Globale Soziale Rechte und Lebensformen

Eine ganze Reihe von Fragen, die sich für emanzipatorische Politik ohnehin stellen, werden unter der Überschrift Globale Soziale Rechte neu aufgegriffen und - mit Glück - pointiert noch einmal zugespitzt. Glücklich in diesem Sinne sind wir als Redaktion Fantômas, über den vor einigen Monaten erschienenen Beitrag von Iris Nowak in der ak. (1) Denn der greift ein Thema auf, das Linke normalerweise gerne auch mal hintanstellen: Was wären im Vergleich zu den alltäglich wie medial vorherrschenden Idealbildern eines fleißig-flexiblen und zweigeschlechtlich fixierten Konsumentendaseins praktikable alternative Formen eines "guten Lebens"? In welchem Verhältnis stünden solche Alternativen zur Forderung nach Globalen Sozialen Rechten? Genauer: Wie könnten letztere so gefasst werden, dass sie nicht einmal mehr dem vermeintlich "Privaten" im linken Begriffssortiment die Rolle des Ladenhüters zuweisen? Glück aber ist bekanntlich nicht dasselbe wie Harmonie, was wir hier in zwei Schritten bekräftigen: erstens mit dem gleich folgenden Beitrag, der die von Iris Nowak gestellten Fragen aufgreift, um auf sie eine eigene Antwort zu geben und zweitens, indem Iris ihrerseits auf diese Antwort antwortet. Ein Gespräch in zwei Monologen also. Alles klar? Na denn.

 

Das Gute Leben ist unverfügbar

Von Stefanie Graefe

Iris, in deinem ak-Beitrag problematisierst du den Zusammenhang von Globalen Sozialen Rechten (GSR) mit der Frage, "wer wen liebt und was diese Liebe bedeutet [...], wer mit wem zusammenwohnen möchte und wie man Kinder am besten aufzieht" - kurz: die Frage nach dem Zusammenhang von einer Politik der Rechte mit einer "Politik der Lebensformen". Dieser Zusammenhang wird, so deine Kritik, in der aktuellen Diskussion um GSR vernachlässigt. Dabei sei da, wo von Rechten die Rede ist, immer auch normative Setzungen im Spiel. Wo allerdings "hierzu keine explizite Auseinandersetzung stattfindet, werden hegemoniale Vorstellungen gestärkt." So trage beispielsweise das Schweigen über Geschlechterverhältnisse seit jeher dazu bei, deren hierarchische Struktur zu stabilisieren. Die in bürgerlichen Gesellschaften konstitutive Trennung zwischen öffentlichem und privatem Leben werde so einmal mehr reproduziert. Das verschärfe sich noch vor dem Hintergrund einer neoliberalen Freiheitsideologie, die eine Vielfalt an Lebensformen nicht nur zulässt, sondern sogar propagiert - jedenfalls solange sich diese marktförmig verwerten lassen: "Jedes Verständnis von sozialen Rechten, das das Verhältnis zwischen öffentlich und privat (à) nicht als explizit politische Frage thematisiert", falle hinter den neoliberalen Freiheitsbegriff zurück. Denn: "Lebenswerte demokratisch gestaltete Lebensformen sind keine selbstverständliche Folge von Rechten innerhalb der Lohnarbeit oder dem Recht auf Grundeinkommen." Du forderst deshalb eine "Verknüpfung von einer Politik der Lebensformen mit gesellschaftlichen Produktions- und Gestaltungsprozessen" und damit auch eine Überarbeitung des Konzeptes der GSR. Dieses sollte die Einsichten und Erfahrungen derer in den Vordergrund stellen, "die alltägliche Bedürfnisbefriedigung heute in prekären Verhältnissen bereits organisieren und absichern."

Ich halte die Frage, die du in deinem Beitrag aufwirfst, für ausgesprochen zentral und deine Überlegungen dazu für sehr anregend. Sie fordern uns dazu auf, den Blick zu öffnen auf das,was auch in emanzipatorischen Konzepten immer noch und immer wieder aus dem Blickfeld fällt, obwohl und gerade weil es für jede Vorstellung einer "anderen Gesellschaft" grundlegend ist: die Organisation des alltäglichen sozialen Lebens und die darin implizierten Machtverhältnisse. Ich bin also absolut mit direiner Meinung, dass eine Diskussion dieses Zusammenhangseinen auch für das Projekt der GSR neuralgischen Punkt berührt. Letztlich stellst du mit deiner Kritik ja nicht mehr und nicht weniger als den emanzipatorischen Gehalt dieses Projektes in Frage. Doch auch wenn ich davon ausgehe, dass die von dir gestellten Fragen tatsächlich zentral sind, komme ich bei dem Versuch, sie zu beantworten, doch zu anderen Schlussfolgerungen als du.

Norm ist nicht gleich Norm

Dass in jeder Artikulation von Recht implizite Normsetzungen über ein "gutes" oder gar "lebenswertes" Leben enthalten sind, ist richtig. So enthält beispielsweise das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit die Vorstellung, dass es nicht wünschenswert sein kann, dass Menschen gefoltert werden - bzw. noch weitergehend die Vorstellung, dass ein unverletzter Körperzustand subjektiv und objektiv wünschenswerter ist als ein gewaltsam verletzter. Gleichzeitig aber sagt das Menschenrecht auf Unversehrtheit nichts darüber aus, was der durch das Recht vor Folter geschützte Mensch mit seiner Unversehrtheit nun tut oder lässt. Es schreibt ihm gerade nicht vor, wie er mit seinem Körper, seinen Empfindungen, seinem Selbstbild (also all dem, was im Akt der Folter zum Objekt der Gewalt wird) anstellen soll. Die Norm der Unversehrtheit präskribiert insofern kein "gutes Leben", sondern eine Bedingung dafür, dass Menschen ihr Leben nach ihren je eigenen Vorstellungen gestalten können.

Selbstverständlich ist in jeder Artikulation von Recht Normativität im Spiel. Doch das allein besagt noch nicht viel. Es kommt darauf an, die Normativität genauer zu bestimmen: Ist sie präskriptiv (schreibt sie uns vor, was sein soll)? Oder deskriptiv (beschreibt sie, welche Bedingungen notwendig sind, um eine freie Entfaltung von Lebensformen überhaupt erst möglich zu machen)? Natürlich ist die Unterscheidung zwischen präskriptiv und deskriptiv im Konkreten niemals einfach. Das heißt aber nicht, dass sie falsch wäre.

Emanzipatorische Rechtskonzepte wie das der GSR sind notwendig deskriptiv: Sie stellen fest, welche Bedingungen Menschen an der freien Entfaltung ihrer selbst als Einzelne wie als Menge der Vielen hindern (etwa, wenn Menschen aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit der Zugang zu Rechten und Ressourcen verbaut ist oder wenn Menschen durch Prekarisierung soziale Teilhabe unmöglich wird). Präskriptiv sollten sie jedoch so wenig wie möglich sein (etwa in dem Sinne, dass sie festlegen, was eine Person mit der globalen Bewegungsfreiheit am besten anstellt). Warum? Weil jede positive Bestimmung des "richtigen Lebens" oder der "guten Lebensführung" notwendig die Ausschließung der - wie auch immer definierten - weniger richtigen Lebensformen einschließt. Darauf verweist sprachlich übrigens kaum ein Begriff so eindeutig wie der des "lebenswerten Lebens" - nicht zufällig dient er seit mehr als hundert Jahren u.a. für die Legitimation staatlicher Euthanasie in ihren verschiedenen historischen Erscheinungsformen.

Eine Schließung von Möglichkeiten aber kann nicht Sinn und Zweck einer emanzipatorischen Konzeption von Rechten sein. Die Frage lautet daher nicht: Wie können wir GSR so artikulieren, dass sie besonders "lebenswerte Lebensformen" schützen, fördern oder propagieren? Sondern: Welche Bedingungen sind es eigentlich, die Menschen aller Geschlechter und Herkünfte am ehesten in die Lage versetzen, ihre Lebensformen selbstbestimmt zu gestalten und zu verändern?

Recht ist nicht gleich Bedürfnis

Eine der im Konzept der GSR in diesem Sinne artikulierten basics ist das Recht auf bedingungslose Existenzsicherung aller Menschen in allen Lebensphasen. Solange z.B. Frauen mit kleinen Kindern zuhause bleiben, weil das Geld für die Familie sonst nicht reicht, solange sind sie in der Wahl ihrer Lebensführung absolut nicht frei. Das Recht auf unbeschränkten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie Bildung und Gesundheitsversorgung schließt deshalb notwendig auch das Recht auf garantierte und gesellschaftlich organisierte Kinderbetreuung und Pflege ein. Nicht erst die Durchsetzung, schon die gesellschaftliche Anerkennung dieser Rechte würde bereits einiges in Bewegung bringen, auch in Bezug auf die hegemonialen Vorstellungen von Mutterschaft, Weiblichkeit, Männlichkeit, aber auch Schönheit, Gesundheit, Attraktivität. Die allgemeine Anerkenntnis der Tatsache, dass eine umfassende Existenzsicherung unabhängig vom Erwerbseinkommen ein Recht ist, das allen Menschen ausnahmslos zusteht (also auch allen Kindern, Alten, Versehrten), wäre - gemessen an den derzeitigen Realitäten - ein enormer emanzipatorischer Fortschritt. Selbstverständlich wird dann im Konkreten darum gerungen werden müssen, was "umfassend" genau bedeutet. Das vorab bis ins Letzte auszuformulieren, kann nicht Aufgabe einer Konzeption sozialer Rechte sein. Die hat vielmehr die Aufgabe, einen gesellschaftlichen Bewusstseinsraum zu öffnen, in dem die dann möglichen politischen Auseinandersetzungen unter Beteiligung möglichst Vieler geführt werden können.

Kein Recht der Welt kann garantieren, dass sich die Subjekte dieses Rechts dann in einem wie auch immer definierten Sinn für "alternativere" Lebensformen entscheiden. Kein Kollektiv kann darüber entscheiden, was die ihm zugehörigen Individuen glücklich macht. Anders als du, Iris, glaube ich, dass zwischen Rechten und Bedürfnissen deshalb bei allen Querverbindungen eine unhintergehbare qualitative Differenz vorliegt, die - glücklicherweise! - nicht qua Verknüpfung des einen mit dem anderen behoben werden kann und sollte. Es gibt kein Recht darauf, dass mein Bedürfnis nach Liebe befriedigt wird. Wohl aber eines darauf, dass meine Existenz nicht davon abhängt, in dieser oder jener Form der Lebensgemeinschaft zu leben. Genau darin liegt aus meiner Sicht der Gewinn des Projektes GSR: dass es den Fokus darauf, "was gut und richtig ist" verschiebt zum Fokus darauf, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit alle für sich und gemeinsam tatsächlich ihr jeweiliges Glück suchen, finden, verlieren und wieder neu suchen können. Was den Neoliberalismus und die von ihm propagierte Freiheit angeht, brauchen die GSR aus meiner Sicht übrigens keine Sorge zu haben, nicht "auf Augenhöhe" zu sein. Freiheit im Neoliberalismus zeigt sich nur vordergründig als Vielfalt, tatsächlich ist sie ausgesprochen eindimensional konzipiert: Frei ist, was und wer sich verwerten lässt. Die Forderung nach bedingungsloser Existenzsicherung, nicht, weil der Markt dann besser funktioniert oder weil der "soziale Frieden" ansonsten bedroht ist, sondern schlicht und einfach, weil wir Menschen sind und uns dieses Recht unabhängig vom aktuellen Stand der Konjunktur unzweifelhaft zusteht, stellt genau diese einzige Kernaussage des neoliberalen Programms vom Kopf auf die Füße. Sie zielt zudem keineswegs bloß auf den Bereich der Lohnarbeit oder der Öffentlichkeit, sondern stellt ganz im Gegenteil diese Aufteilung in Erwerbs- und Reproduktionssphäre in Frage. Es handelt sich deshalb um eine sehr viel radikalere Infragestellung des neoliberalen Freiheitsbegriffs als jede allgemeine Anrufung alternativer Lebensformen - die ist als solche nämlich in der Tat äußerst kompatibel mit dem neoliberalen Individualisierungsmythos.

Politik ist nicht gleich "gutes Leben"

Wenn ich auf der Differenz zwischen Recht und Bedürfnis und damit letztlich auch auf der zwischen Politik und gutem Leben bestehe - heißt das, dass ich doch einen Raum des Privaten denke, der vom Politischen zu trennen wäre? Aus meiner Sicht ist die Frage so nicht richtig gestellt. Die Teilung zwischen privat und politisch im uns bekannten Sinne ist gesellschaftlich hervorgebracht und damit wie so vieles historisch kontingent, und das heißt, dass sie umstritten, hinterfragbar und veränderbar ist. Allein dass sie das ist, zeigt schon ihren eminent politischen Charakter. Die Aussage "das Private ist politisch" ist deshalb ebenso offenkundig richtig wie die Tatsache, dass Schimmel weiß sind.

Wohl aber gehe ich davon aus, dass es Dimensionen des Menschlichen gibt, die sich einer Verrechtlichung sperren. Dimensionen, die nicht exakt definierbar und folglich auch auf keine imaginäre Privatsphäre reduzierbar sind. Keiner sozialen Instanz gegenüber möchte ich begründungspflichtig sein, warum und wie ich jemanden liebe oder mit wem ich wohne. Kein Kollektiv kann für mich entscheiden, ob ich meine demenzkranke Mutter zu Hause pflege oder in öffentliche Pflege gebe. Damit behaupte ich nicht, meine eigenen diesbezüglichen Entscheidungen wären "ganz privat" oder gar "unpolitisch". Sie sind von gesellschaftlichen Bedingungen und politischen Entscheidungen beeinflusst, sie haben ihrerseits (allerdings im Ausmaß weit weniger) politische Effekte. Es handelt sich trotzdem um Entscheidungen, die mich in meiner existenziellen Singularität betreffen und sind insofern in letzter Instanz für jedes Kollektiv unverfügbar.

Die unscharfe Wendung "existenzielle Singularität" reflektiert nicht, dass es diesen Bereich des Unverfügbaren nicht gibt, sondern bestätigt ganz im Gegenteil seine Existenz. Das heißt: Gerade weil ich ihn nicht exakt definieren kann, gerade deshalb kann und darf er nicht normativ festgeschrieben werden. Denn dadurch würde er als das, was er ist, ausgelöscht.

Und: Dieser "Bereich des Unverfügbaren" ist nichts, was die einen mehr und die anderen weniger (die Frauen mehr als die Männer, die Prekären mehr als die Abgesicherten, die MigrantInnen mehr als die Sesshaften) "haben". Er ist Teil jeder menschlichen Existenz. Was es aber gibt, sind vielfältige Machtverhältnisse, die diesen Bereich strukturieren und die einen mehr in der Sorge um ihn binden (und darin zugleich gesellschaftlich abwerten) als die anderen. Soziale Rechte zu fordern, heißt, die Reichweite dieser äußerst wirksamen Machtstrukturen im Bereich des vermeintlich Privaten weitestmöglich begrenzen zu wollen; etwa, indem der Zugang zu tragfähigen öffentlichen Strukturen der Versorgung, Erziehung und Pflege als Grundrecht aller und jeder/s Einzelnen "normiert" wird - nicht aber, den einen mehr Definitionsmacht als den anderen zuzuweisen.

Entwirft man GSR als paradoxerweise ebenso utopische (gemessen an den realen Verhältnissen) wie der Struktur nach "bescheidene" Artikulation emanzipatorischer Politik, also als radikale Mindeststandards gesellschaftlicher Gerechtigkeit, dann betont dieser Entwurf - und das ist aus meiner Sicht sein größter Gewinn - die im Begriff des Unverfügbaren nur besonders deutlich sichtbar werdende Aporie (ohne fälschlicherweise zu behaupten, sie ließe sich auflösen): Leben ist letztlich nicht normierbar - und eben dies muss normativ bejaht werden. Aus einer solchen Perspektive erscheint das "gute Leben" als veränderliches Schema, als Umriss am Horizont, aber es sperrt sich jeder exakten Kategorisierung und damit erst recht einer (der Struktur nach) positiven binären Entscheidung. Folglich präskribieren GSR kein "lebenswertes Leben", sondern artikulieren die Bedingungen dafür, dass Menschen ihr alltägliches Leben möglichst selbstbestimmt gestalten und - in welcher Form auch immer - zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung machen. Eine solche Konzeption von GSR kommt also der Aufforderung gerade nicht nach, die Konzeption der Rechte mit der Politik der Lebensform zu verknüpfen, sondern hält beide Dimensionen emanzipatorischer Praxis auf Augenhöhe in einer Art solidarischen Distanz zueinander.

Stefanie Graefe ist Redakteurin von Fantômas. Zuletzt erschien von ihr: "Autonomie am Lebensende? Biopolitik, Ökonomisierung und die Debatte um Sterbehilfe", Frankfurt/Main 2007 (Campus).

Anmerkung:
1) Iris Nowak: Recht auf Bedürfnisbefriedigung - durch wen? Globale soziale Rechte und alternative Lebensformen, ak 524


Emanzipation lebt nicht vom Recht allein

Von Iris Nowak

Eine tatsächliche Durchsetzung akzeptabler sozialer Standards auf Weltniveau liegt derzeit in weiter Ferne. Weder haben soziale Bewegungen die Stärke, diese durchzusetzen, noch wüssten wir annähernd, wie die Instanz aussähe, die solche Rechte global garantieren könnte. In diesem Sinne enthält die Forderung nach Globalen Sozialen Rechten (GSR) ein utopisches Moment, weil sie von der Gleichheit aller Menschen auf Erden spricht, diese für denkbar hält und einfordert. Gleichzeitig liegt der Reiz der GSR-Forderung darin, dass diese utopische Vorstellung, dieses Denken einer anderen Welt in Begriffen formuliert wird, die keineswegs einer anderen fernen Welt entstammen. Was es bedeutet, ein Recht zu haben oder es nicht zu haben, lässt sich an vielen Beispielen leicht nachvollziehbar verdeutlichen.

GSR zwischen Utopie und Realpolitik

Die Forderung nach Globalen sozialen Rechten bezieht ihre Energie gerade aus diesem Doppelcharakter; daraus, dass sie sich der Eindeutigkeit entzieht (ist sie utopisch oder realpolitisch gemeint?). Vermittelt werden die utopische Ebene und die Ebene real erfahrbarer Rechte in der GSR-Diskussion durch den Hinweis darauf, dass GSR nicht einfach von einer staatlichen Instanz gegeben, sondern im Zuge von Aneignungspraxen sozialer Bewegungen verwirklicht werden.

In meinem Artikel, auf den der vorstehende Text von Stefanie Graefe sich bezieht, diskutierte ich wichtige Leerstellen der Diskussion über GSR. Fragt man nach dem Zusammenhang von GSR und alternativen Lebensformen, fällt zunächst einmal auf, dass es in GSR-Diskussionen selten um den Bereich des Lebens geht, der gemeinhin mit "Lebensform" überschrieben wird. Wer wie mit wem lebt, wer darin Verantwortung für die Sorge um jene übernimmt, die zu diesem Zusammenleben nicht in gleichen Maße wie andere beitragen können, gleichermaßen aber von ihm abhängig sind, ist darin selten Thema. Die Organisation der menschlichen Reproduktion müsste, so meine These, ein Ausgangspunkt der GSR-Diskussion sein; die laufende GSR-Diskussion neigt jedoch dazu (obwohl sie in vielerlei Hinsicht aus den neuen Verhältnissen und neuen Politikformen, in denen wir leben und handeln, hervorgeht), sich auf den klassischen Begriff von Arbeit (= Lohnarbeit) und damit auf einen eingeschränkten Politikbegriff zu beziehen.

Die genannte Kritik lässt sich beispielhaft an den Diskussionen der Frankfurter Initiative zu Globalen sozialen Rechten nachvollziehen. (1) Das Sympathische und Weiterführende an den Veröffentlichungen dieser Initiative ist, dass sie Widersprüche linker bzw. emanzipatorischer Politik benennen, ohne hierfür zugleich fertige Handlungskonzepte zu präsentieren. So beschreiben sie beispielsweise den nicht ohne weiteres auflösbaren Konflikt zwischen der Forderung von MigrantInnen nach Recht auf Bewegungsfreiheit und den Sorgen von einheimischen Arbeitenden und Gewerkschaften, dass dadurch die hiesigen Sozialstandards immer weiter nach unten schrauben würden.

Leerstellen: Sorgearbeit und Geschlechterverhältnisse

Auf dieselbe Weise aber hätte in den Frankfurter Texten der Konflikt um un- und unterbezahlte Sorgearbeit, um die Abwertung von lebenserhaltenden und -entwickelnden Tätigkeiten gegenüber solchen, die hochprofitabel Lebensmittel und -bedingungen produzieren und deren Verwobenheit mit Geschlechterverhältnissen benannt werden können. Es hätte der Widerspruch beschrieben werden können, dass in der Verteilung dieser Tätigkeiten ein wesentliches Gerechtigkeitsproblem für die zukünftige Gestaltung von Gesellschaft liegt. Diese Umverteilung ist eine Voraussetzung für eine "bedingungslose Existenzsicherung aller Menschen in allen Lebensphasen" (was auch Stefanie als basic der GSR benennt), doch will und kann man mit Globalen Sozialen Rechten zugleich nicht vorschreiben, wie diese Verteilung auszusehen hat, weil man dies für einen zu großen Eingriff in die individuelle Lebensgestaltung hält. Man hätte auch benennen können, dass eine Umverteilung dieser Tätigkeiten (und damit auch aller übrigen) eine Auseinandersetzungen mit (eigenen und gesellschaftlichen) Vorstellungen von Mann- und Frausein, von Liebe, Familie und emotionaler Nähe erfordert, dass diese Auseinandersetzung aber nicht oder nur teilweise in der Form von Rechten ausgetragen werden kann. Dies hätte verdeutlicht, dass Rechte nur ein Teil der emanzipatorischen Antwort sind, die wir auf soziale Konflikte finden müssen. Gerade wenn man GSR als umfassende Forderung nach einer allgemeinen Existenzsicherung ernst nimmt, braucht dies eine selbsttätige Reflexion der Grenzen einer Politik der Rechte.

Dass die konkrete Arbeit an der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse eine Leerstelle ist, bedeutet nicht nur, dass hegemoniale Geschlechterverhältnisse aus dem Blick geraten (was an sich schon in Anbetracht umfangreicher feministischer Literatur zum Thema schwer erklärbar ist). Dass die Lebensweise und die konkreten Formen, in denen Bedürfnisbefriedigung organisiert sind, in der Debatte um GSR kaum vorkommen, bedeutet auch, dass die Vermittlung zwischen der (ja zweifellos etwas abstrakten) Forderung nach Rechten und dem Alltagsleben unberücksichtigt bleibt. Die Formulierung, dass es mit Globalen Sozialen Rechten um eine grundlegende Bedürfnisbefriedigung für alle geht, ist übrigens nicht von mir. Vielmehr habe ich diese in zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema als kurze griffige Erklärung gefunden. Deinen Hinweis, Stefanie, auf die Differenz zwischen "Rechten" und "Bedürfnissen" würde ich sehr unterstützen, ich würde dies allerdings auf die Differenz zwischen "Rechten" und "(allgemeiner) Existenzsicherung" erweitern. Aus dieser Differenz ziehe ich in der Folge eine andere Konsequenz als du, was die Diskussion über GSR betrifft: Ich denke, wir brauche neben einer Politik der Rechte auch eine aktive "Politik der Bedürfnisinterpretation" (Nancy Fraser), und den Zusammenhang zwischen beiden sollten wir bewusst gestalten.

Ich wollte mit meinem Artikel keineswegs vorschlagen, dass mit der Politik um GSR eine normative Setzung verbunden sein soll, welche Lebensformen erstrebenswert sein sollen. Da er offenbar aber so verstanden werden konnte, erläutere ich hier, was ich mit der Verknüpfung von GSR und einer Politik der Lebensformen meine. Mir geht es nicht um eine "soziale Instanz", der gegenüber wir "begründungspflichtig" sind. Worum es mir geht, sind kollektive Formen, in denen wir reflektieren, wie wir uns heute mit unserer gesamten Existenz in die gegenwärtigen Verhältnisse einlassen - mitsamt unseren Bedürfnissen, Interessen und Vorlieben. Ich gehe dabei davon aus, dass unsere eigene Lebensweise und unsere Bedürfnisse und Vorlieben von Widersprüchen durchzogen sind, und dass wir an einigen Stellen um die Erweiterung unserer Handlungsfähigkeit kämpfen und uns an anderen - aktiv oder passiv - an die Normen und sozialen Gegebenheiten klaglos einpassen. Daher braucht es Räume, in denen wir uns hierüber auseinandersetzen, um auf diese Weise zu verstehen, wo unsere Lebensweisen, Selbst- und Weltbilder eigentlich zu den Vorstellungen von einer anderen Welt passen und wo sie dazu im Widerspruch stehen. Offenbar fallen uns heute kaum funktionierende, solidarische oder gar lustvolle Formen ein, in denen eine solche kollektive Auseinandersetzung stattfinden könnte, diese mit politischen Diskussionen verbunden werden könnte und in denen wir ohne normative Setzungen auskommen. Nichtsdestotrotz sollten wir weiterhin danach suchen, denn wir haben nicht die Wahl, ob wir uns in die Politik der Bedürfnisinterpretation einmischen oder nicht. Wir leben in ihr, sie findet täglich in unserem Leben statt und erhält Stoff z.B. durch Fernsehreihen, die einfühlsam den emotionalen Konflikt erwachsener Kinder schildern, die sich ihren pflegebedürftigen Eltern zuwenden, aber auch durch Kämpfe ums gesellschaftliche Lohnniveau oder durch die Regelung von Arbeitslosen- und Elterngeld. Nun bestreitet sicher auch Stefanie nicht, dass z.B. die Frage, wie ich Liebe erfahre und ob das eine glücklich machende Angelegenheit ist, auch durch gesellschaftliche Formen der Bedürfnisinterpretationen vermittelt ist, die in meinem Denken und Fühlen und ebenso wie indem der Menschen meiner Umgebung eine Rolle spielen. Bleibt also die Frage, warum ich die Menschen, die gegenwärtig die GSR-Diskussion vorantreiben, nicht aus der Pflicht lassen will, dieseDimension politischer Auseinandersetzungen aufzugreifen.

Rechte als Ergebnisse sozialer Kämpfe

Letztlich schließt mein Vorschlag an die in Stefanies Beitrag skizzierte Perspektive an und er unterscheidet sich zugleich von ihr. Auch ich gehe davon aus, dass linke Politik Räume bzw. einen "gesellschaftlichen Bewusstseinsraum" schaffen muss, in denen alle "möglichen politischen Auseinandersetzungen unter Beteiligung möglichst Vieler" geführt werden. Jedoch erscheinen in diesem Beitrag Globale Soziale Rechte als "Voraussetzung" für solche Räume; der Kampf um sie sei ein Kampf um die Bedingungen, unter denen solche Räume entstehen können und Menschen selbstbestimmt ihr Leben gestalten. Ich lese dies zum einen als ein Vorher-Nachher - im Sinne von: Wir führen erst einmal GSR ein, und daran anschließend diskutieren wir über unsere Vorstellungen und Praxen, in denen es um ein gutes Leben geht. Zum anderen wird hier eine Grenzziehung zwischen gesellschaftlich und individuell vorgenommen: Gesellschaftlich stellen wir Bedingungen her, in denen der/die Einzelne das Leben individuell gestaltet.

Mir reicht die Vorstellung von Recht als Instanz, die Bedingungen schafft nicht aus, um die Bedeutung von Recht für emanzipatorische Politik zu erfassen. Schließlich gilt ja auch andersherum: Welches Recht existieren wird und welche gesellschaftlichen Bedingungen es produzieren wird, hängt davon ab, welche Bewegungen dieses Recht durchsetzen. Wer fähig ist, die eigenen Interessen in kraftvollen sozialen Bewegungen zu organisieren, welche Themen darin als zentrale gesetzt werden (und welche nicht auftauchen), wer in diesen Bewegungen welche Aufgaben übernimmt, all dies wird die zukünftige Ausgestaltung von Recht und seine Wirkungsweise erheblich mit beeinflussen. Bestimmte soziale Fortschritte und Räume in der Form des Rechts festzuschreiben, wird immer nur eine Ebene der Auseinandersetzung sein. Daneben wird es um spontane Aktionen, um lokal und nur für bestimmte Gruppen ausgehandelte Ergebnisse gehen. Ebenso wird es darum gehen, dass wir immer weiter an unserer eigenen Fähigkeit arbeiten, uns in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einzubringen. Ob es den Bereich des Unverfügbaren, auf den Stefanie besteht, für jede Person gibt oder geben wird, welche Umrisse er haben wird und ob diese Umrisse beweglich bleiben werden, hängt von ökonomischen, politischen und kulturell-ideologischen Aushandlungsprozessen ab. Ich plädiere deshalb dafür, dass wir an einer eigenen Sprache und eigenen sozialen Formen arbeiten, in denen wir uns in diese gesellschaftliche Bedürfnisinterpretation einmischen.

Iris Nowak ist Redakteurin von ak - analyse und kritik. Zuletzt erschient von ihr: "Schreiben über Liebe in der Familie", in: Das Argument 273, Heft 5/6 2007.

Anmerkung:
1) Was sich u.a. an dem Artikel von Hagen Kopp "Globale Soziale Rechte on Tour" in ak - analyse & kritik Nr. 526 nachvollziehen lässt. Auf diesen beziehen sich folgende Ausführungen.

aus: Fantômas - Magazin für linke Debatte und Praxis/Nr. 13/Sommer 08