Akademiesteuer statt Studiengebühren

Lange Zeit war das Studium in der Bundesrepublik gebührenfrei, manchenorts ist es das noch immer. Für Krippen und Kindergärten werden dagegen weithin noch immer Beiträge kassiert. Die Reaktion der Politik besteht bekanntlich nicht in der überfälligen Kostenbefreiung von Kitas, sondern in der Durchsetzung von Studiengebühren. Mit Ausnahme Thüringens werden sie inzwischen in sämtlichen Bundesländern ohne sozialdemokratische Regierungsbeteiligung verlangt. Zwei Drittel der Studenten in Deutschland sind davon betroffen. Bisher bezahle die Krankenschwester mit ihren Steuern für das Studium des Chefarztsohnes, die Verkäuferin für die Ausbildung des späteren Ministerialrates - so die gängige Begründung. Diese Ungerechtigkeit werde durch Studiengebühren zumindest gemindert. Zugleich soll den von der öffentlichen Sparwut ausgemergelten Universitäten damit zumindest etwas Linderung zuteil werden.

Erreicht wird damit genau das Gegenteil des angeblich Gewollten. Mit dem Argument, soziale Ungerechtigkeit abzumildern, werden gerade junge Menschen aus ärmeren Schichten vom Studium abgeschreckt. Und deren Anteil an den Studenten hat sich seit 1982 fast halbiert, auf inzwischen nur noch 13 Prozent. Das ist eine in der westlichen Welt wohl einmalige Skandalziffer. Zwischenzeitliche Fortschritte haben sich wieder verflüchtigt. So hatte sich die Schere zwischen der Zahl der Abiturienten und der der Studienanfänger gegen Ende der 90er Jahre geschlossen. Seit drei Jahren klaffen diese Zahlen wieder weit auseinander. Offenkundig schrecken mehr und mehr Abiturienten vor einem Studium zurück.

Zumeist verkraften Akademikerfamilien die derzeit rund 1000 Euro an Studiengebühren pro Jahr noch mühelos. Sie würden auch dann kaum auf ein Studium ihrer Kinder verzichten, wenn diese Gebühren auf ein auch für sie schmerzhaftes Niveau hochgetrieben würden. Ganz anders sieht es bei Niedrigverdienern aus. Hinzu kommt: Diejenigen in den einkommensschwachen Schichten, die sich um einen sozialen Aufstieg mühen, sind meist schuldenkonservativ. Auch staatliche Verschuldungsangebote sind schon deshalb kaum als die vom Bundesverfassungsgericht verlangte sozialverträgliche Gestaltung von Studiengebühren ernst zu nehmen. Nach Berechnungen aus dem Bundesbildungsministerium wird, wer über sieben Jahre den Durchschnittskredit von 490 Euro pro Monat aufnimmt, 91 856 Euro abzustottern haben - vorausgesetzt, der Zinssatz verharrt bei 5,95 Prozent. Wer den Höchstbetrag von 690 Euro beansprucht, muss 121 706 Euro zahlen; das sind über 364 Euro pro Monat über 25 Jahre. So haben sich bislang auch nur 23 000 junge Menschen an die seit Frühjahr 1986 geförderten Studienkredite herangewagt. Das ist gerade mal ein Prozent der zwei Millionen Studenten in Deutschland. Angesichts eines Zuwachses der bewilligten Kredite binnen eines Jahres um 60001 muss man von Nachfragestagnation auf mikroskopischem Niveau - kurzum von einem Flop - sprechen.

Im Dezember vergangenen Jahres hat das Statistische Bundesamt erstmals einschlägige Zahlen vorgelegt. Sie sprechen eine deutliche Sprache. In denBundesländern mit Studiengebühren sinkt die Zahl der Studienanfänger - siehe Hessen und Baden-Württemberg - oder sie zeigt eine nur dürftige Zunahme wie in Nordrhein-Westfahlen und Bayern. In gebührenfreien Ländern wie in Rheinland-Pfalz und Berlin steigt die Zahl der Einschreibungen dagegen rapide an. Manche mögen darin noch eine bloße Umlenkung von Studenten sehen wollen. Doch die noch gebührenfreien Länder werden auf die Folgekosten dieser "Gebührenflüchtlinge" reagieren müssen.

Möglicherweise haben Andere auch schlicht eine kalte Kalkulation vor Augen: Verzichtet jeder Zehnte ansonsten Studienwillige der Gebühren wegen auf ein Studium, so würde es derzeit 10 000 Euro pro Jahr kosten, diesen durch allgemeinen Gebührenverzicht fürs Studieren zu gewinnen. Nicht von jedem mag das Studium eines jungen Menschen aus mutmaßlich bildungsfernen Schichten so wichtig genommen werden.

Offenkundig entsteht nach der Einführung von Studiengebühren in allen betroffenen Nationen ein politisch schier unwiderstehlicher Sog nach oben. So wurden in England die Gebühren seit dem Start im Jahr 1998 etwa verdreifacht, auf nunmehr bis zu 3000 Pfund pro Jahr für Bachelor-Studiengänge. Die Entwicklung der Studentenzahlen fiel prompt weit hinter die in Schottland zurück. Für Master- Studiengänge sind die Gebühren mittlerweile auch für Mittelständler nahezu prohibitiv. Und an den renommierten Universitäten der USA bewegen sie sich in der Nähe eines amerikanischen Durchschnittseinkommens. Von Gebühren weit über 30 000 Dollar pro Jahr wird berichtet. Robert Reich, Arbeitsund Sozialminister unter Bill Clinton, begründete seinen Rücktritt vom Ministeramt seinerzeit damit, seine Kinder seien jetzt im Studienalter. Deshalb brauche er einen Job mit besserem Einkommen. Auch in Deutschland betrachten nicht wenige die derzeit rund 1000 Euro pro Jahr nur als Einstiegsdroge. Aus der Wirtschaft werden bereits 2500 Euro gefordert.
Die soziale Spaltung wird zementiert

Die abschreckende Wirkung von Studiengebühren ist evident - und sie ist nachvollziehbar. Die Wahrscheinlichkeit, ein erfolgreiches Examen später auch in ein gutes Gehalt ummünzen zu können, hat sich gegenüber früheren Jahrzehnten drastisch vermindert. Hinzu kommt eine Studienabbrecherquote von 30 Prozent. Zugleich werden die Studiengänge derzeit deutlich gestrafft. Damit sinken die Chancen derer, die nebenher jobben müssen. Das Risiko, später auf dem akademischen Arbeitsmarkt ausgesiebt zu werden oder vorher schon, während des Studiums, trifft junge Menschen aus bislang bildungsfernen Familien stärker als Akademikerabkömmlinge. Deshalb wird mit Studiengebühren und erst recht mit dem Ansinnen, das Studium mit Verschuldung zu finanzieren, die soziale Schichtung in Deutschland zementiert. Diese ist bekanntermaßen schon jetzt rigider als ringsum in Europa. Erstaunlich folgenarm sind die stereotypen Deklamationen, die einzige relevante Ressource des Landes seien Qualifikation und Kompetenz. In den Ohren der Bildungsfernen und sozial Schwachen mögen sie geradezu zynisch klingen.

Das zur Rechtfertigung von Studiengebühren gängige Argument, wonach Einkommensschwache mit ihren Steuern und Abgaben das Studium der Einkommensstarken alimentieren, ist empirisch weder beweis- noch widerlegbar. 2 Zu vielfältig sind die Zahlungsströme (Ausbildungsfreibeträge, Kindergeld, Familienmitversicherung in den Krankenkassen, Anrechungen von Studienzeiten bei der Beamtenbesoldung usw.), zu unterschiedlich je nach Fach die Studienkosten, kaum abschätzbar die bildungsinduzierten Anteile an höheren Einkommen und deren Steuern und die "externen Wirkungen" der Qualifikationen auf Volkseinkommen, Innovationen und Beschäftigung.

Will man in der Tat die später Gutbetuchten für die Kosten ihrer Ausbildung stärker zur Kasse bitten, so gibt es andere, weniger abschreckende Wege. Ein verblüffend einfaches funktionales Äquivalent zu Studiengebühren ist ein Aufschlag auf die Einkommensteuer ab etwa einem Akademikereinstiegsgehalt. Auf diese Weise träfe es nur die Erfolgreichen; die Gescheiterten müssten eine derartige Akademikersteuer nicht aufbringen. Die Angst, als Abbrecher, als glückloser Anwalt oder als Architekt ohne Anstellung und Aufträge bis ans Lebensende mit dürftigem Einkommen eine nicht zu bewältigende Verschuldung am Hals zu haben, wäre vorbei.

Auch die später Erfolgreichen würden erst dann zahlen, wenn das fast mühelos möglich ist und nicht, wie im Falle von Studiengebühren, bereits während ihres Studiums als der finanziell meist härtesten Durststrecke ihrer Biographie. Ein Zwang, während des Studiums jobben zu müssen, um die neuen Gebühren berappen zu können, ist auch volkswirtschaftlich die dümmste aller denkbaren bildungspolitischen Strategien. Entweder es leidet die Qualität der Studienleistung, oder das Studium verlängert sich. Damit kommt das investierte Humankapital später und folglich kürzer zum Einsatz. Und dabei handelt es sich nicht um irgendwelche verlorenen Jahre, sondern um die leistungsfähigsten und ideenreichsten. Dass sich ein späterer Facharzt oder Ingenieur während seines Studiums als Teilzeitjobber jahrelang hinter den Kneipentresen stellen muss, ist geradezu hirnrissig, aber hierzulande zunehmend nackte Notwendigkeit.

Im Gegensatz zu Studiengebühren und -krediten wäre ein Aufschlag auf die Steuerschuld zudem völlig bürokratiefrei. Mit einer einzigen Gesetzesänderung, mit ein wenig mehr Steuerprogression, ist alles erledigt. Perfektionsfreaks mögen hier darauf dringen, Gutverdienende, die nie studiert haben, von dieser Akademikersteuer auf Antrag freizustellen. In der Unzahl von Sondertatbeständen, Ausnahmen und Begünstigungen, die in der Routine deutscher Finanzämter ohnehin zu bewältigen sind, ginge diese eine zusätzliche Zumutung fast unmerklich unter. Andere werden statt einer Akademikersteuer vielleicht eine Akademikerabgabe bevorzugen, damit der Erlös auch bei den Universitäten ankommt. Das bietet jedoch ebenfalls keine Gewähr, dass diese zusätzlichen Gelder nicht ziemlich bald an anderer Stelle im staatlichen Bildungsbudget eingespart werden. Das Gleiche gilt freilich auch heute für die formalrechtlich zweckgebundenen Studiengebühren.

Rationale Argumente gegen eine Akademikersteuer statt - und als funktionales Äquivalent zu - Studiengebühren sind somit nicht erkennbar. Doch in den deutschen Parlamenten sitzen nun mal mehrheitlich Studierte. Deshalb halten sich die Chancen für eine zumindest zeitnahe Durchsetzung dieser Idee - so naheliegend und einfach sie auch sein mag - wohl in Grenzen.
1 Im November 2006 betrug der Gesamtstand 17 000 Studenten.
2 Vgl. Daniel Lübbert, Zu den Umverteilungswirkungen staatlicher Hochschulfinanzierung, Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste wd-224/06.