Gegenkultur und Autonomie

Gegenkulturen und Alternativbewegungen gab es, solange es die kapitalistische Wirtschaft gibt und schon früher, man denke an die Frühsozialisten, es wird sie auch weiter geben. Auch der Vorwurf, ...

dass sie mit ihren politischen Ideen und Idealen gescheitert sind und eigentlich nichts bewirkt haben oder vom kapitalistischen System vereinnahmt werden, ist alt. Dennoch gibt es Alternativprojekte, die bereits seit Jahrzehnten bestehen und "funktionieren".

Alternativökonomie" markiert einen Übergangsbereich zwischen der marktzentrierten kapitalistischen Wirtschaft, dem öffentlichen Sektor und der informellen Ökonomie. In diesem Grenzbereich haben wir es mit höchst unterschiedlichen Strukturen zu tun. Um eine Verständigungsbasis herzustellen, soll hier eine kurze Erklärung der wichtigsten Begriffe vorgenommen werden.1 Alternativbetriebe sind danach Betriebe, in denen die Mitglieder selbst verwaltet und in kollektiven, nicht hierarchischen Strukturen unter selbst bestimmten Normen Tätigkeiten verrichten, die der Erstellung von Produkten oder Dienstleitungen dienen. Idealtypisch gibt es kein privates Eigentum, Betriebsvermögen und Betriebsertrag sind neutralisiert, d. h. der persönlichen Verfügbarkeit entzogen. Selbstverwaltung heißt, dass die Menschen die Lösung der Probleme in ihrem Arbeitsprozess selbst in die Hand nehmen. Das heißt nicht je individuell, sondern als kollektiver politischer und sozialökonomischer (Lern)Prozess einer überschaubaren Menge von Menschen. Genossenschaften sind Betriebe und Dienstleistungsunternehmungen, in denen die GenossInnen als Eigentümer gemeinsam die wichtigsten betriebsinternen sowie produktorientierten Entscheidungen treffen. Während bei Produktionsgenossenschaften im Wesentlichen die im Betrieb Beschäftigten mit den GenossInnen identisch sind, sind bei den absatzorientierten Konsumgenossenschaften die entscheidenden Mitglieder die Konsumenten oder Nutznießer der Produkte. Unter Kommunen werden freiwillige Zusammenschlüsse von Menschen verstanden, die auf Grundlage gemeinsamer Überzeugungen ihr Zusammenleben radikaldemokratisch organisieren. D. h. alle Menschen haben die gleichen Rechte und Pflichten, das betrifft sowohl das gemeinsame selbst verwaltete Arbeiten, wie auch die gemeinsame Alltagsgestaltung.

Die Ursache für die Gründung von Gegenkulturen und für Überlegungen mit veränderten betrieblichen Beteiligungsformen ist sowohl in der Frustration über die fremdbestimmte, partialisierte, hierarchisch organisierte Arbeit in Industrie und Verwaltung zu finden, als auch in der Erkenntnis über die Konflikte, die sich aus der psychischen, physischen, sozialen und ökologischen Zerstörung der Lebensgrundlage der Menschen, besonders durch die großen Kapitalkonzentrationen ergeben. Angesichts zunehmender Globalisierung verlieren immer mehr Menschen den Glauben an alte Problemlösungen, neue scheinen auf breiter Ebene nicht in Sicht. Prekarisierung, Entgrenzung von Arbeit und Leben, projektförmige Arbeit, Arbeitskraftunternehmer und andere Modernisierungs- und Flexibilisierungsstrategien in kapitalistisch organisierten Betrieben, neue Selbstständige im Kulturbereich rechne ich nicht unbesehen zu den Gegenbewegungen.

Alternativökonomie als Gegenferment zur Erwerbslosigkeit?
Mit zunehmender Erwerbslosigkeit bildeten auch Initiativen aus Arbeitslosenselbsthilfegruppen selbstverwaltete Betriebe und andere alternative Arbeitsformen. Das ist im Sinne der Förderung von Selbsthilfe als Empowerment sicher zu unterstützen. Die Glorifizierung der alternativen Ökonomie als Gegenferment für Erwerbslosigkeit, wie sie von vornehmlich TheoretikerInnen der lokalen Ökonomie, der Subsistenzproduktion oder der gemeinwesenorientierten Wirtschaft in jüngster Zeit deklamiert wird, muss hingegen äußerst kritisch betrachtet werden. Wo die Arbeitsmarktpolitik versagt hat und auch Arbeitsförderbetriebe, soziale Betriebe oder vergleichbare Modelle nicht geschafft haben, Erwerbslose in großer Zahl zu integrieren, kann auch die alternative Wirtschaft nicht als Allheilmittel wirken. Diesen Anspruch hatten und haben die meisten AktivistInnen auch gar nicht. Die Ansprüche selbst verwalteter Betriebe sind ganz und gar ungeeignet für eine willkommene Förderung unzumutbarer prekärer Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnbereich. Das gilt auch dann, wenn Sozial- und Produktivgenossenschaften in der bundesdeutschen Debatte über die Perspektiven aktiver Arbeitsmarktpolitik als Heilsbringer eine Rolle spielen sollen. Das heißt nicht, dass kollektive Zusammenschlüsse und soziale Innovationen nicht gefördert werden sollen. Die Förderung und Unterstützung kollektiver Zusammenschlüsse und sozialer Innovationen ist wesentlich sinnvoller als die Förderung von ICH-AGs und Selbst GmbHs. Es darf jedoch nicht suggeriert werden, dass die Gründung von "neuen Genossenschaften" als Hilfe zur Selbsthilfe sozialstaatliches Handeln ersetzen kann. Für fast vier Millionen Erwerbslose in der Bundesrepublik Deutschland sind andere Maßnahmen notwendig.

Neue Beteiligungsformen
In den 70er Jahren sind viele Alternativbetriebe oder selbst verwaltete Unternehmungen aus politischem Anspruch in engem Zusammenhang mit der StudentInnen-, Ökologie- und Frauenbewegung entstanden, mit der Zielsetzung der Schaffung demokratischer Betriebsorganisationen, humaner Arbeitsprozesse und einer ökologisch verträglichen, gesellschaftlich nützlichen Produktion. Zum Teil bestehen sie noch heute. Meist haben sie den Anspruch, in kollektiven, nicht hierarchischen, nicht patriarchalen Strukturen ebenbürtig unter Normen zu arbeiten und zu leben, die sie sich selbst gegeben haben. Die Beteiligungsformen, die in Alternativökonomie, selbst verwalteten Betrieben oder Kommunebetrieben praktiziert werden, sind mehr als Mitbestimmung und auch mehr als Demokratie am Arbeitsplatz. Die meisten alternativen Betriebsformen praktizieren neue Möglichkeiten der Partizipation bis hin zu Experimenten mit weitgehend selbst bestimmten Arbeitsformen. Sie sind Ansätze radikaler Kritik an der abhängigen Erwerbsarbeit, eine gleichzeitige Kritik an der Kleinfamilie üben eigentlich lediglich die kommunitären Arbeits- und Lebensformen. Aber auch in den anderen Betrieben sind Mitarbeitende und EigentümerInnen meist identisch und alle Kollektivmitglieder haben im Idealfall ein gleiches Entscheidungsrecht in betrieblichen Belangen. Als Gruppe haben sie den Vorteil, dass sie sich die Menschen, mit denen sie arbeiten wollen und von denen sie freilich auch abhängig sind, selbst aussuchen. Viele haben ein kritisches Verhältnis zu Autoritäten, Propheten und Gurus jeglicher Art. Freilich gibt und gab es im Zuge der postmodernen Vielfalt auch spirituelle und andere rückwärtsgewandte Projekte.

Die Schätzungen über das Ausmaß der alternativen Betriebe der 70er und 80er Jahre reichen von 3 000 bis 12 000 Betrieben und von 25 000 bis zu 100 000 Personen, die in der BRD dort beschäftigt sind. Die Zahlen sind deshalb so unterschiedlich, weil Unterschiedliches unter dem Begriff "Alternativökonomie" subsumiert wird. Die ersten selbst verwalteten Betriebe waren Druckereien, Verlage und Buchläden. Es folgten ökologische und energiepolitische Aktivitäten, selbst verwaltete Produktions- und Handelsbetriebe z. B. für Naturkost und Naturtextilien. Viele nahmen sich umweltschonender und energiesparender Techniken an. Auch soziale und kulturelle Projekte wählten selbst verwaltete Betriebsformen. Berührungspunkte mit den Gewerkschaften bildeten Erfahrungen mit (versuchten) Betriebsübernahmen durch die Belegschaft 2 und mit Initiativen "Alternativer Produktion" oder Produktkonversion 3. Im Rahmen dieser Aktivitäten zielten Belegschaften auf eine größere Einflussnahme auf die Unternehmenspolitik bis hin zur Selbstbestimmung und sinnvolle, ökologisch verträgliche und auf friedliche Zwecke gerichtete Produktion.

Vielfach wurde bereits problematisiert, dass auch in Alternativbetrieben oft traditionelle geschlechterhierarchische Arbeitsverteilungen erhalten bleiben. Die Entstehung der selbstverwalteten Wirtschaft schloss politische Forderungen der Frauen mit ein; zentrales Thema waren sie jedoch nicht.4 Dennoch finden sich Alternativbetriebe, in denen Frauen "typische Männerarbeiten" übernehmen und Männer sich an den Reproduktionsarbeiten gleichermaßen beteiligen, wie Frauen.

Dass sich die Formen des Zusammenlebens in den letzten Jahren über den Bereich der traditionellen Kleinfamilie hinaus pluralisiert haben,5 ist sicher ein Verdienst der Gegenkulturen und nicht als ›Krise der Familie‹ zu bezeichnen.

Selbstausbeutung oder Fremdausbeutung?
Immer wieder problematisiert, besonders durch gewerkschaftlich organisierte Individuen, wird die "Selbstausbeutung" durch niedrige Entlohnung und lange Arbeitszeiten, verbunden mit mangelhafter sozialer Absicherung. Über kurz oder lang stellen sich tief greifende Widersprüche in ausnahmslos jedem alternativen Projekt ein, die den Kollektivzusammenhang in eine Existenz bedrohende Zerreißprobe zwischen Marktmechanismen einerseits und Emanzipationsansprüchen andererseits führen.6 Die Selbstausbeutung der Ware Arbeitskraft ist ein strukturelles ökonomisches Prinzip, demzufolge die Mehrwertschöpfung eine besonders große Rolle einnimmt. Auch Betriebe der Alternativökonomie müssen auf dem "freien Markt" konkurrenzfähig sein. So hängen - wie im richtigen Leben auch - Erfolg oder Misserfolg der Betriebe von der jeweiligen Marktsituation ab. Von den Kunden werden sie bei Auftragsvergabe an den kapitalistischen Unternehmen gemessen. Menschen, die in Alternativbetrieben arbeiten, sind oft, wie andere ArbeitnehmerInnen Individuen, die um ihre Existenz kämpfen müssen und die in den wenigsten Fällen größere Produktionsmittel besitzen. Wenn das der Fall ist, haben sie gemeinsam Anteil daran. Oft wird die "Selbstausbeutung der Ware Arbeitskraft" bis an deren physische Grenzen getrieben. Dennoch finden sich in der jüngeren Generation der AktivistInnen heute Menschen, die das Leben in einem "normalen Betrieb" gar nicht kennen lernen wollen und auch nicht kennen gelernt haben. Sie wurden in selbst verwalteten oder genossenschaftlich organisierten Betrieben ausgebildet und haben immer dort gearbeitet. Freilich gilt auch in solchen Betrieben oft der harte Kampf ums Dasein und nicht selten führt das zu Ausgrenzungen. Bezeichnend ist, dass dennoch die "Selbstausbeutung " in alternativen Betrieben offenbar kritischer gesehen wird, als die der Fremdausbeutung in kapitalistisch organisierten Betrieben. Die hohe Identifikation der Beschäftigten mit ihren Betrieben, die hinter dieser "Selbstausbeutung" vermutet wird, mag andererseits einer der Gründe sein, die "normale" Unternehmer nach solchen Konzepten schielen lassen, die ihnen mehr Motivation und Arbeitszufriedenheit ihrer Mitarbeiter versprechen. Trotz der andiskutierten Schwierigkeiten könnten die Erfahrungen einer demokratischen Betriebs- und Arbeitsorganisation für die Weiterentwicklung gewerkschaftlicher Betriebs- und Tarifpolitik genutzt werden. Wenn das gelänge, würde auch der Vorwurf, dass es sich bei den alternativen Unternehmungen oder gar der gesamten alternativen Ökonomie um nichts weiter als um Nischen oder Rückzugsräume für Dissidenten handele 7, entkräftet werden.

Nach einer Studie, die 1997 in Hessen durchgeführt worden ist, ist es den meisten der 200 untersuchten selbst verwalteten Betriebe in den letzten zehn Jahren gelungen, effiziente und tragfähige Betriebsstrukturen in der Form professionell betriebener Kleinbetriebe herauszubilden und zu stabilisieren.8 Rund die Hälfte hatte sich Transformationsprozessen unterzogen und die kollektiven Strukturen aufgegeben. Kapitalmangel waren die am häufigsten angegebenen Gründe. Die Studie ergab auch, dass sich die Betriebe dort stabil entwickeln, wo politische Bindungen bestehen. Die Motivation, eigenverantwortlich die gemeinsam getroffenen Entscheidungen umzusetzen, war in allen in die Untersuchung einbezogenen Betrieben deutlich höher als in normalen Kleinbetrieben.

Wir haben bereits in unserem Buch über Selbstverwaltung in der Wirtschaft 1991 festgestellt, dass etliche, die einst Geborgenheit in der Gruppe fanden, ihre Identität als ManagerInnen von Tagungshäusern und Alternativprojekten finden.9 Sibylle Plogstedt stellt in einer neueren Studie über Frauenbetriebe fest, dass die Bezeichnung Kollektiv in den neuen Bundesländern aufgrund der DDR-Geschichte abgelehnt wird und auch im Westen die Kollektivstruktur obsolet wurde, weil in einer Vielzahl von Projekten, GeschäftsführerInnen die Leitung übernahmen. Sie stellt aber auch fest, dass für diejenigen, die sich für Einzelunternehmen entschieden, das Lernen im Kollektiv ein notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zur Selbstständigkeit war. Den Rückgang der Frauenprojektebewegung führt sie freilich auch auf den mangelnden Zusammenhalt der feministischen Frauenbewegung zurück.10

Kommunen als Fenster in eine herrschaftsfreie Welt
Als Beispiel für gelebte Gegengesellschaften können die Kommunen als Experimente für neue Lebens- und Arbeitsformen betrachtet werden. 11 Kommunen sind das wohl radikalste Demokratiemodell innerhalb der alternativen Ökonomie. Ihnen geht es nicht nur um das gemeinsame andere Wirtschaften. Sie stellen die Partialisierung in "Leben" und "Arbeiten" oder in "Produktion" und "Reproduktion" zur Disposition und versuchen, in ihrer Alltagspraxis beides zusammenzubringen. Das unterscheidet sie von selbst verwalteten Betrieben. Sie üben Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem und Kritik an der bürgerlichen Kleinfamilie als Organisationsstruktur für Reproduktionsarbeiten. 12 Dadurch gehen auch Arbeitszeit und Freizeit ineinander über. Das wird durchaus nicht durch alle Mitglieder positiv bewertet, denn die Freizeit verliert so auch ihren Kompensationscharakter gegenüber der Erwerbsarbeit.13

Die Forderung nach Lohn für Hausarbeit betraf immer nur einen kleinen Teil der Frauenbewegung. Der größere Teil wollte weder die Sklaverei am Fließband, noch die am Spülbecken, noch die Ausbeutung von Dienstbotinnen (meist aus fernen Ländern). Ihnen ging es um eine andere, kollektive Organisation der Hausarbeit. In den meisten Kommunen wird Hausarbeit ein kollektiv organisierter Arbeitsbereich, wie andere Arbeitsbereiche auch. Man kann also von der Abschaffung der isolierten Hausarbeit, wie sie in den kleinen Küchen der kleinen Familien stattfindet, sprechen.

Es geht den Lebens- und Arbeitsgemeinschaften darum, solidarisch und ganzheitlich zu leben und zu arbeiten, nach eigenen Regelungen und Absprachen.14 Dazu gehört eine Auseinandersetzung mit den Schäden der modernen Zivilisation, damit sind Schäden gemeint, die die Umwelt, aber auch solche, die die zwischenmenschlichen Beziehungen betreffen. KommunardInnen wollen das Verlangen nach einem würdevollen Leben, nach demokratischen Arbeitsstrukturen, nach ebenbürtigen Geschlechterverhältnissen ohne geschlechtshierarchische Arbeitsteilung und nach freier Ordnung, die sie in der kapitalistisch- patriarchalen Gesellschaft nicht finden können, im Hier und Jetzt verwirklichen. Das schließt nicht aus, dass sie ebenso gesellschaftliche Strukturen wie Familie und Kapitalverhältnisse hinterfragen.

Die meisten wollen sich möglichst weit lösen von den Prinzipien der neoliberalen marktwirtschaftlichen Ordnung und den damit verbundenen Warenbeziehungen. Daher betreiben sie einen Teil Selbstversorgung und auch der Tauschhandel mit bestehenden Gruppen floriert. Auch wenn sie "für den Markt" arbeiten müssen, was ihnen von anderen Alternativen immer wieder zum Vorwurf gemacht wird, kaufen die KommunardInnen für ihre Kommunebetriebe keine Arbeitskraft von anderen, wie es "normale" Unternehmer oder besser verdienende Familien tun. Sie vermarkten nur die eigene Arbeitskraft für Produkte, die direkt an die EndabnehmerInnen gehen. Alle Produktionsmittel gehören ihnen gemeinsam. Aus diesen kollektiven Besitzstrukturen ergeben sich auch kollektive Entscheidungsstrukturen. Darin liegt das Demokratiepotential.15 Freilich bringt das Kommuneleben, wie andere Lebensformen auch, Probleme mit sich. Möglicherweise potenzieren sie sich durch die Zahl der Beteiligten, aber die Lösungsmöglichkeiten potenzieren sich auch. Marcuse bezeichnete Kommunen als Inseln der Zukunft, als Testboden humaner Beziehungen zwischen Menschen. Die Kommune Niederkaufungen, die kürzlich ihr 25jähriges Bestehen feierte, gilt heute als "Vorzeigekommune " auch bei Tagungen, Fernseh- und Rundfunksendungen. Hervorgehoben wird ihre hervorragende Integration in nachbarschaftliche Verhältnisse. Das hat den Bekanntheitsgrad von Kommunen erhöht, aber auch die Möglichkeit ihrer Vereinnahmung als Beispiel für bürgerschaftlich Engagierte.

Perspektiven für die Zukunft
Immer wieder gab und gibt es Alternativbewegungen. Im Grunde genommen gilt für alle, was Karl Marx in den ökonomischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 sagt: "Es versteht sich, daß die Aufhebung der Entfremdung immer von der Form der Entfremdung aus geschieht, welche die herrschende Macht ist."16 D. h. wenn die bürgerliche Gesellschaft aus dem Wert- und Kapitalbegriff begriffen werden soll, muss auch die Entwicklung der Kritik an dieser Gesellschaft mit dem Wert- und Kapitalbegriff in Zusammenhang gebracht werden. Rolf Schwendter denkt in diese Richtung, wenn er für Subkulturen - darunter können alternative Betriebe und Kommunen subsumiert werden - konstatiert: "Die Subkulturen entwickeln ihre aus der Negation der Normen und Institutionen der Gesamtgesellschaft entstammenden Normen und Institutionen zur Aufhebung der gesamtgesellschaftlichen Normen weiter (...). Dieser Prozess wird nicht ohne Widerstände vor sich gehen; inhaltlich hat er die grundsätzliche Veränderung des Bestehenden zum Ziel."17 Um einen bestehenden Zustand grundsätzlich zu verändern, sind jedoch neue Ideen, neue Verhaltensweisen, neue Bedürfnisse erforderlich. Aber was sind "neue" Verhaltensweisen und Bedürfnisse? Entstehen sie nicht ebenso aus dem Alten? Die Frage, ob es möglich ist, im Schoße der bestehenden Gesellschaft die Vorstellungen vom "guten Leben" zu entwickeln, oder ob dies unmöglich ist, weil die Gesamtgesellschaft samt ihrer Subkultur vom Warenfetisch durchdrungen ist, sie ist so alt wie die Frage nach dem "guten Leben" selbst.18 Auch der Vorwurf, dass sich solche Projekte für Reformen statt für die Revolutionierung der Verhältnisse entschieden hätten, hat einen grauen Bart.

Viele alternativ-ökonomischen Projekte und Kommunen scheitern bereits in der Anfangsphase. Oft, weil die Illusionen, die sie mit dem anderen Leben verbinden, so unermesslich sind, dass sie einfach nicht eingelöst werden können. Oder weil soziale Qualifikationen und Verantwortung, die zur Übernahme kollektiver Entscheidungsstrukturen notwendig sind, innerhalb der herrschenden Sozialisationsinstanzen nicht gelernt werden. Mehr Autonomie heißt schließlich nicht nur mehr Selbstbestimmung, sondern auch mehr Selbstverpflichtung. Was dringend notwendig wäre, ist eine Auseinandersetzung mit der breiten Empirie des Scheiterns und der Barrieren, die den Erfolgen im Wege stehen. Daraus könnten die lernen, die nicht alle schon einmal gemachten Fehler selbst wiederholen wollen und auch die, die sich darüber Gedanken machen, wie ein Ausstieg aus oder eine Auflösung von Projekten sozial vertretbar für alle gestaltet werden kann.

Die großen politischen Zielvorstellungen einer Revolutionierung des gesamten Gesellschaftssystems betrafen immer nur einen Teil der ohnehin kleinen Alternativbewegung und sind in den letzten Jahren in den Hintergrund getreten. Alternativökonomie und Kommunebewegung setzen, wie andere Alternativen auch, auf die Kraft des Experiments und des Vorlebens. Sie sind der Überzeugung, dass es notwendig ist, Macht, Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt in unserer Gesellschaft grundsätzlich in Frage zu stellen, anstatt zu glauben, sie für die eigenen Zwecke gestaltbar und nutzbar machen zu können. An ihrer Existenz kann beispielhaft aufgezeigt werden, dass Möglichkeiten einer anderen, demokratischeren und ebenbürtigen Lebens- und Arbeitswelt nicht nur in den Köpfen und Büchern von Menschen zu finden sind, die sich theoretisch damit auseinandersetzen, sondern dass sie in Ansätzen hier und heute lebbar sind. Vielleicht gelingt es solchen Zusammenschlüssen wirklich, "ihre Anschauungen in neue Kreise zu tragen"19, wie es Anarchisten für die neu entstehenden Bewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg erhofft hatten, die die wirtschaftlichen und sozialen Mängel der Gesellschaft erkannt hatten und deren Absicht es war, strukturelle Veränderungen einzuleiten.

Mit zunehmender Globalisierung der warentauschenden Gesellschaft werden Konzepte notwendig, die nicht reduziert bleiben auf die Lenkung kleiner lokaler Betriebe durch die Produzenten selbst oder auf die Existenz eines wie auch immer bezeichneten neuen "alternativen " oder genossenschaftlichen Wirtschaftssektors, der gleichzeitig den Gesetzen der Warengesellschaft unterstellt ist, wenn nicht ein entsprechendes globales, politisches und ökonomisches System angestrebt wird und Handlungsstrategien zu seiner Verwirklichung eingeläutet werden. Was Karl-Heinz Roth 1980 geschrieben hat, gilt selbstverständlich auch heute: "Die Selbstverwirklichung ist ein sozialer Prozess, sie verlangt die soziale Aneignung und Umverteilung des gesamten gesellschaftlichen Reichtums". Darauf wollen die jetzt tätigen AkteurInnen freilich nicht warten. Sie haben ein Fenster in eine herrschaftsfreie Welt aufgetan. Sie setzen auf die Kraft des Vorlebens und des Experiments, stellen sich den Herausforderungen der GrenzgängerInnen und versuchen, aus Träumen Leben werden zu lassen. Und das, obwohl heute utopisches Denken nicht gerade hoch im Kurs steht.

Für die Rolle der Wissenschaftler im Zusammenhang mit diesem Prozess gilt, was Pierre Bourdieu über deren Aufgabe innerhalb der neuen sozialen Bewegungen sagte: "Es gilt, neue Kommunikationsformen zwischen Forschern und politisch Aktiven bzw. eine neue Arbeitsteilung zwischen ihnen zu erfinden."20

Gisela Notz - Jg. 1942, Dr. phil., Sozialwissenschaftlerin, Arbeitsschwerpunkte: Arbeitsmarkt-, Sozialpolitik- und Familienforschung, Alternative Ökonomie, Historische Frauenforschung.

1 Gisela Notz, Klaus-Dieter Heß, Ulrich Buchholz, Theo Bühler (Hrsg.): Selbstverwaltung in der Wirtschaft. Alte Illusion oder neue Hoffnung? Köln 1991, S. 21-22.

2 Rainer Duhm: Manege oder Parkett? - Die Rolle deutscher Gewerkschaften bei Betriebsübernahmen, in: ebenda, S. 73-86.

3 Vgl. Ulrich Briefs (Hg.): Anders produzieren - anders arbeiten - anders leben, Köln 1986; auch Mike Cooley: Produkte für das Leben statt Waffen für den Tod - Arbeitnehmerstrategien für eine andere Produktion. Das Beispiel Lucas Aerospace, Reinbeck 1982.

4 Siehe Gisela Notz u. a., 1991, S. 188-215; vgl. Martine Racki (Hg.): Frauen(t)raum im Männerraum. Selbstverwaltung aus Frauensicht, München 1988.

5 Vgl. Gisela Notz: Familien. Lebensformen zwischen Tradition und Utopie, Neu Ulm 2003.

6 Gisela Notz: "Ein Fenster in eine herrschaftsfreie Welt". Das Demokratiepotenzial von Alternativökonomie, selbstverwalteten Betrieben und kommunitären Lebens- und Arbeitsformen - ein Positionsbeitrag, in: Wolfgang G. Weber, Pier-Paolo Pasqualoni, Christian Burtscher (Hg.): Wirtschaft, Demokratie und soziale Verantwortung, Göttingen 2004, S. 268 f.

7 Vgl. Anneliese Braun: Arbeit ohne Emanzipation und Emanzipation ohne Arbeit? Berlin 1998.

8 Vgl. Frank Heider, Beate Hock, Hans-Werner Seitz: Kontinuität oder Transformation? Zur Entwicklung selbstverwalteter Betriebe. Eine empirische Studie, Giessen 1997.

9 Gisela Notz u. a., 1991, S. 14.

10 Sibylle Plogstedt: Frauenbetriebe: Vom Kollektiv zur Einzelunternehmerin, Königstein 2006, S. 221 f.

11 Vgl. Dieter Bensmann: Gemeinsame Ökonomie, in: Das Kommunebuch, Göttingen 1996, S. 196-230; siehe Gisela Notz: Kann "gemeinwesenorientierte Arbeit" einen Beitrag für eine ebenbürtige Neuverteilung von Arbeit leisten? in: Katrin Andruschow (Hg.): Ganze Arbeit, Feministische Spurensuche in der Non-ProfitÖkonomie, Berlin 2001, S. 135 ff.

12 Vgl. Kommune Niederkaufungen: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod! "Grundsatzpapier ", Hamburg 1983.

13 Gisela Notz: Die neuen Freiwilligen, Neu-Ulm 1999, S. 129 ff.

14 "Ganzheitliche Arbeitsvollzüge " heißt, ihre Tätigkeiten umfassen Planung, Ausführung und Kontrolle des Produktionsprozesses.

15 Vgl. Bensmann, 1996, S. 196 ff.

16 Karl Marx: Ökonomischphilosophische Manuskripte 1844, MEW Bd. 40, S. 552 ff.

17 Rolf Schwendter: Zum Geleit, in: Das Kommunebuch, 1996, S. 292 f.

18 Gisela Notz: Gibt es ein richtiges Leben im falschen? - Frauen in der Selbstverwaltungswirtschaft, in Gisela Notz u.a. 1991, S. 188 ff.

19 Siehe Rudolf Rocker: Zur Betrachtung der Lage in Deutschland. Die Möglichkeit einer freiheitlichen Bewegung, New York- London-Stockholm 1947.

20 Pierre Bourdieu: Gegenfeuer, Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz 1998, S. 65.

in: UTOPIE kreativ, H. 209 (März 2008), S. 253-259