Kapitalismuskritik 2.0

in (09.11.2008)

Volkhard Mosler meint, die Krisentheorie von Karl Marx sei aktuell wie nie. 

Das Gespenst geht wieder um. Angesichts der Finanzkrise wird allerorten Karl Marx neu entdeckt. So nahm ihn die Frankfurter Rundschau kürzlich auf die Titelseite. Unter der Überschrift „Die Pleite des Kapitalismus" zitierte das Blatt Passagen aus dem Kommunistischen Manifest. Auch die Hamburger Morgenpost fragte: „Hatte Karl Marx doch Recht?". Und selbst Finanzminister Peer Steinbrück meinte gegenüber dem „Spiegel": „Generell muss man wohl sagen, dass gewisse Teile der marxistischen Theorie doch nicht so verkehrt sind."

In der Tat: Was Karl Marx und Friedrich Engels vor 150 Jahren im Kommunistischen Manifest schrieben, liest sich wie eine Beschreibung der heutigen Zustände: „Die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor."

Krisentheorie

In seinem später verfassten Werk „Das Kapital" stellte Marx dar, worin die Gesetzmäßigkeit besteht, die das kapitalistische System in die Krise treibt. Seine zentrale These: Der Zyklus der Auf- und Abschwünge ist dem chaotischen und auf Konkurrenz beruhenden Wesen des Kapitalismus geschuldet. Weil es keine zentrale Planung der Wirtschaft gibt, versucht jedes Unternehmen, den größtmöglichen Teil des Marktes zu ergattern, indem es so viele Produkte wie möglich herstellt. Das führt dazu, dass ständig mehr hergestellt wird als gekauft werden kann, und es so zu Produktionsüberschüssen kommt. Dies schlägt sich auf die Profite der Unternehmen nieder und zwingt sie, den Druck auf ihre Angestellten weiterzugeben: Die Arbeitszeiten werden verlängert, die Löhne gesenkt und Arbeitsplätze verlagert oder ganz abgebaut. Die Arbeiternehmer haben dann weniger Geld, um Dinge zu kaufen, was wiederum die Krise verschärft, bis das System in die Rezession geht. Solche Wirtschaftskrisen kommen und gehen im Kapitalismus. Aber sie werden mit der Zeit schlimmer.

Tendenzieller Fall der Profitrate

Marx fand heraus, dass hinter dem Prozess von Auf- und Abschwung der kapitalistischen Wirtschaft ein besonderer Mechanismus wirkt. Dessen Funktionsweise beschrieb er mit dem „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate". Damit meinte er nicht, dass die Einnahmen geringer würden. Aber, so Marx, dass Verhältnis ihrer Investitionen zu dem Gewinn, den diese einbringen, tendiert dazu, im Laufe der Zeit geringer zu werden. Das liegt daran, dass wirklicher Wert nur aus der Arbeit von Menschen entsteht. Denn der Wert, den Arbeiter produzieren, ist immer größer als der Lohn, den sie dafür erhalten. Daher eignet sich der Unternehmer einiges von dem Wert an, den seine Angestellten erwirtschaften. Dieser „Mehrwert" bildet die Grundlage des Profits.

Aber der Wettbewerbsdruck treibt die Unternehmer dazu, den Anteil zu reduzieren, den sie in Arbeit und Löhne investieren. Stattdessen investieren sie eher in Technologie, mit der sie genauso viel mit weniger menschlicher Arbeit produzieren lassen können. Durch die Rationalisierung der Produktion, durch Erhöhung der Produktivität und durch den beständigen Abbau der beschäftigten Arbeitskräfte kann ein Kapitalist sein Stück vom Kuchen vergrößern. Aber das Ergebnis ist für das gesamte System verheerend. Denn es bedeutet, dass die Zahl der Arbeiter sich nicht annähernd so rasch vermehrt wie die Investitionen. Aber die Arbeit ist die Quelle des Profits, die Energie, die das System am Leben erhält. Wenn die Investitionen größer und größer werden, ohne dass es eine entsprechende Ausdehnung der Quelle des Profits gibt, ist die Krise schon vorprogrammiert.

Deshalb sah Marx, dass gerade der Erfolg des Kapitalismus, riesige Investitionen in der Form neuer Anlagen anzuhäufen, einen tendenziellen Fall der Profitrate mit sich bringen muss und damit auch die sich ständig verschärfenden Krisen.

In der jüngsten Zeit hat die Mikroelektronik- und Computer-Industrie ein klassisches Beispiel für diesen Prozess geliefert. Die Firmen, die zuerst am Markt waren, machten riesige Profite. Aber als die Produktionskapazität der Branche wuchs, und mehr Konkurrenten die Arena betraten, brachen die Preise dramatisch zusammen. Die Profitrate sank, und die schwächsten Firmen, wie zum Beispiel Nixdorf gingen unter. Einzelne Kapitale glauben, dass sie ihre Profite durch neue Technologie steigern können. Als einzelne können sie das auch. Aber die Verfolgung ihrer individuellen Wettbewerbsziele bewirkt, dass die gemeinsamen Ziele aller Kapitalisten untergraben werden. Das ist genau, was Marx mit der widersprüchlichen Natur des Kapitalismus meinte. Dies bedeutet nicht, dass die Profitrate in der Geschichte des Kapitalismus kontinuierlich fällt. Wäre das der Fall, dann wäre das System schon längst zum Stillstand gekommen. Marx selbst erwähnte eine Reihe von „entgegenwirkenden Ursachen".

Entgegenwirkende Ursachen

Eine außergewöhnliche Steigerung der Ausbeutungsrate, die den Lebensstandard der Arbeiter herabdrückt, ist ein Beispiel für einen Umstand, der dem Fall der Profitrate entgegenwirkt. Zugang zu billigen Rohstoffen durch Außenhandel ist ein anderes. Am wichtigsten ist, nach Marx, die Verbilligung oder „Entwertung" des konstanten Kapitals selbst.

Zunehmende Produktivität in den Industriezweigen, die Produktionsmittel wie Maschinen oder Rohstoffe herstellen, verursacht einen Rückgang des Werts ihrer Erzeugnisse, wie in jeder Branche. Dieser Rückgang bedeutet nicht nur, dass Produktionsmittel billiger werden. Er bewirkt auch, was Marx den „moralischen Verschleiß" bereits in der Nutzung befindlichen konstanten Kapitals nannte. Kapitalisten, die ältere und teurere Maschinerie in Betrieb haben, sehen sich Konkurrenten mit neuerer und billigerer Ausrüstung gegenüber. Sie erleiden einen Wettbewerbsnachteil. Die ältere Maschinerie ist einer erzwungenen Entwertung unterworfen. Dies vermindert den Wert des konstanten Kapitals, wirkt seiner Neigung zum Anwachsen entgegen - und damit den daraus folgenden Wirkungen auf die Profitrate.

Aber diese Entwertung stellt für die betroffenen Firmen einen Verlust des Kapitalwertes dar. Aus diesem Grund wird sie ihre Schwierigkeiten vergrößern, wenigstens kurzfristig. Es gibt hier Parallelen zum Anwachsen der Arbeitslosigkeit oder der industriellen Reservearmee, wie Marx sie nannte. Zunehmende Arbeitslosigkeit hilft den Kapitalisten bei ihrer Offensive gegen die Organisation der Arbeiter in der Produktion, und trägt auf diese Weise zur Produktion von potentiellem Mehrwert bei. Aber zumindest auf kurze Sicht erhöht die Arbeitslosigkeit die Probleme der Kapitalisten beim Verkauf ihrer Produkte, oder bei der Realisierung des Mehrwerts.

So gibt es für den Kapitalismus keinen einfachen Ausweg aus seinen Schwierigkeiten. Es ist wichtig, zu verstehen, dass die Wirkung der „entgegenwirkenden Ursachen" in Krisenzeiten am stärksten ist. Wenn das System sich rasch ausweitet, und die Akkumulation hohes Tempo hat, behält das Wachstum der organischen Zusammensetzung des Kapitals die Oberhand über die entgegenwirkenden Tendenzen. Im Ergebnis fällt die Profitrate. Krisen jedoch können dem Kapitalismus zumindest zeitweise über seine Probleme hinweghelfen. Um die Dynamik von Krisen  besser zu verstehen, lohnt es sich, noch einen anderen Aspekt des Systems zu betrachten - die Rolle der Banken.

Banken, Börsen und das Kreditsystem

Der von den Arbeitern erzeugte Mehrwert ergibt nicht bloß die Profite der industriellen Kapitalisten. Teile davon gehen als Miete oder Pacht an die Grundbesitzer, als Steuern an den Staat, als Zinsen an Banken und Geldanleger. Die industriellen Kapitalisten sind bereit, den Banken und anderen Finanzinstitutionen einen Teil der Beute abzutreten, weil diese eine nützliche Rolle im System spielen. Die Kapitale müssen große Geldsummen anhäufen, bevor sie investieren können. Bis dieser Punkt erreicht ist, können sie ihre Überschüsse bei der Bank deponieren - und Kapitale, die bereit sind zu investieren, aber noch nicht genug Geld haben, können es ausleihen.

Das Bankensystem hilft tatsächlich, den Prozess der Akkumulation zu beschleunigen. Das geschieht, indem das Geld von denen, die mit Investitionen zögern, umgeleitet wird zu denen, die willens sind, zu investieren.

Banken sind deswegen mächtige Institutionen. Sie helfen, die Zentralisation des Kapitals zu großen Monopolen zu beschleunigen. Sie tragen auch dazu bei, die schwachen, verlustreichen Kapitale in die Pleite zu treiben, wenn sie ihnen Kredite sperren. Wenn ein Aufschwung seinen Höhepunkt erreicht, steigt der Zinssatz für Darlehen. Die Nachfrage nach Investitionsdarlehen wächst. Die Erwartung zukünftiger Profite nährt Spekulationsgeschäfte an der Börse und im Warenhandel. Kapitalisten sind bereit, auf steigende Profite und Preise zu setzen, die es ihnen ermöglichen sollen, ihre Schulden mit Zinsen zurückzuzahlen. Aber der Finanzmarkt und die Börse sind immer davon abhängig, dass in der Produktion Mehrwert erzeugt wird.

Die Finanzmärkte stellen dar, was Karl Marx als „fiktives Kapital" bezeichnete. Ihre Aktivitäten schaffen keine neuen Werte und weiten die Produktion nicht aus. Auf ihnen wird mit den Profiten gespielt, die die Arbeiter erwirtschaften, daher hängen sie letztlich von der Gesundheit der realen Wirtschaft ab. Wie überzogen die Aktienpreise auch sein mögen, sie stehen in Beziehung zu den Dividenden, die die Unternehmen ausschütten, und diese wiederum hängen von der Profitabilität der Wirtschaft ab. Wenn die Profite sinken, reduzieren die Unternehmen ihre Dividendenauszahlung, und das drückt den Preis ihrer Aktien. Märkte können eine Zeit lang die Entwicklung der realen Profite hinter sich lassen. Aber dann schaffen sie eine spekulative Blase, die auf kurz oder lang platzen muss. Wenn das passiert, hat es reale Auswirkungen.

Die Banken selbst können zusammenbrechen. Sie verleihen „das Geld anderer Leute". Wenn die Anleger alle zugleich versuchen, ihr Geld zurückzubekommen, wird die Bank zahlungsunfähig. Wenn nicht der Staat oder die Zentralbank eingreift, kann die Bank das nicht überleben. Das gesamte Finanzsystem kann zusammenbrechen, wie es am dramatischsten 1931 geschah. Eine Kreditklemme wie bei der jetzigen Finanzkrise 2008 bedeutet, dass auch verlässliche Firmen kein Geld mehr leihen können. Damit wird ihnen die Möglichkeit genommen, ihre Maschinen zu erneuern oder ihre laufenden Kredite zu begleichen. Im schlimmsten Fall können sie in den Bankrott getrieben werden.

Die Krise heute

Was wir heute erleben, ist, dass an die Stelle des früheren Auf und Ab der Konjunktur, des ständigen Wechsels von Krise und Aufschwung, die weltweite, nicht enden wollende Krise getreten ist. Selbst in der Bundesrepublik, die gern als mustergültiges Land des Wachstums hingestellt wird, hat sich die Wirtschaft seit der Krise von 1974 nicht mehr richtig erholt. Die Konjunkturaufschwünge sind flacher und kürzer geworden. Sie reichen auch nicht mehr aus, um die Arbeitslosigkeit wesentlich abzubauen. Es gibt immer noch nicht genügend Investitionen, um die Krise zu überwinden, und das gilt nicht nur für die Bundesrepublik, sondern erst recht für Großbritannien, für Frankreich und auch für Japan.

Marx sagte voraus, dass die Krisen des Kapitalismus mit seiner Dauer sich notwendig verschärfen müssten, weil die Quelle des Profits, die Arbeit, bei weitem nicht so rasch wächst wie die Investitionen, die notwendig sind, um die Arbeiter zu beschäftigen.

Marx schrieb zu einer Zeit, als der Wert der Fabrik und der Maschine, der notwendig war, um die Arbeiter zu beschäftigen, noch ziemlich niedrig war. Er ist seitdem in die Höhe geschnellt, und heute kostet ein Arbeitsplatz oft 100.000 Euro und mehr. Die Konkurrenz hat die Firmen gezwungen, noch größere Anlagen und noch teurere Maschinen aufzubauen. Der Zeitpunkt ist längst erreicht, wo in den meisten Industriezweigen die Neuanschaffung von Maschinen gleichgesetzt wird mit dem Abbau von Arbeitskräften. Die Arbeitsplätze in den wichtigsten Industrieländern der Welt werden in den nächsten Jahren weiter abnehmen.

Die Kapitalisten überlegen sich sehr genau, ob ihre Geldanlage Profit bringt oder nicht, und wenn sich ihre Investitionen vervierfachen, ihre Gewinne aber nur verdoppeln, halten sie inne. Eben das geschieht aber, wenn die Industrie rascher wächst als die Quelle des Profits, die Arbeit. Marx sagte voraus, dass ein Zeitpunkt erreicht werde, wo jede neue Investition als gefährliches Abenteuer erscheine. Die Ausgaben für eine neue Anlage und neue Maschinen würden dann kolossal sein, aber die Profitrate wäre zugleich niedriger als je zuvor. Wenn dieser Punkt erreicht sei, würden die einzelnen Kapitalisten oder auch die kapitalistischen Staaten Pläne für riesige neue Investitionen schmieden - aber sich zugleich davor fürchten, diese Pläne zu verwirklichen, weil sie Angst vor dem Bankrott hätten. Die Weltwirtschaft von heute nähert sich diesem Zeitpunkt.

Marx is' muss

Die krisenhafte Entwicklung zeigt, dass die grundlegenden Ideen und Konzepte aus Karl Marx' „Kapital" nichts von ihrer Bedeutung verloren haben. Der Kapitalismus ist zwar in seinem Umfang erheblich gewachsen und hat seine Form verändert. Aber er beruht nach wie vor auf der täglichen Arbeit der Lohnabhängigen. Er wird nach wie vor beherrscht von der scharfen und manchmal blutigen Konkurrenz unter den Kapitalisten selbst. Und er neigt mehr denn je zu chronischen Krisen, die die Grenzen seiner geschichtlichen Reichweite ans Licht bringen.

Jedoch kann das Ergebnis der gegenwärtigen Krisenperiode nicht vorausgesagt werden. Der Marxismus befähigt, zu verstehen, was vor sich geht, und er dient als Anleitung zum Handeln. Er kann nicht den endgültigen Zusammenbruch des Kapitalismus vorhersagen. Der hängt davon ab, dass die Arbeiter der Welt erkennen, dass ausschließlich ihre Arbeit dieses System am Leben hält, und dass sie die Macht haben, dem ein Ende zu machen.

Zum Autor:
Volkhard Mosler ist Soziologe und Mitglied im Kreisvorstand der LINKEN in Frankfurt am Main.