Von der Harmlosigkeit radikaler Demokratie

Als einen der „einflussreichsten Beiträge zur politischen Theorie der Gegenwart“ bezeichnet Martin Nonhoff in seiner Einleitung den Ansatz von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Als Herausgeber eines Sammelbandes zu deren „politischem Denken“ tut er gut daran, dies zu betonen – ganz von der Hand zu weisen ist es jedoch nicht. 1984 erschien
Hegemony and Socialist
Strategy[1]
und wirbelte mit seinem selbstbewussten „Postmarxism without Apologies“ die
akademische Linke auf (vgl. etwa den Schlagabtausch zwischen den AutorInnen und
Norman Geras in der New Left Review 163, 166, 169). Ihr Einsatzpunkt war
die Dekonstruktion von „Subjekt“, „Gesellschaft“ und aller „Essentialismen“, die
sie in der marxistischen (Theorie-)Tradition zu finden glaubten – auch und
insbesondere dort, wo am Begriff der (ArbeiterInnen-)Klasse als in irgendeiner
Weise privilegierter Akteurin festgehalten wurde. Ausgehend von Saussures
Theorie der Struktur als Differenzsystem und deren poststrukturalistischen
Weiterentwicklungen schlugen sie vor, statt von „Gesellschaft“ zu sprechen, „das
Soziale“ als diskursiven Raum zu begreifen, der als unüberschaubare Vielzahl von
Elementen und deren Beziehungen konstitutiv offen ist. Was sich uns als
„Gesellschaft“, d. h. als gegebene, abgeschlossene, „genähte“ Struktur
präsentiert, ist tatsächlich die stets prekäre, widerrufliche und unvollständige
Formierung dieser Elemente zu bestimmten Diskursen. Herzstück dieser
theoretischen Intervention war eine Umdeutung – oder Neuformulierung – des
Hegemoniebegriffs, der nunmehr eine Praxis bezeichnen sollte, in der bestimmte
Diskursformationen etabliert werden. Dies geschieht dadurch, dass einzelne
Elemente zueinander äquivalent gesetzt werden, und zwar um einen „leeren
Signifikanten“ sowie in Bezug auf eine ebenso äquivalent gesetzte Kette des
„Anderen“. Durch dieses Spiel von Äquivalenz und Differenz werden Knotenpunkte
geschaffen, um die sich Diskurse formieren: nicht a priori festlegbare soziale
Kräfte (wie „Kapital“ und „Arbeit“) stehen einander mit entgegen gesetzten
Interessen ausgestattet im Kampf gegenüber, sondern diese Kräfte entstehen als
politische Identitäten erst in der Auseinandersetzung selbst. Ein Antagonismus,
so die These, bezeichnet somit ein Verhältnis von gegnerischen Identitäten, die
selbst keinerlei positiven Inhalt besitzen, sondern sich allein negativ, im
Gegensatz zu dem als anders konstruierten konstituieren – zugleich werden sie
von diesem anderen jedoch davon abgehalten, eine „volle“, eindeutige Identität
auszubilden.

Diese reichlich abstrakt anmutenden
Überlegungen, die an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden können, müssen
in ihrem politisch-historischen Kontext verstanden werden. Laclaus und Mouffes
Einsatz war, angesichts der sich zu Beginn der 1980er Jahre bereits etablierten
„neuen sozialen Bewegungen“, gegen bestimmte Versuche gerichtet, deren Kämpfe
gegenüber jenen der ArbeiterInnenbewegung abzuwerten. Laclau hatte bereits zuvor
die lateinamerikanischen Kämpfe der 1960er und 70er Jahre und insbesondere die
Entwicklungen in Argentinien unter Peron analysiert und eine Perspektive „national-popularer“
Anrufungen für die Linke favorisiert.[2]
Die theoretische Reflexion dieser Erfahrungen, beeinflusst insbesondere von den
Schriften Louis Althussers und Nicos Poulantzas’, führten Ernesto Laclau und
Chantal Mouffe schließlich zu Positionen, die im Kontext von sich in Auflösung
befindlichen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung sowie der Pluralisierung
identitätspolitischer Auseinandersetzungen eine gewisse Plausibilität
vorzuweisen hatten. Eine privilegierte Position des Proletariats im
antikapitalistischen Kampf anzunehmen, so lautete die Losung, ist nichts weiter
als ein essentialistischer Kurzschluss, Erbe einer historischen Irrtümern
aufsitzenden Tradition von Marx bis Gramsci. Einer „postmarxistischen“ Linken
müsste es vielmehr darum gehen, die potentiell unendliche Menge möglicher
Antagonismen so zu organisieren, dass eine breite Allianz „popularer“
AkteurInnen sich um einen Knotenpunkt, einen „leeren Signifikanten“
konstituiert. Hegemonie und radikale Demokratie war somit nicht nur eine
theoretische Provokation auf hohem Abstraktionsniveau, sondern auch eine
strategische Intervention in real existierende soziale Bewegungen, und besonders
an mit diesen verbundene Intellektuelle gerichtet.

Seither haben Laclau und Mouffe in
regelmäßigen Abständen publizistisch nachgelegt, das eigene Theoriengerüst
weiterentwickelt und im Zuge dessen mit der Essex School gar eine eigene
theoretische Schule begründet. Auch im deutschsprachigen Raum, wo das immer noch
als zentraler Referenzpunkt dienende Hauptwerk unter dem Titel „Hegemonie und
radikale Demokratie“ bereits 1991 im Passagen Verlag erschien, ist die Debatte
nicht abgeebbt. Davon zeugt dieses Buch, das der zweite größere Sammelband zu
diesem Thema in deutscher Sprache ist.[3]
Wovon er allerdings auch zeugt, ist dass die Schulbildung und Integration in den
Mainstream politischer Theorie und Philosophie dem kritischen Impetus eines
Ansatzes zumeist nicht allzu gut tun. Es lässt sich darüber streiten, ob dies
bereits in den Ausgangsthesen von Laclau und Mouffe angelegt war, oder ob erst
die ideologische Waschstraße des internationalen Hochschulbusiness die
postmarxistische Diskurstheorie von ihren zumeist politisch-progressiven
Einsprengseln gesäubert hat. Tatsache ist, dass im hier diskutierten Buch
Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie die Bezüge zu politischen Kämpfen
und sozialen Bewegungen nur mehr in Spurenelementen vorhanden sind.

Womit wir bei einem der
Probleme des Sammelbands angekommen sind. Dieser stellt nach Angaben des
Herausgebers den Anspruch, einen Überblick zu der an Laclau und Mouffe
anschließenden Forschung im deutschsprachigen Raum zu bieten, verzichtet aber
(mit Ausnahme eines Textes) weitgehend darauf, jene Positionen einer kritischen
Überprüfung zu unterziehen, die die theoretische Grundlage der versammelten
Beiträge bilden. Den Anfang machen Laclau und Mouffe selbst, mit zwei sehr
unterschiedlichen Aufsätzen. Laclau stellt in seinem vor zwei Jahren im
englischen Original erschienenen Artikel die Grundzüge seiner eigenen
theoretischen Entwicklung dar, was in dreierlei Hinsicht spannend ist: Erstens
stellt er eine recht konzise Zusammenfassung dar, die auch für Nichteingeweihte
Zusammenhänge seines Denkens nachvollziehbar macht. Zweitens können jene, die
Hegemonie und radikale Demokratie gelesen habe, aber seither auf ein
Laclau-Abonnement auf ihren Leselisten verzichtet haben, die seither vollzogene
Anreicherung und teilweise Veränderung der Theorie nachlesen – dies betrifft
etwa die Integration rhetorischer Konzepte (der sich Andreas Hetzel in seinem
Beitrag genauer widmet) oder den verstärkten Bezug auf die Lacansche
Psychoanalyse. Drittens schließlich – und dies schränkt den ersten Vorzug
wiederum etwas ein – ist für mit seinem Werk Vertraute überaus aufschlussreich,
wie Laclau retrospektiv Argumente aus Hegemonie und radikale Demokratie
präsentiert, welche betont und welche eher unter den Tisch fallen gelassen
werden. Ein nützlicher Text also, der den Rhythmus des Buches vorgibt und
zentrale Kategorien einführt.

Chantal Mouffes Text –
ebenfalls eine Übersetzung eines bereits erschienenen Aufsatzes – ist im
Gegensatz dazu kein Rückblick, sondern ein Ausblick, und zwar in eine „gute
Gesellschaft“ (S. 41). Als solcher steht er repräsentativ für ihre
politisch-theoretische Weiterentwicklung (oder Wende?) in Richtung eines stark
normativen, „radikaldemokratischen“ Republikanismus. Um eine wahrhaft
demokratische Politik zu schaffen, so ihr Argument, bedürfe es der Überführung
antagonistischer Verhältnisse, in denen Identitäten durch die Konstitution von
„uns“ und „den anderen“ entwickelt werden, in einen „agonistischen Pluralismus“.
In diesem werden politische Auseinandersetzungen nicht zwischen Feinden
geführt, die auf ihre gegenseitige Auslöschung aus sind, sondern zwischen
Gegnern, deren Feindseligkeit „domestiziert“ und im Rahmen „demokratischer
Institutionen und Prozesse“ ausgetragen wird. Post-sozialdemokratische Politik
nennt sie das – und das klingt nicht nur gruselig. Eine „gute Gesellschaft“ im
Sinne von Chantal Mouffe scheint hier nur eines zukünftigen, neuen
Gesellschaftsvertrags zu bedürfen, in dem man (wer eigentlich?) sich auf „einen
Pluralismus, der Diversität und Dissens aufwertet“ (S. 48), einigt – aber bitte
in Grenzen. Interessant ist der Text als Dokument der politischen Harmlosigkeit
von Chantal Mouffes jüngeren Texten. Interessant ist auch, wie sie darin hinter
zentrale theoretische Einsichten aus Hegemonie und radikale Demokratie
zurückfällt. So scheint es, als wäre die dort so wichtige Kritik des Begriffs
„Gesellschaft“ nie geschrieben worden; oder man stellt verwundert fest, dass
über zwanzig Jahre, nachdem Laclau und Mouffe so vehement jede Objektivierung
von „Interessen“, oder gar „Klasse“ bekämpft haben, plötzlich „Interessen des
Kapitals“ auftauchen, die im Prozess der Globalisierung eine wesentliche
strategische Rolle spielen sollen (S. 50). Für alle, die sich von einer guten
Gesellschaft mehr erwarten als einen „Föderalismus, der Solidarität und
Wettbewerb miteinander verbindet“ (S. 52), dürfte der Beitrag jedenfalls wenig
überzeugend sein.

Auf diese beiden
einleitenden Texte folgt der wohl interessanteste Beitrag des Buches und der
einzige explizit kritische in Bezug auf Laclau und Mouffe. Alex Demirović nimmt
sich deren theoretischer Grundüberlegungen an und kritisiert scharf, ohne je
polemisch zu werden. Drei wichtige Einwände sollen hier herausgegriffen werden:
Erstens ist auffällig, dass trotz aller Beteuerungen von Laclau und Mouffe, dass
außerdiskursive Realitäten für die Erklärung des Politischen bedeutungslos
wären, auf gerade solche doch immer wieder rekurriert wird. So wird an mehreren
Stellen konstatiert, dass die moderne Logik von Diskurs und Hegemonie erst mit
der Etablierung der Industriegesellschaft und durch „technologische
Veränderungen“ sich durchsetzen konnte. Diese versteckte
modernisierungstheoretische Argumentation, so Demirović, „verträgt sich nicht
mit ihrem Ansatz, der die Analyse objektiver Gegebenheiten durch eine Analyse
von diskursiv erzeugten Antagonismen ersetzen will“ – mit dem Effekt, dass „die
ausgegrenzte vordiskursive Wirklichkeit (...) auf eher krude Weise in den
Erklärungszusammenhang [wiederkehrt], während gerade das, was kritisierte
Autoren wie Marx, Gramsci oder Foucault interessiert hat, der Zusammenhang
zwischen objektiven sozialen Prozessen und Diskursen, nicht näher untersucht
wird“ (S. 67). Ironischerweise, könnte man ergänzen, reproduzieren Laclau und
Mouffe damit genau das, was sie „dem Marxismus“ vorwerfen, nämlich einen
objektivistischen Begriff „der Ökonomie“. Sie verkennen dabei, dass es Marx
stets darum ging, „die Ökonomie“ als gesellschaftliches Verhältnis zu begreifen,
nicht als von Naturgesetzen bestimmten „Bereich“ – und fallen selbst hinter
diese Erkenntnis zurück.

Die zweite Kritik betrifft
den Begriff des „leeren Signifikanten“. Dieser soll laut Laclau und Mouffe als
Knotenpunkt unterschiedlicher Forderungen prinzipiell offen sein. Gleichzeitig
ist jedoch offensichtlich, dass nicht jeder Signifikant gleich geeignet ist,
eine solch universalisierende Rolle zu spielen. Davon zeugt auch Laclaus und
Mouffes Insistieren auf ein „demokratisches Imaginäres“, das durch Gleichheit
und Freiheit bestimmt, den Horizont linker Kämpfe bilden sollte. Dieser Maßstab
wird dadurch zu genau jenem „stabilen Knotenpunkt“, den man bereits theoretisch
ausgeschlossen hat und den die Kämpfe, deren Kontingenz man so zu betonen
trachtet, gar nicht mehr berühren.

Dies führt zu einem
dritten Punkt: Indem der Antagonismusbildung ein konstitutiver Status für das
Politische schlechthin zugestanden wird, kann nicht mehr erklärt werden, weshalb
bestimmte Äquivalenzketten erstrebenswert sein sollten – und andere eben nicht.
Indem immer von einem Ausgeschlossenen ausgegangen wird, erhält etwa, in einem
von Laclau und Mouffe angeführten Beispiel, die Rolle des Großgrundbesitzers,
der Bauern und Bäuerinnen vom Land vertreibt, eine gewisse positive
Plausibilität (S. 74). Diese und viele weitere Einwände sind auch dann
nachvollziehbar, wenn man Demirovićs stark an Adorno orientierter
Gegenkonzeption nicht in allen Punkten zustimmen mag. Seine Feststellung, dass
„zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, des Sexismus, des
Rassismus (...) Laclau und Mouffe keinerlei Konzepte außer dem vage bleibenden
Begriff der Demokratie [anbieten]“ (S. 77), wird jedenfalls kenntnisreich
unterlegt.

Wer hofft, in den nun folgenden immerhin
noch rund 150 Seiten käme es zu einer Auseinandersetzung mit dieser scharfen,
die Eckpfeiler des politischen Denkens von Laclau und Mouffe in Frage stellenden
Kritik, wird enttäuscht. Insgesamt leidet der Sammelband darunter, dass die
einzelnen Beiträge in keinen Diskussionszusammenhang gestellt werden, sondern
der „autistischen“ Logik akademischer Symposien folgen.[4]
Dadurch erinnert das Unterfangen zuweilen an eine Messe für politische Theorien,
in der verschiedene AutorInnen zeigen, was sie gerade an Arbeiten zu oder mit
den Theorien Laclaus und Mouffes zu präsentieren haben. Dementsprechend geht es
im Buch weiter, als hätte Demirović nie etwas gesagt: mit einem Beitrag von
Andreas Hetzel zur Bedeutsamkeit der Rhetorik bei Laclau und Paul de Man. An die
jüngeren Arbeiten Ernesto Laclaus anknüpfend, zieht Hetzel Parallelen in der
negativistischen Sprachtheorie, die auch das Werk des belgischen
Literaturtheoretikers de Man formiert habe. Beiden gehe es darum, Sprache als
„in sich selbst gründende Performanz“ zu begreifen (S. 88), die sich auf keine
vorgängige Ordnung beziehe. Auf die diskursive Logik des Politischen gewandt
führt dies zur Aussage: „Menschliche Praxis bezieht sich nicht von außen auf ihr
vorgängige Elemente, sondern schafft sich ihre Praxis performativ, im eigenen
Vollzug“ (S. 95). Nicht selbstgewählte, unmittelbar vorgefundene, gegebene und
überlieferte Umstände menschlichen Geschichte-Machens (Marx) werden von Hetzel
mit bestechender Logik und abgeleitet aus sprachphilosophischen Axiomen einfach
hinfort geschrieben. Dies scheint der Preis zu sein, der theoretisch zu zahlen
ist, versucht man die soziale Welt vollständig in sprachtheoretischen Begriffen
(Diskurs, Signifikat, Signifikant, Metapher, Metonymie, Synekdoche, Katachrese
u.v.m.) zu erfassen. Zwar betonen Laclau und Mouffe immer wieder, dass das
Diskursive keinesfalls bloß mit Sprachlichem oder Textuellem gleichzusetzen sei,
sondern die gesamte Vielfalt der sozialen Praxen umfasse; letztlich wird dies
aber nirgendwo eingelöst, was insbesondere durch eben jenen „rhetorischen Turn“
Laclaus illustriert wird. Problematisiert wird dies in Hetzels Beitrag jedoch
nicht.

Auch in drei weiteren
Beiträgen wird versucht, bestimmte Aspekte Laclaus Denkens in Bezug zu Autoren
zu setzen, die von diesem rezipiert wurden. Oliver Marchart schreibt über die
Bedeutung der Heideggerschen Unterscheidung zwischen „ontisch“ und „ontologisch“
für Laclau. Die Überlegungen sind dabei durchaus hilfreich zum besseren
Verständnis von einigen Laclauschen Schlüsselbegriffen, bleiben jedoch dem Thema
entsprechend „streng philosophisch“.

Urs Stäheli geht es um die Diskussion
der Massenpsychologie (Gustave le Bon, Gabriel Tarde) in Laclaus jüngstem
größeren Werk On Populist Reason[5].
Diese würde dort etwas zu voreilig als prä-psychoanalytisch auf die hinteren
Plätze des postmarxistischen Theorie-Pantheons verwiesen. Stähelis Einwand:
Dadurch verbaue sich Laclau die Möglichkeit, soziale Bewegungen anders als in
Identifikationsmodellen zu denken. Nicht nur der zentrale Knotenpunkt des
„leeren Signifikanten“ könne einen Antagonismus konstituieren, sondern auch
direktere Formen sozialer Affektivität. „Nachahmungsketten“, die kollektive
Bewegungen konstituieren, beruhen auf „gegenseitiger Affizierbarkeit“ und
benötigen „keine vorrangige Identifikation mit einer zentralen
Identifikationsfigur“ (S. 132), wie das bei Laclaus psychoanalytisch
angeleiteter Version der Fall sei.

Johannes Angermüller
schließlich kritisiert an Laclau, dass dieser „Forderungen“ als kleinste
diskursive Einheiten festlege, ohne zu bedenken, dass in der empirischen Analyse
stets vieldeutig bleibt, was eine Forderung eigentlich fordert. Er bringt als
Alternative dazu die französische Äußerungstheorie in Anschlag, deren
Konzentration auf formal identifizierbare „Sprachspuren“, marqueurs, eine
genauere Methodologie erlaube. Tatsächlich, so scheint es nach Lektüre des
Textes, erlaubt sie vor allem eine weitere Reduktion der sozialen Welt auf
Sprache und führt geradewegs in staubtrockene „Diskursanalysen“, die sich jedes
kritischen Anspruchs längst entledigt haben.

In fünf weiteren Texten
steht eine stärker empirisch orientierte „Anwendungsperspektive“ der Theorien
Laclaus und Mouffes im Mittelpunkt. Hervorzuheben ist hier Stefanie Wöhls
Artikel, der sich des Themas Geschlechterverhältnisse annimmt und als einziger
einen Bezug zu aktuellen sozialen Bewegungen herstellt. Ihre Antwort auf die
Frage, ob und wie sich Chantal Mouffes Kritik des Essentialismus mit
feministischer Theorie und Praxis verbinden lässt, fällt ambivalent aus. Anhand
von Gender-Mainstreaming-Politiken zeigt sie, dass ein „radikaldemokratischer“
Blick im Sinne Laclaus und Mouffes wichtige Hinweise darauf liefern kann, wie
Subjektpositionen – etwa (heterosexuelle/r) „Mann“ und „Frau“ – beständig
diskursiv produziert werden. Gleichzeitig jedoch weist sie auf die Grenzen der
Diskurstheorie hin, die verfestigte Strukturen und auf Dauer gestellte
Institutionen in ihrer Wirkmacht nicht angemessen berücksichtigt.

Weitere
Anwendungsbeispiele sind die „Erfindung“ der Sozialen Marktwirtschaft in der BRD
(Martin Nonhoff), Untersuchungen zur (Nicht-)Existenz einer EU-europäischen
Identität (Cornelia Bruell) sowie die „Nation“ als leerer Signifikant im
politischen Diskurs Frankreichs seit Beginn des 19. Jahrhunderts (Daniel
Schulz). Sie alle liefern durchwegs interessante Einblicke, wobei mal mehr, mal
weniger klar ist, ob das hochkomplexe Theoriegebäude des Postmarxismus
tatsächlich für die konkrete Forschungsarbeit notwendig gewesen wäre. Auffällig
ist jedenfalls, dass der Blick auf „das Politische“ bei allen den Blick auf „die
Politik“ bedeutet. Während etwa an Antonio Gramsci angelehnte Hegemonietheorien
stets aufgefordert sind, die Ebenen des „Alltagsverstands“, der Alltagspraxen,
der Selbst- und Weltverständnisse individueller und kollektiver AkteurInnen in
die Analyse mit einzubeziehen, gerät in den an Laclau und Mouffe anschließenden
Varianten genau das – zumindest hier – kaum in den Blick.

Insgesamt bleibt die Lektüre des Buches
unbefriedigend. Zwar wird ein Überblick zur gegenwärtigen postmarxistischen
Forschungsarbeit geboten, doch wird dabei der Anschein erweckt, als würden all
diese WissenschafterInnen einsam in kleinen Studierzimmern sitzen, ohne je mit
KollegInnen sprechen zu dürfen, die sich der gleichen theoretischen Strömung
zurechnen. Denn von einer Debatte im Sinne eines kritisch-produktiven
Austausches, in dem um gemeinsame Begriffe gestritten und auf Einwände von
Anderen eingegangen wird, kann hier keine Rede sein. Dies fällt insbesondere bei
Alex Demirović auf, dessen schlaue Kritik neugierig macht, wie darauf von
diskurstheoretischer Seite reagiert würde – wenn es diese Reaktion denn gäbe.
Das soll nicht heißen, dass eine theoretisch informierte Linke nichts von einer
Auseinandersetzung mit Laclau und Mouffe zu gewinnen hätte. Diese muss
schließlich die Frage beschäftigen, wie partikulare Forderungen subalterner
AkteurInnen sich zumindest potentiell so verallgemeinern können, dass der
bürgerliche Staat sich nicht mehr auf die aktive oder passive Zustimmung breiter
Mehrheiten verlassen kann und die Reproduktion der kapitalistischen
Produktionsweise an alltäglicher Selbstverständlichkeit verliert. Zur
Feinanalyse dieser Prozesse, die auf politischer Ebene zwischen den Polen von
Partikularität und Allgemeinem sich vollziehen, tragen die von Laclau und Mouffe
formulierten Begriffe einiges bei. Indem sie aber Klassen auf durch
Identitätslogik formierte Kollektivakteure und das in der Praxis der Produktion
angelegte Ausbeutungsverhältnis auf einen diskursiv artikulierten Antagonismus
reduzieren, wird ihre Welt zur flachen Scheibe, auf der politische Praxen
unbehelligt von „vordiskursiven“ Realitäten (wie Produktionsverhältnissen oder
gesellschaftlicher Arbeitsteilung) und in aller Kontingenz wuselnd für
Komplexität sorgen. Um ihre Diskurstheorie für linke Theorie und Praxis
fruchtbar zu machen, müsste sie in Bezug zur Leitfrage Antonio Gramscis – in
dessen Tradition der Postmarxismus sich gerne sieht – gestellt werden: „Will
man, daß es immer Regierte und Regierende gibt, oder will man die Bedingungen
schaffen, unter denen die Notwendigkeit der Existenz dieser Teilung
verschwindet?“[6]
Hier fehlt nicht nur die Antwort, viel schlimmer noch: Nach Lektüre der meisten
in diesem Band versammelten Beiträge würde eine solche Frage wohl niemandem
einfallen.

E-Mail: benjamin.opratko@gmx.at

[1]
Vgl. E. Laclau/C. Mouffe, Hegemony and
Socialist Strategy: Towards a Radical Democratic Politics,
London: Routledge, 1984; dt.
Übersetzung: dies.,
Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus,
übers. von M. Hintz/ G. Vorwallner, Wien: Passagen, 1991.

[2]
Vgl. das erste von Laclau publizierte Buch, ders., Politics and
Ideology in Marxist Theory. Capitalism, Fascism, Populism, London:
New Left Books, 1977. Laclau selbst war in den 1960er und 1970er Jahren
als studentischer Aktivist in Buenos Aires und später als führendes
Mitglied der linksnationalistischen Partido de la Izquierda Nacional
in Argentinien aktiv.

[3]
O. Marchart (Hg.), Das Undarstellbare der Politik. Zur
Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, Wien: Turia + Kant, 1998. Das
inzwischen vergriffene Buch, in dem im Gegensatz zum hier besprochenen
vor allem internationale Beiträge versammelt sind, ist erfreulicherweise
vom Verlag online gestellt worden: http://www.turia.at/downloads/laclau.pdf.

[4]
Das Buch, so erfahren wir im Vorwort, „ist Ergebnis des Workshops
Discourse, Democracy, Hegemony: Resumé and Future Prospects of the
Political Theory of Ernesto Laclau and Chantal Mouffe, der am 9. und
10. Dezember 2005 am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen
stattgefunden hat“.

[5]
E. Laclau, On Populist Reason, London: Verso, 2005.

[6]
A. Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 7, Hamburg: Argument, 1991ff.,
1713-4.

 

Martin Nonhoff (Hg.),
Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto
Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld: transcript, 2007.