Dass man sich möglichst nicht in Dinge einmischen sollte, von denen
man nichts versteht, haben zwei Herren aus Chemnitz namens Friedrich
Thießen und Christian Fischer kürzlich eindrucksvoll bewiesen. Die
beiden, die sich von Berufs wegen gewöhnlich mit ökonomischen Fragen
beschäftigen, haben einen Ausflug in die Sozialgesetzgebung unternommen
und sich in der „Zeitschrift für Wirtschaftspolitik“ unter der
Überschrift „Die Höhe der sozialen Mindestsicherung – Eine
Neuberechnung ‚bottom up‘“ zur Höhe des Hartz-IV-Satzes geäußert. 1
Da die „Untersuchung“ den Anspruch hat, wissenschaftlich zu sein, gehen
die beiden wackeren Forscher, von denen sich der eine Professor Doktor
der Wirtschaftswissenschaften und der andere Diplomkaufmann nennen
darf, von einer Grundhypothese aus: „Implizite Annahme der Untersuchung
ist Rationalverhalten des Individuums“, lassen die beiden Autoren
wissen und geben durch das schreibökonomische Einsparen des Artikels
bereits die Richtung vor: Sie gehen von einem Menschen aus, der danach
strebt, seine Existenz unter ausschließlich ökonomischen
Gesichtspunkten aufrechtzuerhalten, profaner ausgedrückt: so billig wie
möglich einzukaufen.
In langen Tabellen erläutern die beiden, welche Waren und
Dienstleistungen dem mit deutscher Gründlichkeit normierten
Modellindividuum („männlich“, „Körpergröße 1,70 m, Gewicht 70 kg“,
„deutsche Staatsangehörigkeit, deutsche Verbrauchsgewohnheiten“)
zugestanden werden sollten. Auch Menge, Haltbarkeitsdauer und Preis
werden exakt festgelegt. Und so wird das sich rational verhaltende
Individuum angehalten, monatlich neun Kilogramm Brot zu einem Preis von
50 Cent pro Kilo zu verzehren, „Fisch (fettarm)“ für 2,87 Euro das Kilo
zu essen und sich, wenn es kalt wird, einen Wintermantel für neun Euro
zu kaufen, der dann, da sind die beiden Herren gnädig, nach zwei Jahren
durch einen neuen ersetzt werden darf. Da das Individuum auch seine
Wohnung einrichten und sich bilden können sollte, gibt’s noch einige
Einrichtungsgegenstände wie zum Beispiel ein Tellerchen für 50 Cent,
einen auf fünf Jahre Lebensdauer veranschlagten Fernseher für 49 Euro
und eine Jahreskarte für die Stadtbibliothek zum Preis von sieben Euro.
Ergebnis der wissenschaftlichen Mühen: „Ohne Wohnkosten betragen die
Kosten der sozialen Mindestsicherung im Raum Chemnitz im Minimumfall
132 Euro“. Etwas mehr als die Hälfte davon veranschlagen die beiden
Möchtegern-Sozialreformer für Essenskosten. Für eine „ausreichende
gesunde abwechslungsreiche Kost nach Empfehlungen der WHO“ benötigt das
Modellindividuum demnach genau 68,09 Euro pro Monat.
Die beiden haben jedoch nicht nur einen Minimum-, sondern auch einen
„Maximumfall“ errechnet, bei dem es sich um eine „weite Interpretation
der Ziele der sozialen Mindestsicherung“ handeln soll. Auch dieser wird
in langen Tabellen dargelegt. So darf zum Beispiel ein Kilogramm
Maximumfall-Brot 70 Cent kosten, es wird nicht nur einer, sondern es
werden vier Teller zugestanden, es gibt Mineral- statt Leitungswasser,
und für Kultur werden statt der monatlichen 1,40 Euro des Minimumfalles
14,47 Euro veranschlagt. Im Ergebnis liegt der Maximumfall mehr als
doppelt so hoch wie der Minimumfall, aber mit 278 Euro immer noch
deutlich unterhalb des Hartz-IV-Regelsatzes von derzeit 351 Euro pro
Monat.
Die beiden Herren haben anscheinend nicht nur mangelnde praktische
Erfahrung im Einkaufen von Dingen des täglichen Bedarfs, sondern
scheinen auch, gelinde ausgedrückt, nicht über sonderlich vertiefte
Kenntnisse des Sozialgesetzbuches zu verfügen. So rechnen sie
beispielsweise weder im Minimum- noch im Maximumfall Kosten für Strom
und Warmwasserbereitung mit ein, obwohl diese nach den geltenden
Regelungen des zweiten Sozialgesetzbuches aus dem Hartz-IV-Regelsatz
bestritten werden müssen.
„Bild“-Kampagne gegen „Sozial-Abzocker“
Man könnte das Thießen-Fischersche Elaborat nun eigentlich getrost
beiseite legen und bei Gelegenheit als Beispiel für unwissenschaftliche
Wissenschaft heranziehen. Da die Veröffentlichung der Untersuchung aber
mitten in eine „Bild“-Serie über „Sozial-Abzocker“ hineinplatzte,
landete sie nicht im Altpapier bzw. im elektronischen Nirwana, wo
eigentlich ihr verdienter Platz wäre, sondern auf Seite 1 der
„Bild“-Zeitung. „Professor behauptet 132 Euro Hartz IV im Monat
reichen!“, lautete die Schlagzeile vom 6. September. Sie wird ihre
Wirkung auf viele Leser nicht verfehlt haben.
Schließlich hatte ihnen die „Bild“-Zeitung zu diesem Zeitpunkt bereits
eine Woche lang eingehämmert, dass Hartz IV ohnehin zu hoch sei und
dass „der Missbrauch von Hartz IV […] immer größer [wird] – 126 600
aufgedeckte Fälle in nur einem Jahr“. „So wird bei Hartz IV
abgezockt!“, „So einfach ist es, den Staat zu bescheißen“, „Morgens
kassiert sie Hartz IV – abends verkauft sie ihren Körper“, so oder so
ähnlich lauteten die Überschriften der ersten Septemberwoche.
„Bild“ erzählt jedoch nicht nur Geschichten über
Sozialleistungsmissbrauch, sondern bildet seine Leser auch. So wurde am
1. September unter der Überschrift „Wer kriegt Hartz IV? BILD
beantwortet die wichtigsten Fragen“ in vermeintlicher Exaktheit
verkündet, eine vierköpfige Familie mit zwei 14- und 16jährigen Kindern
bekäme bei einer unterstellten Warmmiete von 619 Euro monatlich 1812,40
Euro Hartz IV – obwohl die gesetzlichen Bestimmungen lediglich knapp
1490 Euro vorsehen. Auch für die behauptete „Missbrauchsquote“, die
laut „Bild“-Zeitung „nach Schätzungen bei 15 Prozent der Fälle“ liegt,
gibt es keinen Anhaltspunkt in der Realität. Alle Untersuchungen der
letzten Jahre kommen auf einen Missbrauch von Hartz IV in einer
Bandbreite von zwei bis allerhöchstens fünf Prozent.
Die allermeisten „Bild“-Zeitungsleser, von denen vermutlich manche mit
einem Nettolohn unter dem angeblichen Hartz-IV-Betrag von 1812,40 Euro
eine vierköpfige Familie ernähren müssen, wissen natürlich nicht, dass
ihre Zeitung mit falschen Zahlen operiert. Und so nähren solche
Behauptungen gezielt die Wut auf die „Sozial-Abzocker“ mit der Folge,
dass gar nicht mehr zwischen den relativ wenigen
Sozialleistungsbetrügern und der übergroßen Zahl der ehrlichen
Hartz-IV-Empfänger unterschieden wird. Inzwischen kann man bereits in
Internetforen beobachten, wie Geringverdiener, von denen viele nur eine
Betriebsschließung oder einen Bandscheibenvorfall von Hartz IV entfernt
sind, auf Hartz-IV-Empfänger losgehen, als ob es sich diese alle auf
Kosten der arbeitenden Bevölkerung in der angeblich ach so bequem
gepolsterten sozialen Hängematte bequem gemacht hätten.
Die Hartz-IV-Wirklichkeit
Wie
sieht jedoch die Wirklichkeit im Jahr 4 von Hartz IV aus? Der 2005 auf
345 Euro festgelegte Regelsatz, der schon damals nach Berechnungen des
Paritätischen Wohlfahrtsverbandes bei mindestens 412 Euro hätte liegen
müssen, stieg seitdem, trotz der hohen und insbesondere Menschen mit
geringen Einkünften belastenden Inflation, um gerade einmal sechs auf
heute 351 Euro pro Monat. (Ehe-)Paare müssen mit 316 Euro pro Kopf
auskommen, für Kinder gilt ein Satz von 211 Euro für unter 14jährige
und 281 Euro für über 14jährige.
Hinzu kommt, dass eine stets
wachsende Zahl von Hartz-IV-Empfängern über diese Regelsätze nicht
einmal mehr in voller Höhe verfügen kann. Denn viele müssen einen Teil
davon zur Finanzierung ihrer Wohnungsmiete aufwenden. Die Miete wird
nämlich nach den Bestimmungen des zweiten Sozialgesetzbuches nur dann
komplett bezahlt, wenn sie „angemessen“ ist. Und da viele Kommunen und
Landkreise mietmarktfremde Obergrenzen festgelegt haben, leben viele
Hartz-IV-Empfänger in „unangemessenen“ Wohnungen. So müssen sie
entweder den „unangemessenen“ Teil aus den Regelsätzen bestreiten oder,
falls sie überhaupt eine günstigere Wohnung finden können, umziehen.
Die bei einem Neueinzug in der Regel fällige Mietkaution wird zwar von
den Behörden in der Regel bezahlt – jedoch nur als Darlehen und nur,
wenn sich der Hartz-IV-Empfänger schriftlich verpflichtet, dieses in
Raten zurückzuzahlen. In der Praxis sieht das dann so aus, dass das
örtliche Job-Center einen Teil des Regelsatzes – meist zwischen 30 und
50 Euro pro Monat – zur Tilgung des Darlehens einbehält.
Manche
Hartz-IV-Empfänger schieben sogar mehrere Darlehen vor sich her. So
sind die Behörden verpflichtet und meist auch bereit, einen
„unabweisbaren“ Bedarf wie beispielsweise die Ersetzung einer kaputten
Waschmaschine durch eine (billige) neue zu bezahlen, dürfen aber
hierfür im Anschluss so lange bis zu zehn Prozent vom Regelsatz
einbehalten, bis das Darlehen getilgt ist. Auch die in Zeiten hoher
Energiepreise üblich gewordenen hohen Jahresabrechnungen der
Stromunternehmen werden, wenn sich der Kunde mit diesen nicht auf eine
Ratenzahlung verständigen kann, auf Antrag meist – aber eben auch
wieder als Darlehen – übernommen.
Inzwischen sind nicht nur
viele Erwachsene bei der Bundesagentur von Arbeit verschuldet, was in
Anbetracht der Tatsache, dass Verschuldung als Vermittlungshemmnis in
Arbeit gilt, geradezu grotesk anmutet, sondern auch viele Kinder. Frei
nach dem Motto „Kinder haften für ihre Eltern“, gibt es nämlich auch
Rückforderungen der Behörden, die auf alle Familienmitglieder verteilt
werden. Niedrigverdiener mit schwankendem Einkommen, die aufstockendes
Hartz IV beziehen, können hiervon ein Lied singen. Verdient ein
„Aufstocker“, beispielsweise im Monat Oktober 200 Euro mehr als üblich,
da er viele Überstunden gemacht hat, kann er die Lohnabrechnung erst
Anfang November bei der Behörde einreichen. Diese rechnet dann den
Anspruch für Oktober rückwirkend neu aus und fordert den „überzahlten“
Betrag von allen Mitgliedern der im Hartz-IV-Deutsch so genannten
„Bedarfsgemeinschaft“ anteilig zurück. In aller Regel wird der
„überzahlte“ Betrag für dringend benötigte Anschaffungen schon lange
ausgegeben sein, und so kann bereits ein Hartz-IV-Säugling Schulden bei
der Bundesagentur für Arbeit haben, die diese 30 Jahre lang
zurückfordern kann.
Bei Lichte betrachtet, ist es eigentlich
ziemlich absurd, was alles unternommen wird, um den Schein zu wahren,
die Hartz-IV-Sätze seien ausreichend. So gibt es immer mehr
Suppenküchen und mit großem finanziellem und personellem Aufwand
betriebene „Tafeln“, in denen Menschen, die man „sozial schwach“ nennt,
gegen Nachweis ihrer „Bedürftigkeit“ verbilligte Lebensmittel einkaufen
können. In vielen Städten werden in den Schulen aus kommunalen Mitteln
oder Spenden finanzierte Ein-Euro-Essen für Hartz-IV-Kinder angeboten,
und zahlreiche kirchliche, kommunale oder private Initiativen
„gewähren“ Hartz-IV-Empfängern zum neuen Schuljahr Beihilfen, um den
Schulbedarf für ihre Kinder einkaufen zu können.
Alle diese
Initiativen helfen Hartz-IV-Empfängern natürlich etwas aus ihrer
finanziellen Misere, geben ihnen aber nicht ihre Würde zurück, die
ihnen durch „Untersuchungen“ wie die der Herren Thießen und Fischer
oder durch „Bild“-Zeitungs- und andere Kampagnen genommen wird. Im
Gegenteil: Wer gezwungen ist, tagaus, tagein überall als Bittsteller
aufzutreten, wer mit ansehen muss, wie die eigenen Kinder in der
Schulmensa ein EinEuro-Essen bekommen, während es für die meisten
anderen kein Problem darstellt, den vollen Preis zu bezahlen, der
braucht ein sehr großes Selbstbewusstsein und ein sehr stabiles
soziales Netz, um sich nicht als Mensch zweiter Klasse zu fühlen. Viele
Hartz-IV-Empfänger haben jedoch weder das eine noch das andere.
„Die
durch sozialstaatliche Sicherungen verbürgte Angstfreiheit der Menschen
ist der demokratischen Substanz unserer Gesellschaftsordnung zugute
gekommen“, schrieb Oskar Negt vor einem Jahr. 2 Durch Hartz IV ist die
Angst zurückgekehrt. Für die demokratische Substanz lässt das nichts
Gutes erwarten.
1„Zeitschrift für Wirtschaftspolitik“, 2/2008, S. 145-173.
2Oskar
Negt, Unterschlagene Wirklichkeit. Leben wir in einer Gesellschaft des
politischen Selbstbetrugs? In: „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“,
11/2007, S. 4-7, hier S. 6.