Der neue Kaukasuskrieg überraschte die Welt, obwohl sich im Umfeld
ungelöster Sezessionskonflikte Georgiens ein größerer Waffengang
bereits seit längerem abgezeichnet hatte. Als Kaukasuskrieg vermitteln
die Ereignisse seit dem 8. August ein Déjà-vu-Erlebnis. Seit 1991 war
dies der sechste Krieg in der Region. Drei Sezessionskriegen im
Südkaukasus um Berg-Karabach, Südossetien und Abchasien zwischen 1991
und 1994 folgten im Nordkaukasus die beiden Tschetschenienkriege als
das mit Abstand schlimmste Gewaltereignis im postsowjetischen Raum.
Dieser neueste Krieg im Kaukasus jagte allerdings wie kein anderer
zuvor regelrechte Schockwellen durch die internationale Politik, geriet
hier doch Russland erstmals mit einem souveränen Nachbarland in
militärischen Konflikt. Diese zwischenstaatliche Dimension übertraf
auch die Konfliktfiguration in dem zwischen Armenien und Aserbaidschan
ausgetragenen Karabachkrieg (1991-1994), der immerhin Zigtausend
Todesopfer gefordert und über eine Million Menschen zu Flüchtlingen
gemacht hatte. Umgehend kamen geopolitische Schlagworte ins Spiel:
„Stellvertreterkrieg“, „Krieg ums Öl“, „Neuer Kalter Krieg“, „globale
Krise“.
Wer hat den Krieg provoziert ?
Unter den vielen Fragen, die mit Kriegsbeginn am 8. August aufgeworfen
wurden, ist die häufigste: Wie kam es zu der georgischen Offensive
gegen Südossetien, die doch angesichts der Rückendeckung der
abtrünnigen Landesteile durch russische Militärmacht selbstmörderisch
erscheinen musste?
Zwei Erklärungsmodelle werden hier in der Regel bemüht: Im ersten geht
der „Sturm auf Zchinwali“, die Hauptstadt Südossetiens, aus einer
langen, seit April 2008 verschärften Ereigniskette gegenseitiger
Provokationen in und um Südossetien und Abchasien hervor. Präsident
Saakaschwili wehrt sich gegen den Vorwurf, er habe leichtfertig einen
Krieg vom Zaun gebrochen. Seit Wochen habe er vor militärischer
Eskalation gewarnt und am Vorabend des Krieges vergeblich versucht, von
Russland Aufklärung über Truppenbewegungen zwischen Nord- und
Südossetien zu erlangen. Noch am Abend vor Kriegsausbruch hatte der
georgische Präsident eine einseitige Waffenstillstandserklärung mitsamt
erneuten Autonomieangeboten an Südossetien gerichtet, was auf der
Gegenseite mit verstärkten Angriffen gegen georgische Dörfer und
Stellungen in der Konfliktzone erwidert wurde. Auch der russische
Militärexperte Pawel Felgenhauer weist darauf hin, dass der Waffengang
von der russischen Gegenseite gründlich vorbereitet worden war. 1
Aber selbst wenn die georgische Offensive provoziert wurde, erheben
sich Zweifel an ihrer Durchführung. Warum wurde nicht als erstes der
Roki-Tunnel zerstört, jenes Nadelöhr zwischen Nord-und Südossetien,
durch das russische Panzer in die Konfliktzone eindrangen? „Stattdessen
hat er nachts, am Vorabend der Olympischen Spiele, eine schlafende
Stadt beschossen“, kritisiert der ehemalige georgische Minister für
Konfliktlösung Saakaschwilis Offensive gegen Zchinwali. 2
Die zweite Erklärung weist darauf hin, dass georgische Politiker seit
2004 wiederholt mit der Option militärischer Konfliktlösung gespielt
haben. Im Sommer 2004 hatte der damals noch neue Präsident Saakaschwili
einen Vorstoß mit Sicherheitskräften nach Südossetien befohlen, um
Schmuggel zu bekämpfen. In Abchasien nahmen im Sommer 2006 georgische
Truppen das obere Kodori-Tal ein. Saakaschwili erklärte dies zum
Ausgangspunkt für die Rückholung des abtrünnigen Landesteils. Seither
waren die Verhandlungsstränge zu den Konfliktgegnern in Zchinwali und
Suchumi unterbrochen. Militärische Operationen zwecks Ausweitung
georgischer Positionen in den Sezessionsterritorien waren also nichts
Neues. Wenn denn die SüdossetienOffensive von georgischer Seite geplant
war, was hat man sich dabei gedacht?
„Signale“ des Westens ?
Das führt zu der Frage, wie in Georgien westliche Unterstützung
wahrgenommen wird. Auch in den USA wird diskutiert, ob die bisher
erbrachte Unterstützung missverständliche Zeichen gesetzt habe. Sie war
ja durchaus massiv: Nach Angaben des State Department erhielt Georgien
seit 2002 830 Mio. US-Dollar an Hilfe. 2006 war es der drittgrößte
Empfänger von US-Hilfe pro Kopf (93 Dollar), nach Irak (150) und
Armenien (107), aber noch vor Afghanistan (62). Bis 2006 hatte es 178
Mio. an US-Militärhilfe erhalten.
Für den „Anker der regionalen Stabilität und Prosperität“, als der
Georgien in Washington noch plakatiert wurde, nachdem Freedom House die
demokratische Entwicklung in dem Land bereits auf den Stand des Jahres
2000 zurückstufte, wurden 2008 weitere Geldmittel für Reform und
Demokratisierung freigegeben. Dazu kam kräftige moralische
Unterstützung der „Rosenrevolution“ und ihres Reformprogramms durch die
USA und der Rückhalt aus Washington für einen baldigen NATO-Beitritt
Georgiens.
Doch militärische Rückendeckung für einen Angriff auf seine abtrünnigen
Landesteile wurde Tiflis keinesfalls signalisiert. Entgegen dem von der
russischen Propaganda verbreiteten Bild, wonach die georgische Führung
stets nur auf amerikanische Einflüsterung hin handelt, haben westliche
Akteure einschließlich Washingtons Georgien vor einer militärischen
Konfliktlösung gewarnt.
Also ein Missverständnis? Ein junger georgischer Autor, Devi Dumbadze,
legte in der „Neuen Zürcher Zeitung“ eine Deutung aus georgischer
Innensicht vor. 3 Die Regierung habe womöglich Tauschbeziehungen von
Loyalität und Schutz unter Ungleichen, wie sie in der georgischen
Gesellschaft bis in die Gegenwart hinein funktionieren, auf ihr
Verhältnis zu „befreundeten Staaten“ übertragen und dabei die sachlich
vermittelten Herrschaftsverhältnisse zwischen modernen Staaten
verkannt. Gegenüber USA und NATO verhalte sich Georgien mit seiner
Loyalitätsbekundung wie gegenüber einem traditionellen Schutzpatron,
wenn es etwa bis vor kurzem mit 2000 Soldaten das drittgrößte
militärische Kontingent im Irak stellte. Konnte der loyale Klient dann
nicht vom Patron Rückendeckung für sein Unternehmen in Südossetien
erwarten? Konnte einen solchen Tausch im traditionellen
Klient-Patron-Verhältnis aber auch ein georgischer Präsident erwarten,
der als „globalisierter Osteuropäer“ gilt, in Straßburg, Florenz und
New York studiert und als Anwalt in Manhattan gearbeitet hatte?
Der Aufmarsch der Stereotype
Auch in westlichen Darstellungen haben gewisse Stereotype einen
Stellvertreterkrieg nahegelegt, das US-Engagement im Kaukasus und
kaspischen Raum überschätzt, die Geopolitik eines New Great Game
beschworen. Mag die US-Unterstützung für das kleine Georgien sowohl
materiell als auch moralisch beträchtlich gewesen sein, der Brennpunkt
einer Ost-West-Auseinandersetzung war der Kaukasus bislang nicht. Für
die amerikanische Außen-und Sicherheitspolitik gibt es andere
Prioritäten und Baustellen, die ihre Kraft voll in Anspruch nehmen.
Auch
der „Krieg ums Öl“ begleitet die Kommentare zum neuen Kaukasuskrieg
beharrlich. Gewiss prägen Ölfelder und Pipelines das Profil der
kaukasischen Landbrücke und des kaspischen Raums und spielen in den
internationalen Beziehungen dieser Region eine Rolle. Kein
Kaukasuskommentar kommt ohne den Hinweis auf die BTC aus, jene Pipeline
von Baku über Tiflis an die türkische Mittelmeerküste nach Ceyhan, die
mit kräftiger politischer Unterstützung aus Washington gelegt wurde, um
Öl aus dem kaspischen Becken unter Umgehung russischen und iranischen
Territoriums auf den Weltmarkt zu führen (gegenwärtig ein Prozent der
weltweiten Erdölproduktion).
Wahrscheinlich sind in Planung
befindliche Pipelineprojekte tatsächlich von der Georgienkrise
betroffen. Aber „Krieg ums Öl“ ist eine drastisch verkürzte Darstellung
der komplizierten Konfliktbeziehungen im Kaukasus und ihrer
internationalen Umgebung. Sie gehört ins Reich der geopolitischen
Stammtischparolen. Direkte russische Kontrolle über die Pipelines, mit
der in einigen Kommentaren argumentiert wurde, setzt dann wirklich die
dauerhafte Einvernahme georgischen Staatsterritoriums durch Russland
voraus. Der Ölmarkt reagierte denn auch anders als die geopolitischen
Analysen. Statt nach oben, wohin Öl-und Gaspreise sich im Falle eines
geopolitischen Schocks und der Aussicht auf Unterbrechung relevanter
Lieferbeziehungen für Energieversorgung gewöhnlich entwickeln, gingen
sie in den letzten Wochen und Monaten, in denen sich der neue
Kaukasuskrieg am Horizont abzeichnete, deutlich nach unten.
Zwar
befürchtet man in Aserbaidschan, dem Energieproduzenten im Südkaukasus,
dass Investoren nun neue Risikoberechnungen für Pipelines anstellen,
doch mit größerer Sorge schaut man hier auf die russische Haltung
gegenüber Sezessionsgebilden, gehört doch Aserbaidschan mit dem
ungelösten und immer noch brenzligen Karabachkonflikt neben Georgien
und Moldowa zu den sezessionsgeschädigten Staaten im GUS-Raum.
Die
territoriale Integrität Georgiens wird von Moskau politisch zunehmend
in Frage gestellt und mit militärischen Mitteln verletzt. In diesen
Sinne sagte Außenminister Lawrow auf einer Pressekonferenz am 14.
August: „Das Gerede über die territoriale Unversehrtheit Georgiens kann
man vergessen“. 4 Auch in der russischen Bevölkerung plädiert man laut
neuesten Meinungsumfragen zu 46 Prozent für eine Anbindung Südossetiens
an Russland und zu 34 Prozent für die staatliche Unabhängigkeit des
Winzlings. Nur vier Prozent sehen dieses Territorium als Teil des
georgischen Staates.
Die Angst der Nachbarn
In
der von massiver Kriegspropaganda benebelten Öffentlichkeit Russlands
denkt kaum noch jemand daran, eine Verbindung zu dem russischen
Sezessionsfall Tschetschenien herzustellen. War da nicht was? Kaum
noch, der tschetschenische Separatismus wurde effektiv zerbombt und
seine Bekämpfung sodann relativ erfolgreich dem Kadyrow-Klan
überantwortet. Vom Nordkaukasus geht heute weniger Sezessionsgefahr für
die Russische Föderation als vielmehr Solidarität mit Abchasen und
Osseten in ihrer Auseinandersetzung mit Georgien aus.
Die
GUS-Staaten dagegen reagierten betreten. Selbst die
sicherheitspolitischen Partner Russlands innerhalb der Organisation des
Kollektiven Sicherheitspakts (ODKP, engl. CSTO) äußerten sich
zurückhaltend, eher irritiert, zu dem russischen Vorgehen gegen ein
„nahes Ausland“.
In Belarus ermahnte der russische Botschafter
die politische Führung zu mehr Unterstützung: „Sie sollten doch
deutlicher zu solchen Fragen Stellung beziehen, wo wir doch demnächst
Mitglieder eines Unionsstaates sein werden“. 5 In der Ukraine, die von
den separatistischen Führungen Abchasiens und Südossetiens der
Beteiligung an den Kämpfen in Georgien bezichtigt wurde, brachen erneut
Gräben zwischen den innenpolitischen Lagern auf. Während Präsident
Juschtschenko deutliche Worte zur Unterstützung der territorialen
Integrität Georgiens fand, mahnten Stimmen aus dem Janukowitsch-Lager
zur Zurückhaltung und Kommentare aus der Kommunistischen Partei
unterstützten das Vorgehen Russlands.
Russlands Motive für die
Operation „Erzwingung des Friedens“, für die militärische Antwort auf
den unseligen, in der russischen Kriegspropaganda zum „Völkermord“
hochgeschraubten georgischen Angriff auf Zchinwali, werden vieldeutig
diskutiert. Ein zentrales Motiv, das aus russischen Kommentaren und der
Vorgeschichte des neuen Kaukasus-Konflikts hervorgeht, ist die
Bestrafung Georgiens für sein demonstratives Abrücken von Russland in
den letzten Jahren.
In jedem Fall ist ein Ergebnis der
Georgienkrise, dass Gräben tiefer geworden sind: unüberwindbar tief
zwischen Georgien und seinen abtrünnigen Landesteilen, erschreckend
tief zwischen Georgien und Russland und zunehmend tiefer auch zwischen
Russland und der westlichen Welt.
Werden damit innerhalb
Europas und im transatlantischen Verhältnis die Trennlinien in der
Russland- und Georgienpolitik schärfer? Oder wird eher eine Konvergenz
zwischen den Lagern der Russland-Kritiker und der Russland-Einbinder
zutage treten, wobei sich letztere auf die Kritiker zubewegen? Das
hängt von der weiteren Entwicklung ab.
Wird der Kreml den mit
europäischen Partnern vereinbarten Waffenstillstand in Georgien
wirklich umsetzen? Ober wird er jede noch so kleine und sehr
wahrscheinliche Störung der Waffenruhe zum Anlass nehmen, Georgien
militärisch weiterhin zu züchtigen und sich als die alleinige Schutz-
und Vormacht im Kaukasus zu gerieren? Russland muss sich entscheiden:
zwischen machtpolitischen Instrumenten aus dem 19. Jahrhundert und
seiner mit Nachdruck beanspruchten Rolle eines verantwortlichen,
gewichtigen, für die Lösung weltpolitischer Probleme unumgänglichen
internationalen Akteurs des 21. Jahrhunderts.
1 Vgl. dessen Interview in „Le Figaro“ vom 18.8.2008.
2 Zit. nach „Süddeutsche Zeitung“, 14.8.2008, S. 3.
3 Vgl.„Neue Zürcher Zeitung“, 4.8.2008.
4 Interfax, Itar-Tass, 14.-17.8.2008.
5 Zit. nach Fedor Lukjanow in: „Wedomosti“, 10.8.2008.