumatisierung erlitten hatten. Unter diese Personengruppe fiel auch Remzadas Sohn. Remzada fand kaum Worte zur Beschreibung des Schocks, den sie empfunden hatte, als zwei uniformierte Polizeibeamte an ihre Tür klopften, um ihren Sohn festzunehmen und zu deportieren. An dieser Stelle des Berichts begannen ihre Hände zu zittern, ihre Stimme veränderte sich und sie brach in Tränen aus; sie mußte ein Beruhigungsmittel nehmen. Nachdem ihr Sohn nach Bosnien zurückgeschickt worden war, konnte sie ihr Leben nur noch als „einfaches Überleben“ bezeichnen. Ihre Enkelkinder waren der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen; nun fühlte sie sich, als sei ihr Boden unter den Füßen weggezogen worden.
Sie erzählte, daß sie nicht nach Bosnien zurückkehren könne: Ihr Haus war abgebrannt, die Nachbarn entweder verstorben oder in eine andere Stadt gezogen, in andere Landesteile oder ins Ausland gegangen; selbst ihre Schwiegertochter habe deutlich gemacht, daß sie keine Unterstützung erwarten könnte, da sie in Sarajevo auch nur gerade so überlebten. Daher ist Remzadas Leben in Berlin heute auf einige Freunde sowie Aktivitäten im Zentrum konzentriert. In das Zentrum geht sie regelmäßig, zur psychologischen Beratung oder als Aushilfe bei Buch-, Foto- oder Kunstausstellungen. Seit ihr Sohn im Jahr 2000 abreisen mußte, hat sie auch für eine deutsche Familie gekocht und geputzt; andere soziale Aktivitäten kennt sie kaum.
Adela, die ebenfalls regelmäßig an den Gruppentreffen teilnahm, hatte in Srebrenica zwei Söhne und ihren Mann verloren. Wegen ihres schweren Traumas hatte sie eine Bleibeberechtigung für Deutschland. In einem Tagebuch sind die Ereignisse und Gefühle seit ihrer Flucht aus Srebrenica festgehalten, doch mußte sie es nur selten zu Rate ziehen, um sich zu erinnern. Ihre Berichte waren kohärent und lebendig, so, als würde sie aus ihrem Tagebuch vorlesen, aus dem für die Gedenkfeier einige Episoden ausgesucht wurden. Eine handelte von einem Jungen, der Adela, ihren Ehemann und die Verwandten begleitete, um in Gärten und verlassenen Grundstücken in der Umgebung Getreide und Früchte zu sammeln. Srebrenica wurde schon seit Monaten belagert, und die Menschen hungerten. Gelegentlich ging eine Gruppe nachts auf Nahrungssuche, was immer mehrere Kilometer Fußmarsch erforderte. Adela, ihr Mann und ihre Verwandten machten das regelmäßig, trotz des hohen Risikos, denn das ganze Gebiet wurde ständig von Heckenschützen ins Visier genommen. Eines Abends, als ihre sechs- oder siebenköpfige Gruppe ein Haus am Ende eines Dorfes nahe Srebrenica passierte, wurden sie von einer Frau mittleren Alters gefragt, ob ihr ältester Sohn mitkommen könnte; ihre Familie mit zwei kleinen Kindern hatte seit Tagen nichts gegessen. So nahm Adelas Gruppe den Jungen mit, der mit seinen zehn Jahren der jüngste in der Gruppe war. Adela paßte auf ihn auf und war beeindruckt, wie motiviert er war, seiner Mutter und den Geschwistern etwas zu essen zu bringen, und wie furchtlos er die über ihren Köpfen hinwegfliegenden Geschosse ignorierte.
In derselben Nacht fiel Adela in einen zugedeckten Brunnen, der mindestes fünf bis sechs Meter tief war, doch mit außergewöhnlicher Anstrengung und mit Hilfe ihres Mannes und der anderen Begleiter gelang es ihr, sich an einem Seil aus dem Brunnen zu ziehen. Die Gefahr für die Gruppe war groß während der Rettungsaktion; das Feuer der Heckenschützen wurde intensiver, die Serben hatten die Aufregung bemerkt. Während sie aus dem Brunnen herauszukommen versuchte, drehten sich ihre Gedanken um den Jungen, der sich zu der Gruppe gesellt hatte, und sie fürchtete, er könnte gerade jetzt getötet werden. Doch trotz des Vorfalls am Brunnen gelang es ihnen, eine Menge Eßbares zu finden und den Jungen sicher nach Hause zurückzubringen.
Nach dem offiziellen Treffen erklärte mir Adela, sie würde bei ihrem nächsten Besuch in Bosnien sehr gerne diese Familie besuchen und sehen, was aus dem Jungen geworden ist. Während ihres letzten Besuches vor ein paar Jahren bat sie ihre Tochter und ihren Schwiegersohn, sie zu dem verlassenen Brunnen zu bringen, in den sie damals gefallen war; für einen Besuch bei dem Jungen reichte jedoch die Zeit nicht. Weiter erzählte sie von ihrem Haus, das während des Krieges zerstört worden war und das sie während ihres ersten Besuchs in Srebrenica im Jahr 2000 aufsuchte. Mit einer Schaufel beseitigte sie den Dreck im Hof und fand den Lieblingspullover ihres ältesten Sohnes. Sie zeigte mir Fotos ihres Sohnes, auf denen er, noch vor dem Krieg, den Pullover trug; damals war er an der Fakultät für Elektrotechnik in Sarajevo eingeschrieben. Nur ihrem Schreiben und den regelmäßigen Gebeten zu Allah sei es zu verdanken, meinte sie, daß sie nicht verrückt geworden sei und noch lebe.
Erst nach dem offiziellen Teil der Vorbereitungen erzählte mir Adela also, wie sie mit dem Verlust ihrer Söhne und ihres Mannes fertig zu werden versuchte; von ihrer einzigen überlebenden Tochter und ihren zwei Enkelkindern getrennt zu werden und sie zu verlieren, würde ihr Ende bedeuten. Wie Remzada brach sie in Tränen aus, denn ihre Tochter hatte keine Bleibeberechtigung und deshalb Berufung eingelegt. Für Adela war der unsichere Status ihrer Tochter unerträglich und Hauptursache ihrer Alpträume.

Implikationen der deutschen Flüchtlingspolitik

Indira, eine weitere regelmäßige Gruppenteilnehmerin, konnte das Trauma, das durch den Duldungsstatus ausgelöst wurde, nur im Kontext dieser Zusammenkünfte ausdrücken. Sie nahm an fast jedem Treffen teil, auch wenn sie kaum jemals ein Wort sprach. Sie war ungefähr Ende 50, Anfang 60, und ihr Gesicht war mir schon bekannt, weil sie auch Mitglied einer Therapiegruppe war, die ich einige Male besuchen durfte. Indiras freundliches Gesicht zog mich an: rote Wangen, rundes Kinn und traurige, abwesende Augen. Ihr schlanker Körper stand in scharfem Kontrast zu ihren geschwollenen Füßen; wegen ihres Bluthochdrucks mußte sie seit Jahren Medikamente nehmen.
Während die anderen Frauen sich an Srebrenica in der Zeit zwischen 1992 und 1995 erinnerten, hörte Indira mit abwesendem Ausdruck zu. Manchmal wiederholte sie etwas, was andere gesagt hatten; dabei bewegte sich ihr Körper ruckartig nach links und rechts, ihr Kopf schwang hin und her, ihre Augen waren auf einen imaginären Punkt gerichtet. Es hieß, sie habe mehrere nahe Familienmitglieder verloren, doch sie selbst sprach nie darüber. Im Juni 2005 jedoch, als Filmmaterial über die Exekution von sechs jungen bosnischen Männern im serbischen Fernsehen gezeigt worden war, meinte sie aufgeregt, einer der exekutierten Jungen sei der Sohn eines Verwandten ihres Mannes gewesen. Erst jetzt konnte sie sich äußern und fragte uns, ob es nicht besser gewesen wäre, in Srebrenica zu sterben, anstatt sich der Tortur des Weiterlebens zu unterziehen.
Bekannte berichteten, das Ereignis, auf das Indira so furchtsam reagierte, habe vor vier Jahren in Deutschland stattgefunden. Nachdem sie fast sieben Jahre in Berlin gelebt hatte, erhielt sie einen Abschiebebeschluß und wurde, während sie die Berufung vorbereitete, festgenommen und für zwei Wochen in ein Berliner Gefängnis verbracht. Die Festnahme beeinträchtigte ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden sehr, denn Indira konnte diese Erfahrung weder artikulieren noch mit ihrem früheren oder gegenwärtigen Leben in Verbindung bringen. Auch bei den Einzeltherapiesitzungen, so ein Therapeut des Zentrums, war Indira still und nicht in der Lage, ihre Erlebnisse in Srebrenica und Deutschland zu einer kohärenten persönlichen Geschichte zu integrieren. Den Psychologen des Zentrums zufolge ist Indiras Re-Traumatisierung ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis erwirkte ihr Anwalt eine Aufenthaltserlaubnis für zwei Jahre, und zwar aus humanitären Gründen wegen des zusätzlichen Traumas infolge der Gefangennahme.
Unerwarteterweise berichteten die meisten Srebrenica-Überlebenden, die an den Vorbereitungen für die Srebrenica-Gedenkfeier teilnahmen, daß sich die Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus bzw. des Status ihrer Familienmitglieder höchst traumatisch auswirkte und der Hauptgrund für die Fortdauer ihrer psychologischen Probleme sei. Adela etwa war es inzwischen gelungen, sich mit dem Tod ihrer Söhne auseinanderzusetzen. Sie träumte inzwischen regelmäßig von ihnen, doch in einer positiven, versöhnlichen Weise, in der die beiden zufrieden und friedlich erschienen. Die Alpträume aber bezogen sich auf die Angst, ihre Tochter und die Enkel zu verlieren, sie handelten von Deportation, von den Momenten der Verhaftung und den zwei Wochen im Gefängnis, aber auch von der Zeit in Srebrenica während der Belagerung, als Hunger, körperliche Gewalt und ständige Angst herrschten. „Alles vermischt sich, und ich weiß nicht, was wann passierte. Ich spüre es so, als ob es nie aufgehört hätte, es geht weiter und wird erschreckender“.
Die für die Präsentation ausgesuchten Erzählungen wurden auf Bosnisch gelesen, doch auch ins Deutsche übersetzt, weil die meisten Zuhörer Deutsche waren. Die Frauen, die ihre Erinnerungen für die Gedenkfeier beigesteuert hatten, dekorierten auch die Wände des Zentrums: eine Decke aus Taschentüchern mit den aufgestickten Namen der Verwandten und Bekannten, die in Srebrenica starben, ein weiteres Stück Stoff mit den Namen der Toten.
Unter den Anwesenden waren Politiker, die langjährige Freunde des Zentrums waren, des weiteren Spender, das Team der Therapeuten, Psychologen und Ärzte. Sie reagierten sehr emotional auf die Berichte, mit Tränen und Respekt für die Überlebenden, auch mit Zorn auf die UNPROFOR und die internationale Gemeinschaft, die eigentlich die Verantwortung für die Überlebenden tragen sollten. Die Unsicherheit des Aufenthaltsstatus blieb während der Zeremonie allerdings unerwähnt, doch hatte ich das Gefühl, daß sie als Subtext vorgetragen wurde, um die Zuhörerschaft, insbesondere die Politiker und Regierungsbeamten, von der Unmöglichkeit einer Rückkehr zu überzeugen.
Adela gelang es, den Schmerz über ihre Erfahrung in Srebrenica und den Verlust ihrer zwei Söhne mitzuteilen. Die meisten Deutschen lasen nicht die Übersetzung mit, sondern sahen Adela an, gefangen von ihrem Gesichtsausdruck, ihren Gesten und ihrer machtvollen, von Gefühl überwältigten Stimme. Sie konnte ihren Schmerz tatsächlich durch eine theatralische Darstellung ihrer Erlebnisse ausdrücken, doch sie war eine der wenigen, die eine Begabung zum Schreiben und tiefe Religiosität verbinden konnten, um zu überleben und sich der Dimension des Todes anzunähern.

Das Trauma dekonstruieren

Im Leben der bosnischen Flüchtlinge gibt es also mehrere Traumaschichten. Erstens war da das Massaker selbst. Die Berichte, um die man die Überlebenden für die Gedenkfeier gebeten hatte, brachten den Deutschen die Botschaft: Srebrenica ist kein Ort mehr, an den Überlebende zurückkehren können. Doch das Wachrufen des Leidens zielte – auch wenn es echt war – mit Bedacht darauf, die amtlichen Stellen davon zu überzeugen, daß ein Leben in Deutschland für sie die einzig verbliebene Option war. Die Frauen sagten kaum etwas über ihre gleichermaßen belastenden Erfahrungen des „tolerierten“ Duldungsstatus, obwohl diese direkte Auswirkungen auf ihr gegenwärtiges Leben haben. Letztlich empfanden sie es als belastend und demütigend, ihre weitere Anwesenheit in Deutschland mit einem noch andauernden Trauma rechtfertigen zu müssen. Adela war wütend, daß der Verlust zweier Söhne und des Ehemanns offenbar kein ausreichender Grund war, um dem Ort des Geschehens ein für allemal entkommen zu können. Während eines späteren Gesprächs drückten die meisten Frauen der Srebrenica-Gruppe ihre Anerkennung darüber aus, daß viele Einzelpersonen, Organisationen und Kirchen in Deutschland den Bosniern wirklich helfen wollten, in Deutschland zu bleiben. Die Methodisten-Kirche in Kreuzberg zum Beispiel beherbergte ein altes bosnisches Ehepaar auf dem Kirchengrundstück, nachdem dieses einen Abschiebungsbescheid erhalten hatte. Mehrere Monate lang unternahm die Kirche außergewöhnliche Anstrengungen, Gemeindemitglieder brachten täglich Essen, und der Priester fuhr sogar nach Bosnien, um ein gutes Pflegeheim für die alten Leute zu finden, weil er deren Verhaftung und Abschiebung befürchtete. Auch hochrangige Beamte hatten Einspruch erhoben, so zum Beispiel Hans Koschnick, der ehemalige EU-Beauftragte für Mostar und spätere „Federal Commissioner for Bosnian Refugees“. Er kritisierte die Gruppendeportationen von 74 Flüchtlingen aus Berlin im Juli 1998 als grob inhuman (EMZ Report 2002), da die Personen mitten in der Nacht abgeschoben worden waren, obwohl sie auf Statuszuweisungen für eine Ansiedlung in einem dritten Land warteten.
Auch das Studium mancher Flüchtlingskinder, die aufgrund ihres Duldungsstatus eigentlich kein Recht auf einen Universitätsbesuch hatten, wurde großzügig finanziell unterstützt. Die betroffenen Jugendlichen mußten dafür zunächst nach Bosnien zurückkehren, erhielten dann die formale Förderung durch eine deutsche Person und konnten sich so an einer deutschen Universität einschreiben und während des Studiums bei den Eltern wohnen.
Die zivilgesellschaftliche Hilfe in Deutschland verlief nicht ohne Probleme, die je nach sozialer Schicht, Geschlecht, Alter und ethnischer Zugehörigkeit sehr unterschiedlich waren.3 Dennoch konnten die Strukturen der Zivilgesellschaft genutzt werden, was wiederum zu Konkurrenz unter den Flüchtlingen führte: das „Ausmaß des Leidens“ wurde untereinander aufgerechnet, es gab gegenseitige Anschuldigungen, daß der/die eine oder andere tatsächlich gar nicht gelitten habe, nicht vergewaltigt oder nicht gefangen genommen worden sei.
Festzuhalten ist: Das deutsche Flüchtlingsrecht ver-ursacht ebenso wie die europäischen Asylrichtlinien bei Menschen, die bereits Opfer sind, zusätzliche Traumatisierungen. Flüchtlinge, die von Deutschland in die USA migrierten, mußten sich ebenfalls mühsam an die neue Umgebung gewöhnen, doch bekamen sie sofort Green Cards und Aufenthaltsgenehmigungen und somit Rechte wie jeder andere Bürger auch. Die in Deutschland Verblieben leben jedoch unter ständiger Angst vor Abschiebung; selbst nach dem Erhalt einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung von sechs Monaten bis zu drei Jahren bleibt die Unsicherheit.
Das Anfang 2005 eingeführte Hartz-IV-Gesetz könnte als ein Schritt in die richtige Richtung angesehen werden, da es den Duldungsstatus aufhebt und die Flüchtlinge hinsichtlich der Arbeitslosenunterstützung mit deutschen Bürgern gleichstellt. Doch die Erneuerung der Aufenthaltserlaubnis ist davon abhängig, ob der Flüchtling eine Arbeitsstelle hat, was wiederum die Kenntnis der deutschen Sprache erfordert sowie eine entsprechende Berufserfahrung und Konkurrenzfähigkeit. Als die Flüchtlinge, von denen hier die Rede ist, nach Deutschland kamen, konnten sie jedoch nach damaliger Gesetzeslage weder eine Arbeitsgenehmigung noch eine Weiterbildung bekommen. Arbeitsgenehmigungen wurden nur erteilt, wenn die Stelle nicht mit einem Deutschen oder anderen EU-Bürger besetzt werden konnte, und Berlin hatte verglichen mit anderen Städten und Bundesländern eine besonders restriktive Arbeitsgenehmigungsregelung (EMZ Report 2002). Nach mehreren Jahren fern dem Arbeitsmarkt, hatten die Bosnier, mit denen ich sprach, lediglich Chancen für Stellen als Bauarbeiter (für Männer) und Reinigungsarbeiten (für Frauen).
Die Frage, ob es ihnen besser oder schlechter ginge als den Rückkehrer nach Bosnien, beantwortete sich schnell. Jasna, eine Kroatin, die 1999 nach Bosnien zurückkehrte, um einer Abschiebung zuvorzukommen, besuchte später für zwei Monate ihren Sohn, der sich inzwischen an der Freien Universität hatte einschreiben können. Jasna war in dieselbe Stadt zurückgekehrt, in der sie vor ihrer Flucht aus Bosnien gelebt hatte, doch dort waren die politischen Entscheidungsträger nicht an einer Reintegration der Rückkehrer interessiert, weder in beruflicher noch in anderer Hinsicht. Im Gegenteil: Diejenigen, die Bosnien verlassen hatten, galten nun als Verräter. Trotz 27jähriger Erfahrung als Psychologin und Sozialarbeiterin blieb Jasna sechs Jahre lang arbeitslos und lebte von einer Sozialhilfe von rund 80 Euro monatlich. Sie beschrieb ihre Situation als hoffnungslos, da die jetzigen Machthaber nicht an dem interessiert waren, was sie der Gesellschaft zu bieten hatte – eine Erfahrung, die sie mit vielen Rückkehrern teilte.

Schlußfolgerungen

Dieser Beitrag kritisiert sowohl die aktuelle Flüchtlingspolitik als auch einen Teil der umfangreichen interdisziplinären Literatur über Flüchtlinge. Beleuchtet wird der Unterschied zwischen Flüchtlingen, die von den Medien spektakulär im Moment des Leidens dargestellt werden, und denen, die zwar Aufnahme gefunden haben, aber keine mediale und politische Aufmerksamkeit mehr finden, und wie die Flüchtlinge zwischen diesen Polen der Repräsentation gefangen sind. Diese wiederum sind nur im historischen und politischen Kontext zu verstehen.
Peck (1995: 105) argumentiert, daß man in Deutschland eine politisch angemessene Haltung gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden zu entwickeln versucht, indem die Nazi-Vergangenheit intensiv reflektiert wird. Er ist insofern zu unterstützen, als es der Asylpolitik anzusehen ist, wie sehr von den Ungerechtigkeiten und Greueln der Vergangenheit gelernt wurde, aber auch, daß Deutschland dennoch dem gegenwärtigen Zustrom an Flüchtlingen nicht gewachsen ist. Die Gesetzeslage wurde der komplexen Realität des heutigen Deutschland höchst unzureichend angepaßt, denn sie trägt den unterschiedlichen Erfahrungen von Flüchtlingen, Asylsuchenden, Gastarbeitern und Immigranten nicht Rechnung.
Daher sollte hier der emotionale, weniger formalisierte Aspekt der Flüchtlingserfahrungen einbezogen werden (vgl. auch Malkki 1995), in denen Kategorien wie Vertrauen und Angst zentral sind: „der Flüchtling mißtraut und ihm wird mißtraut“ (Daniel/Knudsen 1995: 1). Die Literatur zu den jugoslawischen Kriegen als Symptom der Zeit nach dem Kalten Krieg und der Globalisierung unterstreicht die Machtverschiebung in Osteuropa und die neue Bedeutung des Islam (Goldswarthy 1998; Hayden 2000; ÂŽižek 2002). Ebenso, wie die Bosnier in Berlin sich an ihren neuen Status als Flüchtlinge anzupassen versuchen, müssen sie auch ihre ethnische Identität als Muslime neu definieren.
Die hier vorgestellten Berichte zeigen eine auffällige Spannung zwischen den traumatischen Erfahrungen, die aus der Belagerung und dem Fall von Srebrenica herrühren, und den neuen Erfahrungen aufgrund des unsicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland. Dabei ist eine beispiellose Paradoxie zu erkennen, denn trotz der großzügigen Aufnahme während der Kriegsjahre 1992 bis 1995, als Deutschland ungefähr 320.000 Menschen und damit mehr als jedes andere westliche Land aufnahm, wurde den Aufgenommenen nie der offizielle Flüchtlingsstatus zugebilligt. Deutschland bot Schutz und Duldung nur für eine gewisse Zeit an und erwartete die bedingungslose Abreise nach Beendigung des Krieges. Dieser Duldungs„-status“ ist in den letzten dreizehn Jahre zu einer neuen Ursache für Traumata geworden, welche zu den bereits bestehenden Kriegstraumata hinzukommen und auch die gegenwärtigen Wahrnehmungen rekonfigurieren. Der sicherste Weg, in Deutschland eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, ist der Nachweis einer schweren Traumatisierung, weshalb die Flüchtlinge hin- und hergerissen werden zwischen geforderter (und oft übertriebener) Erinnerung an den Krieg und den gegenwärtigen realen, aber nicht anerkannten Ängsten vor Festnahme und Abschiebung. Die aktuellen Ängste sind aber die dominante, strukturierende Kraft im Leben der Flüchtlinge.
Kritiker des deutschen Flüchtlingssystems argumentieren, daß Deutschland zwar die größte absolute Zahl an Flüchtlingen aufnahm, diese im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung jedoch gering war. In Deutschland kommen auf 1.000 Einwohner vier Flüchtlinge, während es in Dänemark fünf, in Österreich zehn und in Schweden 14 sind; und nur in Deutschland wurde den Bosniern keine permanente Aufenthaltsgenehmigung gewährt (EMZ Report 2002). Die Jahre des bewaffneten Konflikts im früheren Jugoslawien bewirkten einen wichtigen Wandel in der Migrations- und Flüchtlingspolitik. Der Duldungsstatus war in Deutschland vor 1990 vor allem auf Zuwanderer aus afrikanischen Ländern angewendet worden, danach wurde die Maßnahme auf europäische Flüchtlinge ausgeweitet. Allerdings ist es nicht Deutschland allein, das eine derartige Behandlung billigte, denn die Entscheidung, Menschen, die aus Jugoslawien geflohen waren, nicht als reguläre Flüchtlinge, sondern als „tolerierte“ Personen ohne langfristige staatliche Verpflichtungen zu behandeln, wurde auf EU-Ebene getroffen.4 Gerechtfertigt wird diese damit, daß die Genfer Konvention von 1951 die Möglichkeit eines solch großen Zuzugs von Flüchtlingen gar nicht berücksichtigte, weshalb sie für die Bewältigung der Flucht aus dem früheren Jugoslawien nicht das angemessene Instrument gewesen sei.
Im Rahmen der EU ist der Fall Deutschland in zweierlei Hinsicht interessant; zum einem wegen der beispiellos hohen Zahl der aufgenommenen Personen5, zum anderen wegen der beispiellos langen Unsicherheit hin-sichtlich ihrer Aufenthaltstitel. Der Duldungsstatus ist so eher Tortur denn Schutz und verdient eine Tiefenanalyse, denn er enthüllt ein fundamentales Paradox des modus operandi humanitärer Gesinnung in Deutschland (vgl. auch Dimova 2006). Die de facto-, aber nicht de jure-Behandlung der Flüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien hat ernste Konsequenzen, da sie auf die bereits bestehenden Traumata neue aufschichtet, womit auch herkömmliche medizinische Definitionen von Trauma, Heilung, Geisteskrankheit und posttraumatischem Stress überfordert sind. Die Unsicherheiten des gegenwärtigen Status bestimmen inzwischen die Art und Weise, wie die Kriegsereignisse erinnert werden. Diesen Umstand nutzen Flüchtlingsanwälte, um drohende Abschiebungen anzufechten; das Duldungs-Trauma ist zu einem Synonym für die Sackgasse der deutschen Flüchtlingspolitik geworden. Die Verrechtlichung der Traumata hat sich auf den Status der vertriebenen Person ausgewirkt, so daß zwei einander ergänzende Prozesse unterschieden werden können: die Einbettung rechtlicher Probleme in einen medizinischen Kontext sowie die Verrechtlichung des medizinischen Diskurses, was der Behandlung von Immigranten, Flüchtlingen und Neuzuwanderern in Deutschland eine wichtige Dimension hinzufügte.
Meine Analyse der Gespräche mit den bosnischen Frauen zeigt, wie schwierig und demütigend es für diese ist, ihren andauernden Aufenthalt in Deutschland mit ihrem erlittenen Trauma rechtfertigen zu müssen. Deutlich wird dies in den Worten einer Frau, die den Verlust ihrer Söhne mit dem Kampf um den Rechtsstatus ihrer Tochter vergleicht:
„Keine Therapie, keine Aussprache hätte mir bei der Bewältigung des Verlustes meiner Söhne helfen können. Ihren Tod zu akzeptieren und in ihn einzutauchen war der einzige Weg für mich, lang und schmerzhaft. Es ist immer noch ein täglicher Kampf, eine ständige Gegenwart, die hinter meinen Träumen lauert und mit scharfer Kraft zusticht, sobald ich meine Augen öffne. Es scheint keinen Weg zu geben, den Schmerz zu verringern oder zu vergessen. Aber es gibt einen Weg, ihn anzunehmen und zu akzeptieren, jede Sekunde meines Lebens zu lernen, mit ihm zu leben. Er ist jetzt Teil meiner selbst und ich nähre ihn. Ich würde ihn äußerst ungern loslassen, weil der Schmerz die Verbindung zu meinen toten Kindern ist. Sie sind bei mir. Ich habe es geschafft, dieses Gefühl zu entwickeln, indem ich meine eigene Beziehung zu Gott entwickelt habe, nicht durch irgendwelche Hilfe von Beratern oder Therapeuten.
Der Kampf um meine Tochter ist eine andere Sache. Sie lebt und ist hier mit mir. Diesen Kampf muß ich mit Worten gewinnen, durch Rufen, Weinen und Schreien, so laut ich kann, um den offiziellen Stellen klarzumachen, daß es richtig für sie ist, hierzubleiben. Ich habe im Fernsehen darüber berichtet, was ich in Srebrenica durchgemacht habe. Ich nehme an jedem Ereignis teil, das mit Flüchtlingen zu tun hat, und ich sage jedem, daß ich zwei Söhne und meinen Mann verloren habe. Ich habe mich dazu entschlossen, an dieser Veranstaltung auch an zentraler Stelle teilzunehmen, denn dieses Mal kämpfe ich für die Lebenden“.

Aus dem Englischen von Ulrich Oberdiek

Anmerkungen

1 Die Studie und die Übersetzung dieses Aufsatzes wurden vom Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung in Halle großzügig unterstützt. Die Autorin möchte ihren herzlichen Dank an Lale Yalcin-Heckmann, Andrea Riester, Anita Schroven, Deema Kaneff und Zlatina Bogdanova für ihre wertvollen Hinweise während des MPI-Seminars zum Ausdruck bringen, wo dieser Aufsatz zuerst vorgestellt wurde.
2 Im Jahr 2000 lebten ca. 600 Srebrenicer in Berlin (EMZ Report 2002).
3 An anderer Stelle behandle ich die Situation kosmopolitisch orientierter jungen Leute, vor allem Künstler und Akademiker, die eine Ehe mit Deutschen eingingen, sei es aus Neigung, sei es, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen (Dimova 2006).
4 Die meisten anderen EU-Länder, die Flüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien in der ersten Umsiedlungsphase „tolerierten“, änderten deren Status binnen zweier, dreier Jahre. Viele Flüchtlinge, die nach Österreich, in die Niederlande, nach Frankreich, Schweden, Dänemark oder in die Schweiz kamen, haben inzwischen Pässe und/oder sind Bürger dieser Länder. Dies ist in Deutschland nicht der Fall.
5 Allein Berlin nahm 30.000 Flüchtlinge auf, so viele wie Italien, Frankreich und Großbritannien zusammen.

Literatur

Bieber, Florian, 2005: Post-war Bosnia: Ethnicity, Inequality and Public Sector Governance. New York
Bieber, Florian/ Daskalovski, ÂŽidas, 2003: Understanding the War in Kosovo. London/ Portland
Daniel, Valentin/ Knudsen, John (Eds.), 1995: Mistrusting Refugees. Berkeley
Dimova, Rozita, 2006: Remembering the past, forgetting the future: Cosmopolitanism as a class factor among Bosnians in Berlin. Paper presented at ASN 11th Annual World Convention: Nationalism in an Age of Globalization. Harriman Institute, Columbia University, 23–25 March, 2006
EMZ Report, 2002: Integration of Refugees. Berlin
Goldswarthy, Vesna, 1998: Inventing Ruritania: The Imperialism of the Imagination. New Haven/ London
Hayden, Robert, 2000: Blueprints for a House Divided: The Constitutional Logic of the Yugoslav Conflicts. Ann Arbor
Malkki, Liisa, 1995: Purity and Exile. Chicago
Peck, Jeffrey, 1995: Refugees as foreigners: The problem of becoming German and finding home. In: Daniel/ Knudsen (Eds..), 102-125
Shahrani, Nazif, 1995: Afghanistan’s Muhajirin (Muslim „Refugee Warriors“): Politics of mistrust and mistrust of politics. In: Daniel/ Knudsen (Eds.), 187-206
Žižek, Slavoj, 2002: Welcome to the desert of the real! Five Essays on 11 September and Related Dates. London/ New York

Dr. Rozita Dimova, Ethnologin, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin

aus: Berliner Debatte INITIAL 18 (2007) 4/5, S. 96-104