CDU – im Schlafwagen zum Erfolg

Am 27. September wird es zehn Jahre her sein, dass Sozialdemokraten und Grüne die Bundestagswahlen gewannen und bald darauf ihre erste Koalition auf Bundesebene eingingen. Nur zehn Jahre, möchte man fragen. Denn, so der Eindruck, weiter als heute könnte man von den furiosen Bildern des Wahlabends, mit den einstigen Triumphatoren Schröder, Fischer und Lafontaine, wohl kaum entfernt sein.

Damals, am Ende des „sozialdemokratischen Jahrhunderts“ (Dahrendorf), stand die Sozialdemokratie im Zenit ihrer Macht – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in allen wichtigen Staaten Westeuropas und darüber hinaus: In Frankreich regierte mit Premierminister Lionel Jospin ein Sozialist, in Italien amtierte Romano Prodi für das Ulivo-Bündnis als Ministerpräsident, in Großbritannien probierte Tony Blair den „Dritten Weg“ – und in den USA verkörperte Bill Clinton mit seiner Ablösung der Regierung Bush senior den Erfolg der einstigen Nachkriegskinder und Baby-Boomer, der Generation von „68“.

Doch nachdem sich die einstigen „68er an der Macht“ 1 inzwischen von dieser verabschieden mussten, hat sich auch die politische Landschaft Europas radikal verändert. In Frankreich erdrückt die mediale Omnipräsenz von Nicolas Sarkozy die Chancen des Parti socialiste, dessen Flügel sich auf ihrem kommenden Parteitag einen harten Kampf um den künftigen Kurs liefern werden. In Italien betreibt die Regierung Berlusconi eine rechtspopulistische Politik mit linksgestrickten Versatzstücken, die eine geschwächte Linke massiv Stimmen kostet. 2 Und in England steht New Labour mit dem glücklosen Gordon Brown nach gewaltigen Stimmeneinbußen vor dem Machtverlust. Fataler könnte die Lage der europäischen Sozialdemokratie also kaum aussehen.

In der Bundesrepublik jedoch scheint der Zustand besonders dramatisch. Dank der Übernahme des Blairschen „Dritten Weges“ durch die Agenda-Politik Gerhard Schröders erreicht die SPD bei Umfragen nicht mehr annähernd die 30-Prozent-Marke. Damit entfernt sie sich mehr und mehr nicht nur von einer eigenen Kanzlerschaft, sondern auch vom einstigen Status einer Volkspartei. 3 Angesichts des anhaltenden Wachstums der Linkspartei wird man wohl auch längerfristig von einer massiv geschwächten SPD und damit einer gespaltenen Linken ausgehen müssen.

 

Schattengewächs CDU

Wer jedoch glaubt, dass deswegen die zweite deutsche Volkspartei auf ungeahnte Höhen enteilt, reibt sich die Augen. Das Gegenteil ist der Fall: Auch der Union gelingt es nicht, sich nennenswert vom äußerst schwachen Ergebnis der letzten Wahlen – 35,2 Prozent gegenüber 34,2 Prozent für die SPD – abzusetzen.

Hieran zeigt sich: Die gegenwärtige relative Stärke der CDU ist eine bloß geliehene; sie basiert primär auf der Schwäche der SPD. Das große Glück der Union besteht darin, dass sie quasi im Windschatten der Dauerdebatte um die Linke weitgehend ungeschoren davonkommt.

Das könnte sich allerdings schon Ende dieses Monats ändern, wenn nämlich am 28. September in Bayern ein neuer Landtag gewählt wird. Das vorhersehbar abnehmende Gewicht der CSU – selbst die politische Zäsur eines Verlusts der absoluten Mehrheit scheint derzeit möglich – dürfte die anhaltende Schwäche der Union bloßlegen. (Zum Vergleich: 2003, bei der letzten Wahl Edmund Stoibers, erreichte die CSU 60,7 Prozent der Stimmen, und auch Franz Josef Strauß erzielte stets Ergebnisse von zumeist weit über 55 Prozent.)

Alle bisherigen Wahlen dieses Jahres – Hessen, Niedersachsen, Hamburg – bescherten der Union empfindliche Stimmverluste. Doch das strategische Versagen der sozialdemokratischen Führungsspitze sorgte für den Umschlag in eine gefühlte Hegemonie der Konservativen.

Tatsächlich ist aber auch die Union anhaltend profillos und tief gespalten. Der Grund für diesen Zustand liegt auf der Hand: Durch den für sie katastrophalen Ausgang der letzten Bundestagswahl hat sie schmerzhaft erfahren müssen, dass ein neoliberaler Modernisierungskurs über keine Mehrheit in diesem Lande verfügt. Im Gegenteil: Es gibt eindeutig eine sozialkonservative Mehrheit, die von weiteren Zumutungen zulasten der Arbeitnehmer und sozial Schwachen – bei gleichzeitiger Entlastung der Kapitalbesitzer – verschont bleiben möchte. Am stärksten reagiert in der CDU auf diese Entwicklung, motiviert auch durch die Erfolge der „Linken“, der selbsternannte „Arbeiterführer“ Jürgen Rüttgers.

Gleichzeitig gibt es jedoch auch eine progressive Mehrheit in gesellschaftspolitischen Fragen, die an einer modernen Politik, etwa an einer Gleichstellung der Geschlechter, interessiert ist, wie sie teilweise von Ursula von der Leyen, aber auch von Ole von Beust, verkörpert wird.

Diese beiden Positionen lassen die klassischen Unionsflügel, den altkonservativen wie den wirtschaftsliberalen, zunehmend ins Hintertreffen geraten – und verunsichern gleichermaßen Parteimitglieder wie auch weite Teile der angestammten Wählerschaft. Und das umso mehr, als der Wahlausgang in Hessen gezeigt hat, dass sich mit einer Politik der reaktionären Zuspitzung, wie von Roland Koch im Wahlkampf betrieben, einst errungene Erfolge kaum wiederholen lassen.

 

Knackpunkt Bayernwahl

Die Kanzlerin versucht deshalb unbedingt zu vermeiden, die in ihrer Formation angelegten Konflikte zur Austragung gelangen zu lassen. Doch der hektische Streit um die Ausweitung der Pendlerpauschale zwischen den beiden Parteivorsitzenden Huber und Merkel demonstrierte soeben erst die Nervosität in den Reihen der Union. Vom Ausgang der Bayernwahl dürfte abhängen, ob der Konflikt weiter lediglich schwelen oder offen ausbrechen wird.

Weit entfernt von der einst auf dem Leipziger Parteitag 2003 propagierten neoliberalen „Revolution“ scheint Merkel eher im Schlafwagen zum Erfolg kommen zu wollen – was Erinnerungen an die „Politik der ruhigen Hand“ Gerhard Schröders hervorruft. Die SPD leistet ihr dabei, indem sie jegliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, die denkbar beste Unterstützung.

Hinzu kommt ein bemerkenswerter Rückenwind aus den Medien. Beispielhaft dafür ist etwa die Tatsache, dass um den Verlauf der ersten 100 schwarz-grünen Tage in Hamburg kein Medienvertreter ein großes Aufheben machte – ungeachtet der nach wie vor keinesfalls entschärften Knackpunkte, etwa den Bau des Steinkohlekraftwerks in Moorburg.

Damit wurde Schwarz-Grün gleichsam über Nacht zur bundesrepublikanischen Normalität.

Diese Geräuschlosigkeit ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, was Schwarz-Grün in Hamburg unmittelbar vorausgegangen ist – nämlich die Koalition Ole von Beusts mit dem Rechtspopulisten Ronald Schill im Jahre 2001 und die anschließende Alleinregierung der Union ab 2004. Von Schill zu den Grünen: Das zeigt den weiten Weg, den die Union, aber auch die Grünen seither zurückgelegt haben – und macht deutlich, dass man auch auf Bundesebene für die Zeit nach der Wahl 2009 nichts wird ausschließen können.

Zumal auch die FDP derzeit alle Anstalten macht, sich auf die einst regelrecht verhassten Grünen zuzubewegen. Das unter Federführung von Wolfgang Gerhardt, dem früheren Partei- und heutigen Vorstandsvorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung, zustande gekommene Positionspapier „Für eine neue Sozialpolitik der Teilhabe“ 4 signalisiert jedenfalls ein zumindest partielles Abrücken vom einstigen Vulgärliberalismus, für das sich Altliberale wie Gerhart Baum, Burkhard Hirsch oder Sabine Leutheusser-Schnarrenberger schon seit langem stark machen. Offensichtlich gelangen auch die Liberalen zu der Einsicht, dass diese Politik wesentlich mehr Erfolg verspricht als eine harte neoliberale Konfrontationsstrategie – allein schon hinsichtlich zukünftiger Koalitionsmöglichkeiten.

 


Politik der Anähnelung

Was wir derzeit – mit Blick auf CDU/CSU, FDP und Grüne – erleben, ist eine Politik der wechselseitigen Anähnelung. Das belegen auch die Äußerungen des wahrscheinlich zukünftigen grünen Parteivorsitzenden Cem Özdemir, der seinen Sympathien für Schwarz-Grün bereits eindeutig Ausdruck verliehen hat. 5

Diese Entwicklung ist umso erstaunlicher, als sich seit 1998 an den einstigen Koalitionsbedingungen eigentlich nichts grundlegend geändert hat. Nach wie vor ist – glaubt man den Umfragen – eine Koalition von Union und FDP eher unwahrscheinlich. Wie schon 2005 verfügt dagegen das einstige linke Lager aus SPD, Grünen und Linkspartei über eine Mehrheit der Stimmen – und scheint doch von einer möglichen Koalition auf Bundesebene weiter entfernt denn je. Der primäre Grund dafür: Zwar steht mit Lafontaine als dem einzig Verbliebenen des einstigen Siegertrios der eigentliche Kopf des rot-grünen Bündnisses weiterhin bereit – allerdings jetzt als Vorsitzender der neuen Linkspartei und damit in der vermeintlich „falschen Partei“.

Dies symbolisiert, dass sich seit 1998 zweierlei entscheidend verändert hat: erstens die parteipolitische Lage, und zweitens die Einstellung der politischen und vor allem meinungsmachenden Eliten. Das zeigt sich daran, dass nicht nur Schwarz-Grün zunehmend als normal empfunden, sondern sogar „Jamaika“, die schwarz-gelb-grüne Ampel, mehr und mehr denkbar wird.

Auch in dieser Hinsicht dürfte der Ausgang der Bayern-Wahl von maßgeblicher Bedeutung sein. Jeder Verlust der CSU auf landespolitischer Ebene schwächt deren bundespolitischen Einfluss und damit auch deren bisher entschiedenes „Nein“ zu einer Koalition mit den Grünen. Derzeit spricht somit nichts dafür, dass sich in einem Jahr, wenn am 27. September 2009 der neue Bundestag gewählt wird, das Ende der ersten Großen Koalition von 1969 wiederholen könnte. Damals stellte bekanntlich mit der SPD der vormalige Juniorpartner den neuen Kanzler.

In anderer Hinsicht könnte sich 1969 hingegen durchaus wiederholen, weil damals die FDP (erstmalig) die Seiten wechselte – wie im kommenden Jahr eventuell die Grünen.

Ursache dafür war jedoch, dass sich der Wind im Zuge der 68er-Bewegung massiv gedreht hatte, was sich spätestens mit der Wahl des neuen Bundespräsidenten Gustav Heinemann im März 1969 auch parteipolitisch manifestierte. Damit war das erforderliche Signal für den Politikwechsel zu Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ und zur folgenden sozial-liberalen Epoche gegeben.

Von der Wahl des kommenden Bundespräsidenten am 23. Mai 2009 wird ein derartiges Wechsel-Signal zugunsten der SPD schwerlich ausgehen. Vielmehr handelt es sich dabei für die Sozialdemokratie um eine echte „lose-lose-Situation“. Ob Gesine Schwan die Wahl verlieren oder – dank des Ausgangs der Bayern-Wahl – tatsächlich mit den Stimmen der Linken gewinnen sollte, in jedem Fall verlöre die SPD: im ersten Fall direkt, im zweiten – nach wie vor eher unwahrscheinlichen – Fall schon deshalb, weil die Wahl Gesine Schwans kurz vor den Bundestagswahlen das Schreckgespenst einer Links-links-Koalition auf ungeahnte Größe anwachsen und damit einen SPD-Erfolg noch unwahrscheinlicher machen würde.

Bereits heute, gut ein Jahr vor der Wahl, stehen – schon aufgrund der Entwicklung in Hessen – alle Zeichen auf einen harten Lagerwahlkampf. Denn das einzige, was die Konservativen – bis weit ins (neo)liberale und grüne Spektrum hinein – heute noch eint, ist die radikale Abwehr der Linkspartei als angeblicher Nachlassverwalterin der untergegangenen DDR – wahlweise mit „Roten Socken“ (wie 1994) oder „Roten Händen“ (1998). Im kommenden Wahljahr, zugleich das 20. Jahr der Wiedervereinigung, wird sich deshalb die gesamte Linke ganz besonders warm anziehen müssen.


1 Vgl. Albrecht von Lucke, 68er an der Macht, in: „Blätter“, 11/1998, S. 1331-1338.
2 Vgl. dazu den Beitrag von Rudolf Hickel in diesem Heft, S.12.
3 Vgl. Oliver Nachtwey, In der Mitte gähnt der Abgrund, in: „Blätter“, 8/2008, S. 58-68.
4 www.fnst-freiheit.org/webcom/show_article.php/_c-449/_nr-1243/_p-1/i.html.
5 Vgl. „Wir sind keine Versuchskaninchen“, Gespräch mit Cem Özdemir, in: „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, 17.8.2008.
Kommentare und Berichte - Ausgabe 09/2008 - Seite 5 bis 8