Arbeit macht das Leben schwer

Themenschwerpunktseditorial

Editorial

 

Arbeit macht das Leben schwer

 

Ohne Arbeit können die Menschen nicht leben. So lautet eine weltweit verbreitete Ansicht über die »Natur« der Menschheit. In manchen Gesellschaften soll sogar nicht einmal essen dürfen, wer nicht arbeitet – oder zumindest nur am untersten Existenzminimum leben. Arbeit ist in allen kapitalistischen Gesellschaften zum Fetisch geworden, der sich von den realen Notwendigkeiten zur Reproduktion wie Ernährung und Wohnen weithin entkoppelt hat. Der heutige Stand der Produktivkräfte ließe es ohne weiteres zu, dass jede/r weltweit ein gutes Leben führen könnte, ohne allzu viel Lebenszeit für Arbeit verwenden zu müssen. Doch im Gegenteil, die Arbeitszeiten nehmen trotz aller Automatisierung wieder zu. Die Forderung nach der 35-Stunden-Woche erscheint wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Epoche.

 

Die Arbeitsgesellschaft hat die sprichwörtliche Schraube wieder einige Drehungen weiter angezogen. Noch in den 1980er Jahren fragten mit dem Arbeitskritiker André Gorz viele nach dem »Ende der Arbeit« – einerseits, weil Arbeit als die Tätigkeit galt, in der sich die entfremdende Warengesellschaft reproduziert, andererseits, weil der gesunde Menschenverstand erwartete, dass die Arbeit weniger wird, wenn ein hohes Niveau an gesellschaftlichem Reichtum erreicht ist und die Produktivität steigt und steigt.

Daraus wurde nichts und ein anderer Arbeitskritiker, Herbert Marcuse, behielt Recht. Er wies nicht nur auf die Rolle der kapitalistischen Arbeit bei der Formierung des »eindimensionalen Menschen« hin. Er stellte auch weitsichtig fest, dass sich noch die größte Arbeitsproduktivität zur Verewigung der Arbeit nutzbar machen lässt und die leistungsstärkste Industrialisierung der Beschränkung der Bedürfnisse dienen kann.

Die Arbeit ging also nicht zurück, und die abhängig Beschäftigten in der Arbeitsgesellschaft sind mehr denn je an sie gebunden, um Selbstwert und Einkommen zu realisieren. Die Arbeit ist heute allerdings anders organisiert als während des Fordismus (der ohnehin nie weltweit durchgesetzt, sondern ein relatives ‚Privileg’ der westlichen Industrieländer war). Im Zeitalter der Auflösung des »Normalarbeitsverhältnisses«, der immateriellen Arbeit, der Prekarisierung, Informalisierung und Arbeitsmigration sind die Formen der lohnabhängigen Arbeit sehr vielfältig geworden. Dazu zählen beispielsweise das »freie« KleinunternehmerInnentum und die vielen Dienstleistungen.

Weil Arbeit zudem billiger geworden ist, entstanden sogar neue, oft unnötige und immer schlechter bezahlte Jobs, bis am Ende beispielsweise private BriefdienstleisterInnen für ein Drittel des Briefträgerlohnes die Briefkästen mit Werbepost verstopften. Nicht nur im Süden der Hemisphäre müssen viele Menschen für Hungerlöhne schuften, dort aber besonders. In Indien beispielsweise wird Kies für den Straßenbau nicht von Maschinen hergestellt, sondern in mühseliger Handarbeit von Steinebrecherinnen, weil ihre Arbeit so billig ist. Schwerstarbeit ist wieder auf dem Vormarsch, weil Energie und Stahl so teuer geworden sind.

Trotz des Reallohnrückgangs reicht die lohnabhängige Beschäftigung im globalisierten Kapitalismus nicht für alle aus. Wie praktisch, denn eine Reservearmee aus Arbeitslosen bietet beim Lohndumping Vorteile. Diszipliniert werden sollen mit dem Konstrukt »Arbeitslosigkeit« freilich nicht nur die Lohnabhängigen, sondern auch die Arbeitslosen. Um sie willfährig zu machen, wird Arbeit für sie regelrecht erfunden. Workfare-Programme, die selbst Almosen an erbrachte Arbeitsleistung koppeln, sind weltweit im Trend, von den Ein-Euro-Jobs bis hin zu den Cash-for-Work und Food-for-Work-Programmen der Entwicklungszusammenarbeit. Ob die verrichtete Arbeit sinnvoll ist oder nicht, ist dabei egal, es geht ums Prinzip. Die mit Zwang gepanzerte Ideologie der Arbeit hat sich mittlerweile so sehr in den Köpfen festgesetzt, dass es ein Leichtes ist, die Arbeitsbeziehungen ganz im Sinne des Konkurrenz- und Leistungsregimes zu gestalten – von der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bis hin zu lukrativen Jobs.

 

Leitfrage unseres Themenschwerpunkts ist, wie sich die Ideologie der Arbeit und ihr Disziplinierungsregime in den heutigen Arbeitsbeziehungen widerspiegeln. Wie stellen sich die veränderten Arbeitsmärkte in der Semiperipherie dar? Helfen Begriffe wie Prekarität, um einen kritischen Arbeitsbegriff zu aktualisieren?

 

die redaktion