Ohne Bahnsteigkarte auf den Bahnsteig?

Interview über das deutsche Streikrecht mit Prof. Dr. Wolfgang Däubler, Arbeitsrechtler an der Universität Bremen

Die Fluglotsen als die Müllmänner des 21. Jahrhunderts, die ihr Druckpotential auch für andere einsetzen – das fällt aus den eingefahrenen Denkschemata völlig raus.

Marxistische Blätter:
Nach einer Statistik des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) erlebte Deutschland im vergangenen Jahr einen „Streikboom“; 580 000 Arbeitstage fielen wegen Streiks aus. Das gab es zuletzt 1993. Dennoch liegt Deutschland im internationalen Vergleich weit unten. Neben anderen Faktoren wie dem oft zitierten „Sozialpartnerschafts-Modell“ – könnte das auch auf die Verfasstheit des Streikrechts in Deutschland zurückzuführen sein?

Wolfgang Däubler:
Der „Boom“ ist von ganz großer Bescheidenheit. Wenn jeder Beschäftigte einen einzigen Tag im Jahr streikt, führt dies zu einem Ausfall von rund 35 Mio Arbeitstagen. Dass man in Deutschland selten streikt, mag auch daran liegen, dass nach der Rechtsprechung bislang ausschließlich ein von der Gewerkschaft geführter Streik um einen besseren Tarifvertrag rechtmäßig ist. Entscheidend scheint es mir nicht zu sein. Letztes Jahr hat das Bundesarbeitsgericht den Streik um einen Tarifsozialplan gebilligt und auch Forderungen wie drei Jahre Entgeltfortzahlung unbeanstandet gelassen. Ich habe in verschiedenen Betriebsräteseminaren über diese Rechtsprechung berichtet und freundliches Kopfnicken geerntet. Obwohl die Teilnehmer meist mit Personalabbau und anderen Betriebsänderungen konfrontiert sind, ist noch keiner auf die Idee verfallen, sich diese neue Rechtsprechung selbst zunutze zu machen. Historisch Interessierte seien auf das Kontrollratsgesetz Nr. 22 verwiesen, das Betriebsräte ohne jede sozialpartnerschaftliche Bindung und Friedenspflicht vorsah: Die Praxis änderte sich dadurch nicht. Bis 1981 galt dieses Gesetz übrigens für die beim NDR Beschäftigten – auch hier war nicht von Arbeitskampf und Streik für mehr Rechte die Rede. Die Sozialpartnerschaft bleibt in den Köpfen, auch wenn der rechtliche Rahmen ein ganz anderer ist.

MB:
Obwohl also Deutschland traditionell „streikarm“ ist, gab es nicht wenige Vorstöße von Unternehmerseite, das Streikrecht einzuschränken. Wie ist die Reaktion des Gesetzgebers und der Gerichte darauf zu beurteilen?

Däubler:
Sicher gilt auch für Unternehmer die Devise: „Angriff ist die beste Verteidigung“. Ich las vor vielen Jahren mal eine Studie des japanischen Arbeitgeberverbands, wo dringend die Deregulierung des japanischen Arbeitsrechts gefordert wurde. Dabei ist dieses nach deutschen Maßstäben eine höchst armselige Angelegenheit. Schließlich ist es doch besser, die Arbeitnehmer in der Defensive zu haben („Wir verteidigen das Streikrecht und die Mitbestimmung“), statt mit Forderungen nach Veränderungen des Status quo konfrontiert zu werden. Der Gesetzgeber ist ein einziges Mal aktiv geworden und hat den § 116 AFG geschaffen, der heute als § 146 SGB III weiter gilt – die Arbeitgeber haben aber die dadurch eröffneten Möglichkeiten nie ausgespielt, weil der Ausgang eines dann drohenden Großkonflikts auch aus ihrer Sicht völlig ungewiss war. Also blieb es im Grunde beim Status quo. Der GdL-Streik brachte einige Überraschungen mit den Streikverboten durch die Arbeitsgerichte Nürnberg und Chemnitz. Was hier auf subjektiver Ebene gelaufen ist, kann ich nicht beurteilen. Klar war, dass es sich bei den Lokführerstreiks um eine Aktion handelte, die den üblichen politischen Rahmen nicht beachtete, weil eine kleine Organisation nicht nur den Arbeitgeber, sondern auch die ungleich größere DGB-Gewerkschaft Transnet herausforderte. Da muss man sich gut kennen und entschlossen zusammenstehen, wenn man nicht unter die Räder kommen will.

MB:
Die gesetzlichen Bestimmungen und die Gerichtsurteile sind die eine Seite. Welche praktische Wirkung hat die fortschreitende Aushöhlung des Flächentarifs, die Aufsplitterung der Solidarbasis für gewerkschaftliches Handeln, auch die Möglichkeit, Leiharbeiter als Streikbrecher einzusetzen?

Däubler:
Das alles ist wahrscheinlich viel wichtiger als der rechtliche Rahmen. Wenn geringere Lohnkosten zum Wettbewerbsfaktor werden, wenn man durch Unterschreitung des Flächentarifs den eigenen Standort und damit die eigenen Arbeitsplätze real oder scheinbar sichert, besteht Solidarität nur noch im „eigenen“ Unternehmen. Hätte man eine Perspektive, wie man in einigen Jahren dasselbe Problem besser angehen könnte, wäre die Situation eine andere. Aber die soziale Gestaltung der Globalisierung ist nur ein schönes Schlagwort, das bisher kaum in konkrete Handlungsformen umgesetzt wurde. Der Unterschied zur ersten Hälfte der siebziger Jahre liegt m. E. in erster Linie darin, dass viele damals so etwas wie eine Perspektive hatten, wie wenig realistisch sie auch gewesen sein mag. Heute fehlt sie, was man den großen Gewerkschaften und manchen Theoretikern durchaus zum Vorwurf machen kann. Und dann rechnet man eben mit dem Einsatz von Leiharbeitnehmern und verzichtet lieber von vorne herein auf einen Streik als die Eingänge zu besetzen, was ja vielleicht rechtlich nicht so ganz in Ordnung wäre.

MB:
In Karlsruhe ist eine Verfassungsbeschwerde von Bahnchef Mehdorn anhängig, womit er das Streikrecht der Lokführer beschneiden lassen will. Träfe das nur die GdL oder hätte es Bedeutung für die ganze Gewerkschaftsbewegung?

Däubler:
Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts wirkt immer über den Einzelfall hinaus. Würde der GdL der Streik verboten, wäre auch Transnet betroffen. Nur droht etwas Derartiges nicht wirklich: Bisher hat noch keiner ein durchschlagendes Argument gefunden, weshalb Lokführer nicht das Recht haben sollten, für höhere Vergütungen zu streiken. Wahrscheinlich wird die Aktion in Karlsruhe in einigen Monaten sang- und klanglos abgeblasen, ohne dass die Öffentlichkeit viel darüber erfährt.

MB:
Kann die öffentliche Meinung Einfluss auf das Streikgeschehen haben? Gegenüber den als „Monsterstreik“ hingestellten Aktionen der Lokführer gab es zwar nur eine sehr zurückhaltende Solidarisierung aus anderen Gewerkschaften, aber ein auffälliges und anhaltendes Verständnis in der Bevölkerung.

Däubler:
Was die öffentliche Meinung angeht, so hat die GdL mit der Wahl des Zeitpunkts Glück gehabt. Seit Hartz IV sind viele Menschen der Auffassung, es sei legitim geworden, nicht nur immer „ja“ zu sagen, sondern sich auch mal zu wehren. Warum sollten die Lokführer nicht mit ihren französischen Kollegen gleichziehen? Ein weiteres Element war, dass es sich um eine kleine Organisation handelte, die nicht ins Bild von den „gefährlichen Halbrevoluzzern“ passte: Die IG Metall würde da auf mehr Skepsis treffen. Bemerkenswert war schließlich, dass zahlreiche Arbeitsrechtsprofessoren die gerichtlichen Streikverbote deutlich kritisierten – und zwar auch solche Kollegen, die sonst eher im Ruf stehen, der Arbeitgeberseite so weit als möglich entgegen zu kommen. Mit den Streikverboten der Arbeitsgerichte Nürnberg und Chemnitz war eine Grenze überschritten, wo sich viele sagten: Gar kein Streik mehr, das wäre dann doch überzogen, das wäre eine andere Republik. Dass sich die DGB-Gewerkschaften nicht besonders aus dem Fenster lehnten, hat mich nicht überrascht. Schließlich war man auf Konkurrenz im eigenen Lager noch nie gut zu sprechen. So schwach und nachgiebig man der Arbeitgeberseite gegenüber auch ist – wenn es um abweichende Auffassungen im eigenen Lager oder gar um selbstständige Organisationen geht, fühlt man sich stark genug, um den Abweichlern eins auf den Hut zu geben. Da sind alle schönen Argumente von der „lernenden Organisation“ und der wechselseitigen Toleranz total vergessen.

MB:
Wie scharf ist noch die Waffe des Streiks? Die meisten Arbeitskämpfe sind seit geraumer Zeit schon Abwehrkämpfe gegen soziale Verschlechterungen und Arbeitsplatzabbau, enden mit unzureichenden Kompromissen oder gar Niederlagen. Gegenüber dem Gewinnstreben und den Renditemargen der Kapitalseite werden kaum noch echte Verbesserungen durchgesetzt.

Däubler:
Auch mit Streiks kann man keine Wunder bewirken. An den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen lässt sich nichts ändern, solange man nur auf nationaler Ebene kämpft. Die Situation wird erst dann anders, wenn man gleichzeitig in verschiedenen Ländern multinationale Unternehmen unter Druck setzt, die ihrerseits wegen ihrer starken Stellung auf dem Markt eine Erhöhung der Lohnkosten ohne Nachteile hinnehmen können. Das ist aber bisher noch kaum passiert, weil eben die grenzüberschreitende Interessenvertretung noch immer in den Kinderschuhen steckt. Die „unzureichenden Kompromisse“ wurden außerdem meist von den DGB-Gewerkschaften eingefahren. Einzelne Gruppen wie die Piloten, die Fluglotsen, die Ärzte und zuletzt die Lokführer können durchaus auch unter den heutigen Bedingungen echte Verbesserungen durchsetzen und haben dies auch getan. Die Einheitsgewerkschaft hätte sich viel mehr um diese Kollegen kümmern müssen, so wie sie dies früher bei den Müllwerkern und den Straßenbahnern getan hat. Aber das hätte ein Umdenken vorausgesetzt und das fällt nun mal schwer. Die Fluglotsen als die Müllmänner des 21. Jahrhunderts, die ihr Druckpotential auch für andere einsetzen – das fällt aus den eingefahrenen Denkschemata völlig raus.

MB:
Spielt die Verteidigung des Streikrechts eine aktive Rolle in der Politik der Gewerkschaften? Muss sie das? In Deutschland gilt der politische Streik als verboten. Deshalb gibt es im Unterschied etwa zu Frankreich und Italien keine Streiks gegen unsoziale „Reformen“ wie z. B. Rente mit 67. Wird sich die Defensiv-Situation der Gewerkschaften überwinden lassen, wenn sie neben der Wahrnehmung eines politischen Mandats das Recht auf politischen Streik durchsetzen?

Däubler:
Es gibt große Anwaltsbüros der Arbeitgeberseite, wo man sich auf eine Publikationsstrategie fürs kommende Jahr verständigt. Ein bisschen mehr Spielraum beim Kündigungsschutz, ein bisschen weniger Mitbestimmung bei der Arbeitszeit – dafür lassen sich Argumente sammeln und in angesehenen Zeitschriften veröffentlichen. Etwas Vergleichbares machen die großen Gewerkschaften nicht; nur selten wird mal eine Publikation zu einem bestimmten Thema angeregt oder gar in Auftrag gegeben. Auf dieser Ebene tut man wenig zur Verteidigung oder gar zur Ausweitung des Streikrechts.
Im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die Rente mit 67 gab es von Kollegen aus der unteren Ebene allerdings verschiedentlich die Aufforderung, man möge doch als Jurist mal den politischen Streik rechtfertigen. Das kann man selbstverständlich tun; es gibt gute Argumente dafür. Was mir daran nicht gefiel, war die dahinter stehende Haltung: Wenn man drei Rechtsgutachten auf dem Schreibtisch liegen hätte, gewissermaßen den von angesehenen Juristen verfassten Freifahrschein, dann, ja dann würde man den Bahnsteig sogar ohne Bahnsteigkarte betreten. Die Juristen, die man da gerne vorneweg hätte, wären so eine Art Minenhund: Wenn sie hoch gehen, triffts einen ja nicht selbst. Diese Art des Umgangs mit Rechtswissenschaftlern, die der Gewerkschaftsbewegung verbunden sind, ist nicht gerade besonders solidarisch – um es diplomatisch auszudrücken.
Vor einiger Zeit fragte ich mal einen spanischen Kollegen, ob der bevorstehende Generalstreik von einem Tag eigentlich in Spanien rechtmäßig sei. Er war sehr überrascht und meinte, dieses Problem hätte bei ihnen noch niemand aufgeworfen. Ob man davon vielleicht etwas lernen könnte?

Die Fragen stellte Gerd Deumlich

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