Schweigen im Walde

Nachrichten zur Krise der Finanzmärkte verfolgen uns zuverlässig zu
allen Tageszeiten wie der Wetterbericht, die Verkehrsmeldungen und,
ach ja, die Börsennachrichten. Nach dem 500-Milliarden-Geschenk der
Bundesregierung »durchschlug der DAX die 5 000er Marke«. Von unten.


Zwar hält uns die Bundesregierung nicht der Erklärung für würdig,
weshalb sie eigentlich einen Risikofonds in halber Billionenhöhe bereitstellt,
obwohl doch nur die Hypo Real Estate zeitweilig ein wenig kränkelte:
Aber alles müssen wir ja auch nicht wissen.


Zwei Wochen öffentliche Katharsis: Der Markt könne es wohl doch
nicht alleine, die starke regelnde Hand des Staates müsse her, die Banken
bedürften öffentlicher Kontrolle, die soziale Marktwirtschaft sei immer
von einer staatlichen Lenkung der blinden Märkte ausgegangen.
Und: Der Kapitalismus müssen neu erfunden werden.


Man ist geneigt zu fragen: Warum muß diese sich jeden Tag und nun
auf höchstem Niveau blamierende Form der Vergesellschaftung eigentlich
neu erfunden werden? Wäre es nicht beste Zeit, über ihre Überwindung,
ihre Abschaffung zu reden?


Von links – und was sich dafür hält – sollte man erwarten, daß angesichts
allgemeiner und angebrachter Verunsicherung die wertbasierte
Vergesellschaftung, die wie eine Matrix in allen Köpfen sitzt und alles
Denken, jede Realitätswahrnehmung »vorformatiert«, ins Visier der Kritik
genommen wird. Es ist zwar eine über Jahrhunderte angeeignete Denkform,
alles »in Wert zu setzen«; aber dabei handelt es sich nicht um eine
überhistorische Naturnotwendigkeit. Über ihre Sinnhaftigkeit sagt diese
lange Tradition schon gar nichts. Man könne auch dreißig Jahre lang etwas
falsch machen, wußte schon Tucholsky. »Vorher« konnten Menschen
schon miteinander leben und in Austausch treten, ohne alles in Wertkategorien
zu denken und zu sehen – und »danach« wird es die Menschheit
müssen, wenn sie denn – zumindest menschenwürdig – überleben will.

Es wäre höchste Zeit, daß sich die politische Linke einer grundlegenden
Kritik dieses gerade mit Billionen von Steuergeldern vorm vorläufig letzten
Kollaps geretteten Systems zuwendet. Sie müßte dabei nicht einmal
allein und von vorn beginnen. Seit Mitte der achtziger Jahre ist mit der
Wertkritik eine Theorie im Entstehen, die radikal im Wortsinne ist – weil
sie den Wert selbst und die ihn stets wieder ins Recht setzenden Denkformen
ins Zentrum der Kritik rückt.


Die politische Linke hat sich diesem theoretischen Neuanfang gegenüber
bisher abstinent gehalten. Das hat Gründe. Theoretische und allzu
menschliche. Folgt man der Wertkritik, ist auch Politik eine vom Wert abgeleitete
Kategorie – stellt man also den Wert grundsätzlich in Frage, dann
auch das bisherige Verständnis von Politik; sie wird zu einer Binnenkategorie
des Wertverhältnisses. Mit anderen Worten: Mit bekannten Formen
von Politik – also mit Vertretungsmechanismen in systemkonformen
Strukturen – läßt sich das System nicht überwinden. Will man am Bekannten
festhalten, muß man sich auch eingestehen, daß man »nur« an einer
Widerspruchsbearbeitung innerhalb des Systems teilhaben kann. Die
Apostrophe beim NUR sind notwendig, um allfälliger Kritik zuvorzukommen,
ich redete hier das Wort einer sofortigen Systemüberwindung, für
die alle Voraussetzungen fehlen. Ich sehe die Notwendigkeit der aktuellen
Gegenwehr zum gerade jetzt wieder stattfindenden Abwälzen der Folgen
dieser angeblich so erfolgreichen und effizienten Wirtschaftsweise auf die
Schultern der Allgemeinheit – und die Rechnungen der jüngsten Erfolge
werden uns ja erst so nach und nach präsentiert werden. Da sollte die politische
Linke an der Spitze stehen, auch und gerade die LINKE. Ich sehe
aber auch die Notwendigkeit und die Möglichkeit – das ist das einzig Gute
an der Krise der Finanzmärkte – endlich zu grundlegender Kritik dieser
Form der Vergesellschaftung zu gelangen, und zwar in einer vor kurzem
noch für nicht möglich gehaltenen öffentlichen Breite. Dazu muß man allerdings
reden, öffentlich, unter Nutzung aller, auch der vielen Wählerstimmen
zu dankenden Möglichkeiten.


Aber da ist Schweigen im Walde. Nein, nicht ganz. Die LINKE fordert,
daß die Bewältigung der Krise der Finanzmärkte nicht auf den Schultern
der »kleinen Leute« stattfinden möge. Zugleich begrüßt man, daß die
Bundesregierung endlich systematisch der Krise zu Leibe rücke. Nun,
auf wessen Rücken wird diese aktuelle Krise nun »systematisch« bewältigt
werden? Zu wessen Lasten werden die Staatsbürgschaften und Direktzahlungen
an weitere Wackelkandidaten unter den Banken gehen?
Dreimal dürfen wir raten.


Die eigentliche Frage hätte anderen Wortlaut: Weshalb unter weiterer
Verschwendung menschlicher und natürlicher Ressourcen Menschheit
und Natur zu Grunde richten statt zu einer Vergesellschaftung zu finden,die die Lebensbedürfnisse aller Menschen ins Recht setzt – als alleiniges
Kriterium menschlichen Zusammenlebens.
Nicht zuletzt mit Blick auf anstehende Wahlen wird sich die LINKE
solcher Fragestellung enthalten. LINKE und Linke werden die Versuche
der Krisenbewältigung »kritisch begleiten«, mit allerlei sozialen Ratschlägen
schmücken und sich also den Kopf der herrschenden Politik
zerbrechen.
Die gewichtigste Ursache des betretenen Schweigens auf linker Seite
liegt aber tiefer: Man hat zwar die sozialen Folgen der Spekulationen auf
den Finanzmärkten kritisiert und deren Regulierung (oder wie in der
jüngsten Pressemitteilung der LINKEN deren »Re-Regulierung«) verlangt
und von Systemtranszendenz geredet und in diversen Programmen
geschrieben – daß das System aber tatsächlich krachen gehen könnte,
hatte man gar nicht mehr im Blickwinkel. Und für die persönliche Lebensplanung
einiger linker Berufspolitiker wäre das in der Tat eine Katastrophe.
Da verschlägts manchem halt den Atem. Warten wir, bis sie
wieder Luft geholt haben. Ich gehe jede Wette ein, daß dann alle Realisten
zu Utopisten gemacht werden – und die Blinden zu Realisten.