Indoamerikanischer Sozialismus?

Editorial

I.

"Ich glaube, dass es Lateinamerika ist, das die Welt ändern wird", erklärte unlängst Jean Ziegler. In der Tat ist der anderswo verschwundene Sozialismus dort nachdrücklich erneut auf die Tagesordnung gesetzt worden. Dass dies so ist, verdankt sich sozialen Bewegungen, die sich in Wählermehrheiten umsetzten. Seither richten sich Erwartungen aus aller Welt auf den lateinamerikanischen "Sozialismus des XXI. Jahrhunderts". Es ist, als hätten Ideen, die in den Wertehimmel zu entschwinden drohten, neue Anhaltspunkte im Diesseits gefunden. Die Frage, ob die Revolution in Lateinamerika zurückkehrt, wäre freilich sofort zu verneinen, würde sie im Wortsinn von revolutio verstanden, als "Rückdrehung" zum Ausgangspunkt. Von Rückkehr als Wiederholung kann keine Rede sein. Wenn heute von Revolution oder Sozialismus im Blick auf Südamerika die Rede ist, so weil diesen am Ende des 20. Jh. sinnlos gewordenen Großwörtern neuer Sinn dank ihrer Verwandlung zugewachsen ist. Die Revolution selbst ist revolutioniert. Nicht bewaffneten Avantgarden kommt in diesem geschichtlichen Moment die Protagonistenrolle zu, sondern demokratischen Mehrheiten. Der äußere Gegensatz zum Reformismus hat sich, wie bei Rosa Luxemburg vorgedacht, in einen inneren verwandelt. Um überhaupt reformfähig zu werden, müssen die Menschen sich zu den natürlichen Ressourcen ihrer Länder und müssen die Staaten dieser Länder sich zu ihren menschlichen Ressourcen neu in Beziehung setzen. Das verlangt nach einer Umgestaltung, die vielerorts auf eine politische Revolution hinauslaufen müsste und es in einigen Ländern gegenwärtig tatsächlich tut.

So lässt sich zumal in Bolivien und Ecuador in gewisser Hinsicht geradezu von Prozessen nachholender Staatsgründung sprechen, weil hier die Macht des Nationalstaats gegen die post- und neokolonialen Partikularmächte erst noch vollends durchzusetzen ist. Damit die Völkervielfalt dieser Länder sich staatlichen Ausdruck verschaffen kann, muss die Souveränität gegenüber städtischen Eliten, Großgrundbesitz, transnationalem Auslandskapital und dessen Stützpunkten in der inländischen Bourgeoisie errungen werden. Die entsprechenden Neugründungsprozesse sind umlauert von Abspaltungstendenzen, Klassen- und Rassenkonflikten und der Gefahr des Bürgerkriegs. In Ecuador verteidigt die ökonomische Rechte die Autonomie der 25 Provinzen, "in denen noch immer eine starke Kazikenmacht [poder caciquil] herrscht" (Borja). Heftig attackiert sie die angestrebte Sozialbindung des Eigentums und das in der künftigen Verfassung vorgesehene Verbot der Privatisierung der allgemeinen öffentlichen Dienstleistungen. Der Staat ringt zugleich um Souveränität im Verhältnis zu den Weltmarktinteressen. Was schlecht verhüllte Ausplünderung der nationalen Bodenschätze war, soll in einer Weise neu ausgehandelt werden, die den Staat an den Gewinnen in einem Ausmaß beteiligt, das ihn sowohl zu Sozialpolitiken als auch zu einer neuen Entwicklungspolitik (nuevo desarollismo) befähigt. Zumal in den erdöl- und erdgasreichen Ländern potenziert sich der Transformationsprozess durch die Revolutionierung der ökonomischen Außenbeziehungen zum transnationalen Petrokapital, die dessen innergesellschaftliche Privatagenten der Nationalagentur des Staates unterstellt. Zugleich können sie dank dieser Ressource ein Netz besonderer Austauschbeziehungen mit anderen Entwicklungsländern zu günstigeren Bedingungen knüpfen, als der Weltmarkt sie bietet, und so ihren neuen Entwicklungskurs international einbetten.

Auch bei den Agrarexporten entzünden sich die Kämpfe an der Frage der nationalen Teilhabe an der Differenzialrente, die der Ressourcenexport aufgrund der hohen Weltmarktpreise abwirft. Letztere schlagen bei unregulierten Außenhandelsbeziehungen ins Innere. Die Bereicherung der einheimischen Weltmarktinteressenten wird dann zur Kehrseite der Verarmung, ja dem Hunger der städtischen Massen. Ein ähnlicher Effekt scheint die venezolanische Politik nicht trotz, sondern wegen ihres Ölreichtums zu bedrängen, wenn auch nicht bei den Benzinpreisen: Nachdem im ersten Halbjahr 2008 Staatseinkünfte aus dem Erdölexport um 80% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum auf über 43 Mrd US$ gestiegen sind, betrug die Inflation im Juni, aufs Jahr umgerechnet, über 32%. Das industrielle Wachstum schwächt sich ab; bei voll ausgelasteten Anlagen scheinen Neuinvestitionen seitens des Privatkapitals unterlassen worden zu sein. Während das Wachstum schrumpft, "nahm der Konsumentenkredit im ersten Halbjahr um 20% zu, wobei die Kreditkarten mit ihrem Zinssatz von 33% und die Darlehen für Autokäufe zu 27,4% Zins eingeschlossen sind" (Hernández). Der venezolanische Planungsminister Haiman El Troudi führt den Hauptteil der Inflation auf die Spekulation der Unternehmer zurück (zit. ebd.). In der Tat könnte eine Art Klassenboykott seitens der Kapitalisten mitspielen, wie er seinerzeit Napoleons Imperium zum Einsturz gebracht hat. Bonaparte besaß zwar, Marx zufolge, "die Einsicht in das Wesen des modernen Staats, dass derselbe [...] auf der freien Bewegung der Privatinteressen etc. als seiner Grundlage ruhe", doch betrachtete er den Staat zugleich "als Selbstzweck und das bürgerliche Leben nur als Schatzmeister und als seinen Subalternen, der keinen Eigenwillen haben dürfe" (MEW 2, 130). Er erklärte, nicht zu "dulden, dass der Besitzer umfangreicher Ländereien sie nach Belieben bebaue oder nicht bebaue" (131), und als er sich anschickte, "den Handel dem Staat zu unterwerfen", antworteten die Kapitalisten mit einer "künstlich geschaffenen Hungersnot", die ihn zur Verschiebung des russischen Feldzugs in eine zu weit vorgerückte Jahreszeit zwang und so in den Untergang trieb (ebd.).

Im venezolanischen Fall wird die Sabotagemöglichkeit des Kapitals durch die staatlichen Erdölerlöse stark beschnitten, da diese es erlauben, fehlende Güter auf dem Weltmarkt einzukaufen. Doch dieselben Petrodollars verstärken zugleich die inflationären Effekte der Investitionszurückhaltung, indem die Umverteilungspolitik einen großen Teil der Erdölerlöse direkt in Kaufkraft für den Privatkonsum verwandelt. Möglicherweise wird die Verstaatlichung des bislang von der spanischen Großbank Santander kontrollierten Banco de Venezuela der Entwicklungspolitik ein Instrument in die Hand geben, das ihren Einfluss auf die Kapitalinvestition erweitert.

Der venezolanische Staat hat nach heftigen Auseinandersetzungen um die Kontrolle der nationalen Erdölindustrie seine Souveränität in dieser Hinsicht erfolgreich verteidigt. Am Gefälle zwischen Kostpreis und Weltmarktpreis betreibt er gleichsam das Kraftwerk, das seine Politik potenziert. In anderen Ländern dagegen hat der Neoliberalismus die Schleusen zwischen dem inländischen Markt und dem Weltmarkt beseitigt. Fürs Preisniveau gibt es keine Grenze mehr. So fragt man sich etwa in Schottland, warum man so viel für Benzin und Heizöl bezahlen muss, wo doch das Land selbst Erdöl produziert. Ein Teil der Antwort findet sich beim Staat, der durch Energiebesteuerung seine Hand im Spiel hat. Der andere Teil der Antwort ist darin zu suchen, dass die Schotten wie andere Völker auch zahlende Weltmarktbürger sind. Wenn etwa die argentinische Regierung gegen den analogen Effekt kämpft, indem sie die Sojaausfuhr besteuert, kämpft sie zugleich gegen den Souveränitätsverlust im Zuge der neoliberalen Globalisierung. Zwei komplementäre Faktoren stehen für sie auf dem Spiel: ihr Anteil an der Differenzialrente, die der nationalen Landwirtschaft aufgrund der gestiegenen Weltmarktpreise zufällt, damit aber der sozialstaatliche Handlungsspielraum; zugleich versucht sie zu verhindern, dass das Preisniveau der im Land produzierten Verbrauchsgüter vom Anstieg der Weltmarktpreise für eben diese Güter mitgerissen wird und wie in vielen anderen Weltteilen zu Hungerrevolten führt. Der Agrarsektor dagegen zieht es vor, zu Weltmarktpreisen zu exportieren und einen Extraprofit zu machen, als die eigene Bevölkerung bei normaler Durchschnittsprofitrate zu versorgen. Der Kampf gegen die neoliberale Globalisierung tendiert hier zur Form eines Kampfes der Stadt gegen das Land.

In Bolivien dagegen ist es eher der Kampf des Landes gegen die Stadt, der den Ausschlag für den Demokratisierungsschub gegeben hat. Doch der politische Frühling des Machtantritts von Evo Morales ist vorbei. Zum Streik der Minenarbeiter gesellte sich ein Ausstand von Lehrern. Zwar hat das Referendum vom August 2008 Morales mit fast zwei Dritteln der Wählerstimmen im Amt bestätigt. Doch auch die wichtigsten Exponenten des regionalen Separatismus der weißen und reicheren Bevölkerungsteile sind von ihren Wählern bestätigt worden. Die Verfassungsgerichtsbarkeit liegt in Trümmern. Würde die Armee, der ›harte‹ Einheitsfaktor der Nation, sich spalten, bräche der Bürgerkrieg aus - oder umgekehrt: bricht der Bürgerkrieg aus, wird auch sie sich spalten. Fürs Erste aber haben Präsident und Vizepräsident Boliviens sich als einzige national übergreifende politische Gestalt erwiesen, und das ist, wie Morales sagte, "nicht nur für die Bolivianer, sondern für alle Lateinamerikaner wichtig". Er fuhr fort: "Ich widme diesen Sieg allen Revolutionären auf der Welt." (FAZ, 11.8.08)

II.

Vor drei Jahren (Arg. 262) fragten wir nach Politiken und Resultaten der Linksregierungen unterm Neoliberalismus. In Deutschland war das der Moment, in dem die rot-grüne Linksregierung von den Folgen ihrer neoliberalen Wende verschlungen wurde und der Aufstieg der Linkspartei unumkehrbar wurde. Von den vier Staatschefs, die auf dem Umschlag jenes Heftes abgebildet sind - Hugo Chávez, Fidel Castro, Tony Blair und Gerhard Schröder -, ist nurmehr der erste im Amt. Aber nicht zufällig sind Venezuela und Kuba, die schon damals Politik im und gegen den Neoliberalismus betrieben, auf Kurs geblieben. Zu ihren Gunsten verändert hat sich ihr Umfeld. Daher fragen wir nun nach Politiken und Perspektiven lateinamerikanischer Linksregierungen nicht mehr unterm, sondern gegen den Neoliberalismus, wie ja vom neuen Verfassungsentwurf Ecuadors gesagt werden konnte, er ziele darauf ab, "den Neoliberalismus zu begraben" (Borja). Dass die Frageverschiebung möglich geworden ist, verdankt sich Gründen, die zwar heterogen sind, einander jedoch bedingen und widersprüchlich überlagern. In dieser Gemengelage trifft sich der Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung mit der Ausnutzung ihrer Folgen, darunter der ihretwegen gestiegenen Rohstoff- und Energiepreise. Der Krieg gegen den Irak und nicht zuletzt der zähe Widerstand, der die USA zum besiegten Sieger werden ließ, hat gleichermaßen zum Steigen der Ölpreise wie zum Niedergang des Ansehens der USA und auch dazu beigetragen, dass deren Aufmerksamkeit bisher von Lateinamerika abgelenkt wurde. Nicht dass die USA nicht mit Geld und Gewalt auf vielfältige Weise gegen die Linksentwicklung in Lateinamerika anarbeiteten. Doch dass sie es mit einem ihrer wichtigsten Öllieferanten nicht auch noch verderben konnten, hat sie daran gehindert, Hugo Chávez über die Unterstützung des Putsches von 2002 hinaus gewaltsam auszuschalten. Mit den Petrodollars aus den USA konnte dieser seinen regionalen Einflussbereich ausdehnen. Selbst der Belagerungsring um die Festung Kuba ist durch dieses gewandelte Umfeld aufgebrochen worden. Kraft ihrer Abwandlung des einst von Lenin entworfenen Konzepts einer mixed economy unter kommunistischer Staatsmacht schickte die Insel sich an, mit stürmischen Wachstumsraten, wenngleich von niedrigem Niveau aus, zum ›Tigerstaat‹ der Karibik zu werden. Bei aller Frontstellung gegen den Kapitalismus geht es auch hier fürs Erste nicht mehr um dessen Abschaffung, sondern um seine soziale Einspannung und Regulierung. Die Revolution ist reformistisch geworden, muss aber, um der sozialen und entwicklungspolitischen Reformfähigkeit willen, revolutionär sein.

Den Ausschlag für die Wiederkehr sozialistischer Politik in Lateinamerika haben die Indiobewegungen gegeben. Um zu verstehen, wie sie zum Durchbruch kommen konnten, muss man die marxsche Einsicht in die Gegenwart übersetzen, dass "in unseren Tagen jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen scheint" (MEW 12, 3). Dieser Satz will nicht nur zum negativen Pol hin verstanden werden, dass "die neuen Quellen des Reichtums sich durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not verwandeln" (ebd.); sondern er gilt auch in entgegengesetzter Richtung, dass den Quellen der Not zugleich neue Handlungsmöglichkeiten entspringen können. Letzteres gilt allemal für den als ›Globalisierung‹ beredeten transnationalen High-Tech-Kapitalismus. International schwelgt er in Multikulturalismus, und innergesellschaftlich hat er den Normalisierungsbann gebrochen. Wie einst der Faschismus nach den Worten Benjamins "die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen" ließ (1961, 175), so verhilft das transnationale Kapital unterdessen vielen vordem unterdrückten oder verachteten ›Identitäten‹ zum Ausdruck, nicht aber im selben Maße zu ihrer Aufrichtung aus der Subalternität. Die Sphäre der öffentlichen Repräsentation ist nur das schöne Lichtbild der wirklichen Verhältnisse, doch der Widerspruch zwischen schönem Schein und unschönem Sein wirkt gleichwohl als Triebkraft zur Veränderung. Und wie die transnational-kapitalistische "Warenästhetik als Globalisierungsmotor" wirkt, indem sie dem Sein den Schein vorausgehen lässt "in die vor- oder halbkapitalistischen Gesellschaften" (Haug 1999, 35ff), so treibt sie nicht ausschließlich zum Warenkonsum, sondern zugleich zur Emanzipation. Der überaus schlichte Gedanke von Boris Groys, wonach sich in allen vormals staatssozialistischen Ländern "die Konsumideologie in die Großideologie verwandelt" habe (El País, 26.7.08), muss um die Dimension des widersprüchlich Treibenden vertieft werden, den derselbe Autor in seinem Kommunistischen Postskriptum im zynischen Paradox stillstellt, dass, wer die Widersprüchlichkeit der Phänomene hervorhebt, damit sage, "dass aus der Richtigkeit der eigenen Behauptung [...] nicht folgt, dass das Gegenteil [...] nicht richtig ist" (2006, 41). Aber doch, es ist wirklich nicht richtig, die Widersprüchlichkeit des Kapitalismus auszublenden. "Während in China die Ungleichheit, aber auch die absoluten Einkommen zugenommen haben, hat sich in Lateinamerika, bei fast gleich bleibenden Einkommen, lediglich die Ungleichheit verschärft." (Dussel Peters 2006, 121) Wenn es zum Beispiel wahr ist, dass der ecuadorianische Präsident die Unterstützung der vom Neoliberalismus verarmten Bevölkerungsmehrheit genießt (mehr als die Hälfte der Menschen lebt unterhalb der Armutsgrenze), so ist auf andere Weise ebenso wahr, dass der Neoliberalismus und seine Ideologie dazu beigetragen haben, diese Mehrheit auf andere, nämlich Veränderungsgedanken zu bringen.

Der Wahlsieg von Evo Morales (Dez. 2005) in Bolivien hat zum ersten Mal einen Indio an die Staatsspitze gebracht. Die seit Jahrhunderten in ›Geschichtslosigkeit‹ Verdrängten haben sich damit als geschichtliche Kraft etabliert. Auch der Sieg Rafael Correas in Ecuador (Nov. 2006) hat eine seiner Wurzeln in solcher Bewegung. Wo der Aufbruch der Indios Erfolg hat, kommt er angesichts der postkolonialen Herrschaftsverhältnisse einer Revolution gleich, und zwar einer Revolution, die den Revolutionsmythos des bewaffneten Handstreichs hinter sich gelassen hat. Bereits 1994 hat sie sich im Aufstand der zapatistischen Indios von Chiapas angekündigt. (1) Diesen konnte es nicht um die Staatsmacht, sondern um die Öffnung des "Vorraums" einer demokratischen Umwälzung gehen. In Bolivien aber ist es die Dominanz im nationalstaatlich-politischen Raum, in welche die Indiobewegung ihre Repräsentanten hineingewählt hat. Ungeachtet dessen, dass der Staat als Form nicht die Auflösung, sondern komplementär-stabilisierender Teil der grundlegenden strukturellen Herrschaftsverhältnisse (Klasse, Rasse, Geschlecht) ist, wird er hier als Instanz sozialer Umgestaltung von den gegen jene Verhältnisse angehenden Emanzipationsbewegungen in Anspruch genommen. Hier taucht eine der Antinomien auf, mit denen progressive Politik "operieren können" muss, um Brechts Wort abzuwandeln. Selbst noch die Redistribution von Staatsmacht aus dem Herrschaftszentrum ›nach außen‹, an den Rand, und aus den übergeordneten Zentralen der Macht ›nach unten‹, in Gestalt der ›Ermächtigung‹, der zumindest partiellen ›Entsubalternisierung‹ der Bevölkerung vor Ort, stützt sich auf die Form zentralstaatlichen Handelns. Um den Vorgang zu verstehen, muss die Analyse ernst machen mit Poulantzas' Abkehr vom substanzialistischen Staatsbegriff hin zum Blick auf die Verdichtung von Kräfteverhältnissen im Staat. Dass die Indios sich als politische Kraft geltend machten, veränderte nicht nur die Kräfteverhältnisse, sondern auch den qualitativen Aggregatzustand der Kräfte. Zumal Bolivien scheint José Carlos Mariáteguis Projekt eines indoamerikanischen Sozialismus (vgl. vgl. HKWM 6/II, 2004, 969-72) mit Wirklichkeit zu versehen. Indem es die indianische Bevölkerungsmehrheit zum Staatsvolk macht, revolutioniert die zur Geltung gebrachte Pluralität der Staatsvölker den Staat.

Wer derart in die Geschichte eintritt, in den bricht die Geschichte ein. Die Regierungsfähigkeit der indigenen Basis und damit zugleich ihre Regierbarkeit bilden sich erst in Ansätzen heraus. Sprachlich und kulturell sind die Indios auf über hundert Ethnien verteilt, von denen einige in blutige Konflikte untereinander verwickelt waren. Relative Einheit in dieser Verschiedenheit zusammen mit eigenen politischen Intellektuellen als den Akteuren dieser Vereinigung auszubilden, ist die große Herausforderung, vor der die Indiobewegungen stehen. In mancher Hinsicht befinden sich die von solchen Bewegungen an die Macht getragenen Linksregierungen noch ganz am Anfang. Überall muss es darum gehen, den Staat zu transformieren, ja ihn gegen Latifundismus und Kazikentum (vgl. HKWM 7/I, 2008, 549-53) z.T. als modernen erst zu schaffen. Der Staat darf dabei nicht auf die repressiven oder administrativen Apparate reduziert werden. Seine Transformation muss mit Gramsci "integral" angegangen werden, als ein Vorgang, der ohne die Transformation seiner neuen Subjekte und der Zivilgesellschaft insgesamt in der Luft hinge und alsbald wieder an die alten Mächte zurückfiele.

III.

"Obama verführt 200000 Berliner", war der El País-Aufmacher vom 25. Juli 2008 überschrieben. Das Foto zeigte die von Menschenmassen gefüllte Straße des 17. Juni. Im Fernsehen erinnerte die Szene an die Kundgebung vom 15. Februar 2003 gegen den Irakkrieg, die den USA die Gefolgschaft aufgekündigt hatte, und wirkte zugleich wie die Ankündigung eines neuen Konsenses, Vorschein einer Hegemoniewende im Weltkapitalismus, zumindest bei den Bevölkerungen des ›Westens‹, aber auch den sozialdemokratisch regierten Ländern Lateinamerikas (v.a. Chile und Brasilien). Im Moment der Entfesselung des Irakkrieges diagnostizierten wir "das Ringen zweier Imperialprojekte" (Haug 2003, 249): "das eine will, dass die USA ihre Herrschaft primär über Führung, das andere, dass sie ihre Führung primär als Herrschaft ausüben". Denn bei Lichte besehen war es ja gerade "ein hegemonial von den USA geführtes ›Imperium‹", in dessen Namen viele Meinungsführer "gegen den Hegemonismus der US-Politik" auftraten (245). Der Grund fürs Fortbestehen der Einheit in der Spaltung ist in der Ökonomie zu suchen: "Unter der Spaltung des Westens liegen gemeinsame Interessen des transnationalen Kapitals, die allerdings nicht immer zugleich im Interesse der einzelnen Nationalstaaten liegen." (244) Dass eine Komponente des vermeintlichen Antiamerikanismus das Verlangen nach einer anderen Politik der US-Amerikaner war, lag darin begründet.

Bereits der Kampf um die Nominierung zum demokratischen Präsidentschaftskandidaten hatte die Möglichkeit eines Endes der us-amerikanischen Dyshegemonie auftauchen lassen. Hegemonie im gramscianischen Sinne eines multilateral ausgehandelten "konsensual abgestützten Modus transnationaler Vergesellschaftung" (Bieling/Deppe, Argument 217, 730) unter us-amerikanischer Führung schien plötzlich wieder in Reichweite. Obama verkörperte zumindest für die Mehrheit der Europäer "die Wiederkehr des amerikanischen Freundes" (Valenzuela). So auch für die Deutschen. Je mehr sie US-Vorwahlkampf sahen, "desto mehr erschienen ihnen die USA wieder als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten" (Birnbaum). US-Kritik konnte in den vergangenen fünf Jahren auf breiten Widerhall zählen. Von ihrer Energie zehrte auch die Kapitalismuskritik. Obamas "Wir hören auf einander" vor der Siegessäule zeigt sich jedoch schon auf dem Sprung, jenes andere Hören-Auf, die Folgebereitschaft gegenüber der us-geführten westlichen Allianz - und sofort mehr Kampftruppen und Helikopter für den Krieg in Afghanistan (Obama in New York Times, 14.7.08) - einzufordern. Zugleich melden sich die Stimmen aus der us-amerikanischen Staatsklasse, die der Arrondierung imperialer Gewaltpolitik durch Hegemoniepolitik das Wort reden: "Diejenigen, die sich der Herrschaft der USA in der Welt widersetzen - die Muslimbrüder, Hamas, Hizbola und Mahmud Ahmadinejad im Nahen Osten, sowie gewisse populistische Führer in Lateinamerika wie Hugo Chávez, Rafael Correa und Evo Morales - sind an die Macht gekommen, weil sie den Ärmsten ihrer Länder soziale Dienstleistungen anbieten." (Fukuyama) Die USA dagegen böten einzig freien Markt und Demokratie an, "deren keines die ärmsten Bevölkerungen anzuziehen scheint, die in letzter Instanz die eigentlichen Wähler in diesem Kampf um Macht und Einfluss in der Welt sind." (Ebd.) Sollten diese Ideen zum Zuge kommen und auch die transatlantischen "Witwen Clintons Tröstung finden" (Anderson 2002, 29), müsste die lateinamerikanische Linke nicht nur ihre Rhetorik ändern.

Die Rede von Lateinamerika gerät mythisch, wenn sie in diesem Singular die enormen Unterschiede auf dem Subkontinent einebnet. Während im ALBA so geredet wird, als sei der Kapitalismus bereits abgeschafft, vollzieht sich die Ausplünderung Mexikos durch den capitalismo sometido der einheimischen Oligarchie im Bunde mit den USA desto ungehemmter. Ungeachtet ihrer revolutionären Rhetorik haben viele lateinamerikanische Intellektuelle den Irrweg einer lateinamerikanischen Identitätsschmiederei eingeschlagen und suchen in der Vergangenheit nach einem imaginären Wesen, statt etwas aus sich und aus uns zu machen. Heute müsse der Süden den Norden belehren, schmeicheln ihnen westliche Linke. Widersteht man der Versuchung, den Illusionsbedarf an Lateinamerika zu befriedigen, ist nüchterne Analyse der eingeschlagenen Wege und der Kräfteverhältnisse vor Ort unter Berücksichtigung der internationalen Konstellation gefragt. WFH

Literatur

Anderson, Perry, "Force and Consent", New Left Review 17, 2002, 5-30

Benjamin, Walter, Illuminationen, Frankfurt/M 1961

Birnbaum, Norman, "Obama en Alemania", El País, 1.8.08, 25

Borja, Jordi, "Ecuador: el mismo idioma no es suficiente", El País, 21.7.08, 27

Fukuyama, Francis, "El fin de la hegemonía amaricana", El País, 31.7.08, 27

Groys, Boris, Das kommunistische Postskriptum, Frankfurt/M 2006

Haug, Wolfgang Fritz, High-Tech-Kapitalismus, Hamburg 2003

Hernández, Clodovalto, "Ola de consumo", El País, 27.7.08, Negocios, 25

Valenzuela, Javier, "El regreso del amigo americano", El País, 5.8.08, 27

Ziegler, Jean, Interview in El País, 24.12.07, 35

(1) Vgl. Arg. 253/2003: 20/10 Jahre Aufstand der Zapatisten.

Aus DAS ARGUMENT, Nr. 276, S. 330-6