Shakespeare und kein Ende

Ein Rezensionsessay

Anzuzeigen sind hier zwei Bücher, die sich beide der geschichtlichen Wahrheit Shakespeares stellen: Ekkehart Krippendorffs Studie über die Komödien und André Müllers Buch über die späten Tragö

I.

In seiner Rede „Zum Schäkespears Tag“ hat der junge Goethe Shakespeares Theater einen „schönen Raritätenkasten“ genannt, „in dem die Geschichte der Welt vor unseren Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt“. Shakespeare, so schreibt er anderen Orts, sei der „Verschwätzer“ der Geheimnisse des Weltgeists. „Shakespeare gesellt sich zum Weltgeist; er durchdringt die Welt wie jener; beiden ist nichts verborgen.“ Der Satz steht in einem Essay mit dem Titel „Shakespeare und kein Ende“. In ihm behauptet Goethe die höchste geschichtliche Wahrheit von Shakespeares Kunst – Wahrheit nicht gegen die Zeit, sondern in der Zeit, aber mit aller Zeit. In diesem Sinn ist Shakespeares Kunst eine Kunst, die „kein Ende“ hat. Sie ist Eigentum aller Zeiten, Völker und Nationen. Sie ist, in der Bedeutung, die Goethe dem Wort gab, Weltliteratur. Zu deren Begriff aber gehört, dass jede Zeit sie neu zu entdecken hat. Die Wahrheit der Kunst liegt nicht auf der Straße wie irgendein gegenständliches Ding. Sie ist auch kein „Datum“ im Sinn des Positivismus. Sie lebt verborgen in den überlieferten Werken. Sie ist erst durch Deutung zu erschließen. Sie ist in jedem Zeitalter neu zu „erwerben“ (Goethes Wort): in der individuellen Lektüre, im Theater, im Film – nicht zuletzt aber auch im gelehrten Diskurs: in der philologischen Interpretation. Auch das Schreiben über Shakespeare hat kein Ende in der Zeit. Anzuzeigen sind hier zwei Bücher, die sich beide, so unterschiedlich sie in Methode und Gehalt auch sind, der geschichtlichen Wahrheit Shakespeares stellen: Ekkehart Krippendorffs Studie über die Komödien und André Müllers Buch über die späten Tragödien.1 Beides sind Werke von „Nicht-Anglisten“, also im fachlichen Sinn Außenseitern – Müller ist vom Beruf her Dramaturg, Krippendorff ist Politologe –, doch sind sie von einer solcher Qualität, dass die Leute vom Fach gut beraten wären, etwas zu tun, was sie gewöhnlich ungern tun: sich bei diesen Nichtfachleuten Rat einzuholen. Denn beide leisten etwas, was die Leute vom Fach (von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen) seit langem nicht mehr geleistet haben: den interpretatorischen Zugriff auf Shakespeares Gesamtwerk. Beide entwickeln Deutungen (oder sagen wir es vorsichtiger: Deutungshypothesen), die Shakespeares Gesamtwerk – seine Formation und Entwicklung – in den Blick rücken. Es ist dies die erste, aber auch die schwerste Aufgabe jeder Beschäftigung mit Shakespeare, die den Namen Forschung verdient.

II.

Krippendorffs Komödienbuch ist die Ergänzung zu einer 1992 erschienenen Studie, die die Historien, Römerdramen und Tragödien untersucht.2 Sie liest diese Dramen als Laboratorium für Variationen zum Thema der Macht. Die Reproduktion der Macht – Machterwerb, Machtausübung, Machtverlust – bildet für Krippendorff den Kern des Politischen. In seiner Deutung legen diese Dramen diesen Kern des Politischen schonungslos frei – stellen zugleich aber die Frage nach einer machtfreien gesellschaftlichen Ordnung, erkunden Kriterien einer Ethik, die solche Ordnung zu ihrer Voraussetzung hat. Das Komödienbuch nun wendet sich jener von Herrschaft freien menschlichen Ordnung zu, die im Bereich der Historien, Römerdramen und Tragödien nicht mehr ist als (oft nur implizit gegebener) utopischer Horizont, Wunschtraum oder Ideal: dem Reich der Freiheit. Shakespeares Komödien sind ihm „Spiele aus dem Reich der Freiheit“ – wobei der Begriff aus Schillers Essay „Über naive und sentimentalische Dichtung“ gewonnen wird.3 „Ganz anders“, schreibt er, als die Historien, Römerdramen und Tragödien, „die unsere realpolitische Welt, wie sie ist und geworden ist, auf der Bühne erstehen lassen“, handeln die Komödien „von einer anderen, einer von den Lasten und Alpträumen der Vergangenheit befreiten, einer möglichen Welt“ (13). Die Komödien bilden „die Gegenwelt zur Welt der Politik“. In ihnen bringt Shakespeare „positive Entwürfe wünschbarer politischer Gemeinschaft auf die Bühne“, „Auswege aus einer sich blind reproduzierenden schlechten Wirklichkeit“. Shakespeare ist nicht nur Kenner und Kritiker der Mechanismen der Herrschaft, er ist auch „ein hilfreicher Dichter des anderen, des besseren Möglichen“ (10). Diese überaus fruchtbare und im Kern überzeugende These wird nun nicht nur programmatisch behauptet, sondern in zehn Modellinterpretationen (zwischen Der Widerspenstigen Zähmung und Maß für Maß) ausgeführt. Die Stärke des Buchs, ja sein Faszinosum liegt in diesen Interpretationen. Sie sind, mit wenigen Ausnahmen (worüber noch gesprochen werden muss), genau am Text orientiert, sind voller brillanter Einfälle und origineller Ideen, so dass auch auf scheinbar „ausinterpretrierte“ Texte (wie es z. B. der Kaufmann von Venedig ist) ein neues Licht geworfen wird. Fern jeder Fachsprache, ja ausgesprochen dialogisch geschrieben, zieht es die Leser in ein Gespräch ein, provoziert Zustimmung wie Widerspruch – Beispiel für die auch diskursiv formulierte Erkenntnis, dass es „endgültige“ Interpretationen solcher Kunst nicht gibt und auch nicht geben kann. Krippendorffs Buch ist so auch nicht nur fürs Fach relevant (um es offen zu sagen: in seinem Ideenreichtum beschämt es den allergrößten Teil der heutigen Shakespeareforschung), es gehört auch in die Hände von Lehrern, Schülern, vor allem aber von Leuten des Theaters. Es könnte dazu beitragen, die Schäden auszubessern, die eine selbstgefällige, werkfremde Regie dem heutigen Theater zufügt. Das Zentrum dieser Interpretationen bildet, wie könnte es bei Shakespeares Komödien auch anders sein, die Liebesthematik: „die Liebe, der Eros“ als „das große Komödienthema“ (26). Nicht nur ist Shakespeare der „Erfinder der romantischen Liebe“ (27), er stellt Liebe in allen Formen dar, auch Freundschaft, Treue, Solidarität als Gestalten der Liebe. „Nichts ist vielförmiger als die Liebe“, dichtete schon Vergil (Hirtengedichte) – Shakespeares Komödien liefern die Anschauung dazu. Die Liebe, so Krippendorff, ist die regenerierende Kraft einer heillosen, im Kampf um Macht sich zerstörenden Welt4 – in diesem Sinn sei Mozart Shakespeare an die Seite zu stellen. Wie die Mozartoper atme auch die Shakespearekomödie den „Geist großer Utopie“ (75). Krippendorffs Buch fügt sich so in einen Zusammenhang neuerer Forschungen, in deren Mittelpunkt der „Komplex Liebe“ steht: paradigmatisch dafür die in dieser Zeitschrift rezensierte Arbeit Dieter Borchmeyers zur Oper Mozarts.5 Ja, Krippendorff ist eine willkommene Ergänzung zu Borchmeyers Buch – wurde in diesem etwas verengend von der „Entdeckung der Liebe“ in Mozarts Opern gesprochen, so ist jetzt zu sehen, dass diese Entdeckung bereits in den Komödien Shakespeares erfolgt.6 Krippendorffs Studie ist bewusst und programmatisch als Deutung vom Standpunkt der Jetztzeit (Walter Benjamin) angelegt. „Shakespeare ist dann aktuell, wenn wir ihn in unsere Gegenwart holen“ (252). Krippendorff weist jede historisierende Deutung zurück, ja er bekundet ein deutliches Desinteresse am politischen und sozialgeschichtlichen Kontext der Dramen. Eine solche Orientierung dürfte für die Mehrzahl heutiger Leser plausibel sein. Sie hat aber auch ihre Gefahren. Sicher: jede Deutung, die sich an ein zeitgenössisches Publikum wendet, wird die Frage der Bedeutungsaktualität eines Werks in den Mittelpunkt ihrer Erörterung stellen (dies gilt nicht nur für die Arbeit auf dem Theater, wo ein solches Verfahren selbstverständlich ist, das gilt auch für die philologische Analyse, folgt sie mehr als musealen Interessen). Wenn sie dabei aber die elementare historische Bedeutung eines Texts ignoriert, läuft sie Gefahr, einen solchen Text falsch zu verstehen – die Aktualisierung ist dann auf Sand gebaut. Krippendorff entgeht dieser Gefahr nicht immer. Ich gebe ein Beispiel. So wird Lucio, eine nicht unbedeutende Nebenfigur in Maß für Maß, als „Mann aus dem Volke“ bezeichnet, Angehöriger der „Unterwelt der Bordelle, Gefängnisse und der Kleinkriminalität“. In ihr herrsche ein „Geist der Subversion, an dem jede Herrschaft (...) scheitert“ (266). Sie bilde die „Perspektive der Welt von unten“ (268) in Shakespeares Stück. So weit so gut, und eine rein aktualisierende Deutung mag sich damit zufrieden geben. Sie kollidiert freilich mit dem historischen Sinn, den die Figur in Shakespeares Text besitzt. Lucio ist kein Plebejer. Er gehört eindeutig der Gruppe der „gentlemen“ zu, die in diesem Stück zahlreich vertreten sind. In der Namensliste ist er als „Lucio, a fantastic“ verzeichnet, gefolgt von „Two other like Gentlemen“. Die Schlegel/Tieck-Ausgabe übersetzt: „Lucio, ein Wüstling/ Zwei junge Edelleute, Freunde des Lucio“ (Wolf Graf Baudissin). „Gentleman“ wird in allen mir bekannten deutschen Übersetzungen (seit Wieland) mit „Edelmann“ (auch „Herr“ im Sinne eines gehobenen Standes) wiedergegeben. Die Wortbedeutung ist soziologisch eindeutig. Die als „gentlemen“ bezeichneten Personen sind Angehörige des von den Tudors entmachteten, parasitär gewordenen, meist verarmten Adels, die Shakespeares Stücke in vielen Variationen bevölkern (von Junker Bleichenwang bis Sir John Falstaff, seinem prominentesten Vertreter). Die Charakterisierung Lucios als „fantastic“ weist diesen zudem als nicht sonderlich appetitliches, dabei leicht komisches Exemplar seiner Klasse aus.7 In jedem Fall: er ist ein heruntergekommener Adliger – nicht mehr. Die Tatsache, dass einer mit Huren verkehrt, dabei irgendwie auch ein „gutes Herz“ hat (was Krippendorff ihm attestiert), macht noch keinen subversiven Plebejer. Urheber dieser irrtümlichen Lesart ist offenkundig der große Michel Foucault, auf dessen Überwachen und Strafen sich Krippendorff hier beruft. Foucault aber ist, wenn es um historische Genauigkeit geht, nicht immer der beste Ratgeber. Hier verleitet er den sonst so genau lesenden Politologen zur ungenauen Lektüre – eine ganz konventionelle, geschichtlich verfahrende Philologie hätte ihn davor bewahrt. Ein solcher Irrtum freilich mindert den Wert dieses verdienstvollen Buchs nicht. Zudem: welche Interpretation will von sich sagen, dass sie frei von Irrtum ist? Doch muss man den Irrtum kennen – bei einer weiteren Auflage, die dieses Buch sicher haben wird, sollte er zu korrigieren sein. Aus dem kritischen Gespräch, das der hier Schreibende mit dem Buch Krippendorffs an vielen Stellen führt (und mit dem Autor persönlich führen möchte), sei hier noch eine Überlegung zum Gesamtkonzept vorgetragen. Die Grundthese des Buchs stellt die Welt der Komödien in einen Gegensatz zur Welt der Politik – jener Welt, von der die Tragödien, Historien und Römerdramen handeln. Die Komödien sind, wir hörten es, Spiele aus dem Reich der Freiheit – sie spielen in einer Gegenwelt zur Welt des Politischen, die dann wohl als Reich der Notwendigkeit und Unfreiheit verstanden werden muss. Mir scheint, hier wird ein Gegensatz aufgebaut, der dem Shakespearedrama fremd ist (er wird auch in Einzelanalysen, die Krippendorff vorträgt, unterlaufen). Shakespeares Dramen, Tragödien wie Komödien, lautet meine Gegenthese, spielen in der einen menschlich-geschichtlichen Welt – so sehr diese Welt immer wieder durch Fabel und Schauplatz verfremdet wird. Die Konflikte dieser Welt, die sich in den tragischen Dramen (und dazu zählen die Römerdramen nicht weniger als die Historien) in Katastrophen entladen, werden in den komischen Dramen im Sinne eines Reichs der Freiheit, sie werden mithin utopisch gelöst. Hier treffe ich mich durchaus mit der Krippendorffschen Grundthese: Es geht in den Komödien um das Reich der Freiheit, ja – aber diese spielen nicht in einem solchen Reich, sie erspielen es erst in ihrem Handlungsvollzug. Das Reich der Freiheit ist das Ergebnis der Komödien, es ist nicht ihr Ausgangspunkt. Ihre Handlungen spielen durchaus in der „Mitte der Dinge“, entwickeln sich oft aus Konflikten, die auch die Konflikte der Tragödien sind. Ja, gelegentlich changieren sie zwischen komischem und tragischem Spiel (der Kaufmann von Venedig wird zu Recht auch als Tragödie gespielt). Selbst die „leichten“, sogenannten „heiteren“ Komödien sind in der Regel schwarz grundiert, Gefahren, Bedrohungen, Katastrophen spielen in sie hinein. In den Spätstücken dann wird solche Dramaturgie explizit: Tragödie und Komödie werden zu einer neuen Einheit „montiert“ (man denke an das Wintermärchen), wobei die Komödie das Medium ist, in dem der tragische Konflikt sich löst, das die Wunden der Geschichte heilt.

III.

Müllers Buch zu den späten Tragödien scheint im Verfahren wie in seinen Ergebnissen der Studie Krippendorffs völlig entgegengesetzt. „Shakespeare verstehen“ heißt für Müller vor allem und zunächst, Shakespeare historisch, ja historisierend verstehen: aus dem Kontext des Zeitalters, in dem er schrieb und lebte. Ein solches historisierendes Verstehen, das ist Müllers Auffassung, ist die einzig sichere Basis für jedes aktuelle Verstehen, dessen Notwendigkeit Müller als Mann des Theaters nie bestreiten würde. Das Ziel Müllers ist sicher auch: Shakespeare heute verstehen, doch ist dies dem historischen Verstehen nachgeordnet. Mit Krippendorff teilt Müller die Intention auf den „ganzen Shakespeare“. So ergänzt das Buch zu den späten Tragödien die früher erschienenen Untersuchungen Müllers8 in einer Weise, dass – in einem paradigmatischen Sinn selbstverständlich – von einem interpretatorischen Zugriff auf das Gesamtwerk gesprochen werden kann: Interpretiert werden Komödien, Historien, Tragödien, Römerdramen (die zu Recht Müller zu den späten Tragödien zählt). Müllers interpretatorische These ist so einfach wie überzeugend. Er sieht Shakespeare in seiner politisch-weltanschaulichen wie ästhetischen Grundorientierung als Verteidiger des elisabethanischen Zeitalters, Anhänger der von den Tudors, vor allem Elisabeth I. vertretenen Politik.9 Diese war auf einem Kompromiss, unter der Hegemonie der Krone, mit dem aufstrebenden Bürgertum gegründet, hatte den Adel entmachtet, der England in einem dreißigjährigen Bürgerkrieg in eine Wüstenei verwandelt hatte, hielt im europäischen Raum die katholische Reaktion in Schach. Zu Recht und im Einklang mit der großen materialistischen Geschichtsforschung begreift Müller den Absolutismus unter Elisabeth als enorm zivilisatorische, weltgeschichtlich progressive Macht. Shakespeare, schreibt Müller lapidar und nicht ohne provokative Absicht, war „ein Ja-Sager, eine Stütze der bestehenden Ordnung, ein Sänger des Absolutismus, (...) ein Bewunderer der Politik des Klassenausgleichs (...). Und er hatte für das alles einen einleuchtenden Grund: er sah keine gesellschaftliche Ordnung der letzten tausend Jahre, die besser als die seiner Zeit gewesen wäre“ (15). Shakespeare war „ein Volksdichter, eben weil er ein Anhänger des Absolutismus war“ (12).10 So deutet Müller die Dramen der elisabethanischen Zeit (deren Schwerpunkt die Historien und Komödien bilden) als versteckte politische Parabeln der elisabethanischen Gesellschaft, ihrer Genese, ihrer Gefährdung, ihres historischen Sinns, entdeckt in ihren Fabel- und Figurenkonstellationen die drei gesellschaftlichen Hauptkräfte des Zeitalters: Krone, Bürgertum und Adel. Die beiden Bände markieren einen geschichtlichen Einschnitt und einen Einschnitt in Shakespeares Werk. Behandelt der erste Band im Schwerpunkt die Dramen der elisabethanischen Zeit, so der zweite die Dramen, die nach Elisabeths Tod, in der jakobitischen Phase des englischen Absolutismus geschrieben wurden. Es ist dies die Phase seiner Krise und seines Niedergangs, und die in diesem Zeitraum entstandenen Dramen spiegeln diesen Prozess – die „späten Tragödien“, wie Müller sie nennt: Othello, Troilus, Lear, Macbeth, Antonius, Coriolan, Timon (Hamlet zählt Müller nicht dazu). 1603, nach Elisabeths Tod, war Jakob (James) I. aus dem Hause Stuart englischer König geworden. Das „Goldene Zeitalter“ des englischen Absolutismus war damit an sein Ende gekommen. In seiner Regierungszeit zerbricht der Konsens von Krone und Bürgertum, auf dem dieses Zeitalter beruhte. Die absolutistische Ordnung zerfällt. Am Ende seiner Regierung – 1625 – steht die Englische Revolution vor der Tür. Jakobs Sohn Karl I. wird 1649 von Cromwell enthauptet – das erste gekrönte Haupt, das der bürgerlichen Revolution zum Opfer fiel. Shakespeares späte Tragödien, so Müllers These, verarbeiten diesen Zerfall. Ihre Düsterkeit, Verzweiflung, ihr Pessimismus sind Ausdruck der aus ihm resultierenden Resignation und Verzweiflung ihres Verfassers. Dieser sah, dass „sein Land und sein Volk von nun an einem Abgrund entgegen (gingen): den Wirrnissen und Blutbädern eines neuen Bürgerkriegs“. „Er sah nur den Untergang all dessen, was er geschätzt, bewundert und geliebt hatte. Wenn er überhaupt weiterschrieb – wie sollten die neuen Stücke keine Tragödien sein?“ (57 f.). In gleicher Weise, vielleicht stärker noch liest Müller diese Dramen als politische Parabeln, in deren Fabeln und Figuren sich das neue Zeitalter wiederfindet. Ihr geheimer Protagonist ist Jakob: ein unfähiger, charakterschwacher und ideologisch verwirrter König, in den Widerspruch verstrickt, die Politik seiner Vorgängerin fortsetzen zu wollen bei totaler Unfähigkeit, dies auch zu tun. Getragen wird Müllers Deutung des Shakespearewerks von einer theater- und ästhetiktheoretischen Prämisse. Sie betrifft Shakespeares Kunstauffassung. Dessen „Leidenschaft“ war es, „die genaue Beschaffenheit seines Landes und seiner Nation seinen dramatischen Dichtungen zugrundezulegen und sie einen Spiegel und eine abgekürzte Chronik des Zeitalters sein zu lassen, wie er es Hamlet formulieren ließ“ (55). Die Konsequenz, mit der Müller Shakespeares Dramen als abgekürzte Chroniken ihres Zeitalters liest, ist bestechend. Sie ist jedoch eine Stärke und eine Schwäche zugleich. Was sie zutage fördert, ist viel: neue Einsichten in die Werkentwicklung und die Neudeutung bekanntester Texte, die Klärung von Detail- wie von Grundsatzfragen. Die These etwa, dass die völlig neuartigen, selbstständigen Frauengestalten Shakespeares auf das prägende Beispiel Elisabeths zurückzuführen sind, besitzt große Plausibilität (zumal, wenn man dies als einen, nicht als einzigen Faktor in Rechnung stellt). Für all das aber zahlt Müller einen hohen Preis. Sein Verfahren ist das einer bewussten methodischen Reduktion. Die hochgradige Bedeutungskomplexität, die das Shakespearesche Drama ganz unstrittig besitzt, wird auf einen – den für Müller den zentralen – Faktor reduziert: die historische, politisch-soziale Konstellation, die dieses Drama verarbeitet und die es ausdrückt. Enger noch: es ist die Konstellation der nationalen Geschichte, nicht mehr. Alle anderen Dimensionen des Werks – nicht nur die seiner „Schönheit“ (61) – fallen weg. Hinzu kommt, dass dieses „Ausdrücken“ auf die Relation einer einfachen Entsprechung beschränkt wird. Immer wieder heißt es, dass eine bestimmte Figur – in einem sehr direkten Sinn – für eine historische Tatsache, eine Person, soziale Gruppe oder Klasse „steht“ (Lear steht für Jakob, Cordelia für den katholischen Adel, Goneril/Regan für das Bürgertum, der Narr für Shakespeare selbst). Damit aber ergeben sich Probleme. Große Kunst verarbeitet solche Relationen selten so direkt – meist in der Form von Vermittlungen und Transformationen. Manche dieser Deutungen leuchten ein (die Hamlet-Interpretation des ersten Bandes gehört sicher zum Originellsten und Besten, was man zu Hamlet lesen kann). Andere überzeugen weniger, manche wirken schlicht forciert (dass in der Gestalt Othellos Jakob mit Desdemona den elisabethanischen Absolutismus erwürgt, ist von einer unfreiwilligen Komik nicht frei). Die Gefahr eines solchen Verfahrens liegt nicht zuletzt in der Verführung zu seiner schematischen Verwendung. Der hohen Individualität des Shakespearewerks – dass jedes seiner Stücke ein ästhetisches Individuum ist – wird es kaum gerecht. Positiv wiederum: die Interpretationen sind im höchsten Maß text-, vor allem fabelorientiert. Die Werke werden in einer Weise genau gelesen, dass selbst jemand, der Müllers Grundthese nicht teilt, diese Bücher mit Genuss und Gewinn lesen kann. Zudem sind sie in einem Deutsch verfaßt, dass in der literaturwissenschaftlichen Literatur höchst selten ist: einfach, klar, gediegen, jedem an Shakespeare Interessierten verständlich. In summa: ich möchte Müllers Bücher als das verstehen, was sie nach dem Titel des ersten Bandes auch sein wollten: Lesarten zu Shakespeare, höchst originelle, gedankenreiche, anregende, auch provozierende Lesarten; Lesarten, die konkurrierend oder dialogisch neben anderen stehen – nicht aber mehr. Der Titelwechsel hat diesen Büchern nicht gutgetan (ich weiß: er geht auf Peter Hacks zurück, aber die größten Geister können irren). Er widerspricht ihrer Anlage und ihrem Charakter. Er suggeriert einen Anspruch, den sie im Grunde gar nicht stellen: dass hiermit das „Geheimnis“ der Shakespeareschen Dramen endgültig gelüftet sei, kein Restbestand an Ungeklärtem (was ja der Ort eines Geheimnisses ist) zurückbleibe. Es gibt aber in der Kunst keine „Geheimnisse“, die irgend ein kluger Kopf für alle Zeit aus der Welt schafft, die Nachkommenden also nur noch diese eine Interpretation zu rezipieren hätten. Was es gibt, sind sich abwechselnde – im besten Fall sich ergänzende – Lesarten; Lesarten aus einer Zeit und in einer Zeit. Wir sagten es: für jede Zeit ist Shakespeare neu zu entdecken.

IV.

Von dem Mann, der als Verfasser der Dramen Shakespeares überliefert ist, wissen wir wenig – nichts, was diese Dramen in einem substantiellen Sinn erhellen könnte. Nicht einmal die Frage der Verfasserschaft ist endgültig geklärt. Was wir jedoch haben, ist die Evidenz der Werke. Zudem verfügen wir über gesichertes und solides Wissen über die Zeit, in der sie entstanden – die frühe Neuzeit: die Geschichte Englands, Europas und die damals beginnende Geschichte der Welt. In diesen Kontext gestellt, läßt Müllers Grundthese, der ich im Kern zustimme, noch einige Erweiterungen zu. Offenkundig ist der Bruch im Charakter der Werkformation, der in etwa mit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, dem Ende des elisabethanischen Zeitalters, zusammenfällt. Waren die elisabethanischen Dramen Shakespeares durch die Komödie (als optimistische Kunstform) und die Historie (Dramen, die die Geschichte Englands als politische Parabeln behandeln) bestimmt, so werden diese durch zutiefst tragische Dramen: die „späten Tragödien“ abgelöst. dass diese aus einer fundamentalen Krisenerfahrung hervorgehen, dass hier ein Bruch in der Werkformation vorliegt, ist angesichts der Texte evident – so evident wie die Tatsache, dass dieser Bruch mit dem Jahrhundertwechsel zusammenfällt. Die Krise aber, die in diesem Bruch der Werkentwicklung ihren Ausdruck findet, geht, das ist meine ergänzende These, über die Geschichte Englands hinaus.11 Die nationale Geschichte bildet nur eine Dimension des Shakespearewerks. Von Beginn an und zunehmend in seiner Entwicklung besitzt dieses Werk einen transnationalen, in Marx‘ Begriffssinn kosmopolitischen Horizont. D. h., es ist bezogen auf europäische und Weltgeschichte. Die Zeit nun, in die der Niedergang des englischen Absolutismus fiel, war die Zeit einer Krise von formationsgeschichtlicher Bedeutung. Die erste Epoche der neuzeitlichen Geschichte ging mit dem sich wendenden Jahrhundert zuende. „Krise“ bezeichnet also einen formationsgeschichtlichen Übergang, der mit dem Protestantismus als der „Revolution Nr. 1 der Bourgeoisie“ (Friedrich Engels)12 beginnt und auf die Englische Revolution zuläuft.13 In diesen Umbruch gehört an zentraler Stelle der englische Absolutismus, und in diesem Umbruch steht Shakespeares Werk. Shakespeare war zwar Parteigänger dieses Absolutismus, das ist gewiss – aber unter einem Vorbehalt, den er mit anderen großen Humanisten seiner Epoche teilt (sein Vorbild war, wie ich vermute, Erasmus von Rotterdam): dass der Absolutismus eine Ordnung des Friedens, der Gerechtigkeit und des Wohlstands zu garantieren vermag. Unter Elisabeth war diese Bedingung gegeben, unter Jakob nicht mehr. Damit aber wendet sich Shakespeare von dem monarchischen Prinzip ab. Die Krise, die seine Tragödien ab Hamlet (den ich hier hinzunehmen würde) verarbeiten, ist also eine dreifache: die der nationalen Geschichte, die der europäischen und beginnenden Weltgeschichte und die eines ethisch-politischen Ordnungsprinzips. Folgerichtig wendet sich Shakespeares Drama nach 1599 (dem Erscheinungsjahr von Heinrich V.) mit einer späten Ausnahme von der nationalen Geschichte ab. Die Geschichte Roms tritt an die Stelle Englands als Modell geschichtlicher Erkundung. Hier wie in den anderen späten Tragödien wird Geschichte als Trümmerfeld sichtbar – als Schlachtbank, auf der das Glück der Völker und Individuen geopfert wird (Hegels Metapher), ewig offene, nie sich schließende Wunde. Nehmen wir diese Dramen beim Wort, so scheint ihr letztes Wort die totale Geschichtsskepsis – Resignation, Verzweiflung, geschichtlicher Nihilimus zu sein. Der geschichtliche Nihilismus blieb nicht das letzte Wort, das Shakespeare gesprochen hat. Sein Werk schließt mit Dramen ganz anderen Charakters: Perikles (1607/089), Cymbeline (1609/10), Wintermärchen und Sturm (1611), Shakespeares „last plays“. In ihnen kehrt, verwandelt, der Geist der Komödie zurück. Tragödie und Komödie werden jetzt zusammengedacht. Die Tragödie wird, ganz im Schillerschen Sinn, durch die Komödie aufgelöst. Man kann sie Tragikomödien nennen: eine tragische Handlung findet im Medium der Komödie ihre Lösung. In ihnen kehrt damit auch der Geist der Utopie zurück. Sie markieren also einen erneuten Aufbruch: die Suche nach einer neuen, möglichen Welt. Im Anschluss an Krippendorff lässt sich sagen: sie sind Erkundungen einer Suche, deren Ziel das Reich der Freiheit ist. Bereits ihr Spielort ist im strengen Sinn utopisch: Sie spielen in fernen Ländern, auf Inseln, in irrealen Orten (wo Böhmen am Meer liegen kann), in Nirgendorten, die überall sein können – und haben doch in der realen Welt ihr festes Fundament. Das Personal des ganzen Shakespeare ist hier wieder versammelt: König, Adel, Bürger und Volk: der Boden der wirklichen Welt wird nicht verlassen. Lesen wir die Dramen des Spätwerks – von Hamlet bis Wintermärchen und Sturm als Einheit, so finden wir ein Extrem disparatester Widersprüche vor, wie sie kein anderes Werk der dramatischen Weltliteratur besitzt. Den Extremen von Leid, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Resignation steht höchstes Glück, stehen Liebe, Regeneration und Verwandlung gegenüber. Die Perspektive dieses Dramas ist die der Komödie: einer Veränderung und utopischen Transformation. Sie sind Experimenta Mundi im Medium des theatralischen Spiels. Sie zeigen, wie die Welt ist und wie sie anders werden und sich erneuern kann: das Theater als Laboratorium der Weltsuche, Erkundung des Möglichen im Wirklichen. Dabei verlieren sie nie den Boden unter den Füßen. Exemplarisch dafür: das offene Ende des Sturm. 1 Ekkehart Krippendorff, Shakespeares Komödien. Spiele aus dem Reich der Freiheit. Kulturverlag Kadmos Berlin 2007; André Müller sen., Shakespeare verstehen. Das Geheimnis seiner späten Tragödien. Eulenspiegel Verlag. Berlin 2004. Zitatnachweise im fortlaufenden Text. 2 Ekkehart Krippendorff, Politik in Shakespeares Dramen. Historien, Römerdramen, Tragödien. Surkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1992. 3 Die Komödie, heißt es dort, geht einem „Ziel“ entgegen, das, „wenn sie es erreichte, alle Tragödie überflüssig und unmöglich machen“ würde. Ziel der Komödie sei „einerlei dem Höchsten, wonach der Mensch zu ringen hat“. 4 „Liebe und Liebesfähigkeit“, schreibt auch Müller in dem hier rezensierten Werk, sind für Shakespeare die „höchsten Werte überhaupt“, sie sind auch „höchster Maßstab“ politischen Handelns (36). 5 Dieter Borchmeyer, Mozart oder Die Entdeckung der Liebe, Frankfurt a.M. 2005. Vgl. dazu Thomas Metscher, Mozart und die Geschichte der Liebe. Gedanken zu einem Buch. Marxistische Blätter, 6/2006, 96-104. 6 Im strengen Sinn wird die „Entdeckung“ der Liebe von der gesamten Weltliteratur geleistet – erst ihre zentrale Rolle und utopische Dimension ist neuzeitlich. In diesem Rahmen dann kommen Shakespeare wie Mozart als Schlüsselfiguren ins Spiel. Zugleich aber soll hier erinnert sein, dass der Gedanke der Liebe als schöpferischer, regenerierender, ja utopischer Kraft gerade auch in der deutschen Klassik hervortritt. So nimmt in Goethes Faust II Eros praktisch die Stelle Gott-Vaters ein, wenn es am Ende der Klassischen Walpurgisnacht heißt: „So herrsche denn Eros, der alles begonnen!“ (vgl. dazu meine Ausführungen in Welttheater und Geschichtsprozess. Zu Goethes Faust. Frankfurt a.M. 2003, 306-16). Und viel zu wenig ist es bekannt, dass die Freude des Schlusssatzes der Neunten Symphonie Beethovens, die Herrschaft der Liebe meint. 7 „A fantastic“ meint nach einer zeitgenössischen Quelle einen „leichtsinnigen, modebewussten und eingebildeten Galan, der Wert auf seine Kleider und seine gekräuselte Haartracht legt, sich Geliebte hält und Schulden macht, (...) ehrlos und unverschämt ist“ (Thomas Overbury, Characters, 1614; zit. nach Measure for Measure, Englisch-deutsche Studienausgabe. München 1977, 30 f.) Wieland übersetzt „Libertiner“, Baudissin „Wüstling“, die englisch-deutsche Studienausgabe schlägt „Geck“ oder „Stutzer“ vor. Keine dieser Übersetzungen trifft den vollen Inhalt des Worts – ein genaues Äquivalent im Deutschen gibt es nicht. 8 Müllers erstes Buch mit Analysen zu Shakespeare erschien unter dem Titel Lesarten zu Shakespeare 1969 im Aufbau-Verlag. Eine erweiterte Ausgabe kam 1980 im Reclam Verlag, Leipzig mit verändertem Titel heraus. Aus den Lesarten zu Shakespeare wurde Shakespeare ohne Geheimnis. 9 Es handelt sich im strengen Sinn um eine interpretatorische Hypothese. Von den Meinungen und Absichten des Verfassers der unter dem Namen Shakespeare überlieferten Dramen wissen wir nichts. Es gibt nur die Evidenz der Texte. Nach diesem Kriterium freilich besitzt Müllers Hypothese eine große Plausibilität. 10 Die Orientierungslosigkeit der herrschenden Shakespeareforschung zeigt sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass die Bedeutung des Absolutismus für Shakespeare bis heute nicht angemessen erkannt wird. Stattdessen kommen Phantasien in Mode, die Shakespeare als „katholischen Dissidenten“, also Vertreter der ultrarektionären Adelsfraktion, des Papsts und der spanischen Partei ausgeben – eine Auffassung, der jede Grundlage im weltanschaulich-ideologischen Profil der Texte mangelt. 11 Hierzu und zu Folgendem verweise ich auf meinen Versuch: Shakespeare und die Renaissance. Hamburg 1995, insbes. Shakespeare: Humanismus und plebejische Tradition, 289-310. 12 Vgl. MEW 4, 464-66. 13 Die frühen bürgerlichen Revolutionen waren, wie Marx in der Neuen Rheinischen Zeitung vom 15. Dezember 1848 schrieb, „Revolutionen europäischen Stils“, die „Proklamation der politischen Ordnung für die neue europäische Gesellschaft“.

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