Amazonien: Infrastruktur im Dienste des Großkapitals

Wie mit internationalen Programmen Amazonien in die Weltwirtschaft integriert werden soll

Mit dem Segen Washingtons und finanzieller Hilfe der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) treiben zehn südamerikanische Staaten gigantische Bauvorhaben voran, um die Wirtschaft der Region fit zu machen für die Interessen der lokalen und multinationalen (Groß-)Konzerne. Die Lateinamerika Nachrichten dokumentieren in deutschsprachiger Übersetzung den im März 2008 in der brasilianischen Ausgabe der Le Monde Diplomatique erschienenen Text von Igor Fuser.


Seit ihrer Gründung im Jahr 2000 verfolgt die Initiative zur regionalen Infrastrukturintegration in Südamerika (IIRSA) eine Strategie der Einbindung Südamerikas in die Weltwirtschaft in den Bereichen Transport, Energie und Kommunikation. Die Region soll den dynamischen Zentren des Kapitalismus als Lieferantin von Agrarprodukten, Rohstoffen und Energie dienen. IIRSA umfasst 348 Projekte in einem Zeitraum von 20 Jahren bei annähernd 38 Milliarden Dollar Investitionskosten. Die Projekte verlaufen dabei entlang der so genannten zwölf Integrationsachsen, die sich, über ganz Südamerika erstreckend, miteinander verbinden.


Diese „Achsen“ fungieren als Korridore für den Rohstoffexport in die Industrieländer. Eine der wichtigsten Achsen ist die Amazoniens, welche die Pazifikhäfen Paita in Peru, Esmeraldas in Ecuador und Tumaco in Kolumbien mit der Amazonasmündung bei Belém verbinden soll. Durch diesen Korridor sollen vor allem Mineralien aus dem Andenraum nach Europa sowie in der Gegenrichtung Produkte Amazoniens wie Fleisch und Holz zu den Märkten Asiens und Nordamerikas transportiert werden.

Die zentrale interozeanische Achse zwischen Brasilien, Bolivien und Peru soll die Transportkosten des brasilianischen Agrobusiness für den Export zum Pazifik enorm reduzieren. Dies ist das erklärte Ziel zwei der umstrittensten Bauvorhaben: Rio Madeira, wo neben den Staudämmen eine Wasserstraße geplant ist, und die Interozeanische Straße, die bei 2.586 Kilometern Länge durch Peru die Anden überqueren soll. Des weiteren umfasst IIRSA ein Netz von Gaspipelines nach Bolivien und Peru sowie die Wasserstraße Paraná-Paraguay. Sie soll auf einer Länge von 3.442 km den Flusshafen Cáceres im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso mit Buenos Aires am Atlantik für den Export von Soja und anderen Rohstoffen verbinden.

IIRSA entstand auf Betreiben der IDB im August 2000 in Kooperation mit der Andinen Entwicklungskooperation (CAF) und dem Finanzfonds für die Entwicklung des Rio de la Plata Beckens (FONPLATA). Der damalige Präsident Brasiliens, Fernando Henrique Cardoso, wurde Schirmherr der IIRSA-Gründungsversammlung aller südamerikanischen Länder – mit Ausnahme von Französisch-Guyana. Seither hat sich zwar das Politikszenario in der Region deutlich gewandelt, aber die IIRSA besteht fort, mit Unterstützung aller Regierungen und ohne grundlegendes Hinterfragen durch die als links geltenden PräsidentInnen. IIRSA wurde hingegen von den sozialen Bewegungen, von WissenschaftlerInnen und Umwelt-NRO scharf kritisiert. Die Kritik bezieht sich auf die grundlegende Ausrichtung der IIRSA und auf die sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen der Projekte: Sie wurden ohne Rücksicht auf die Belange der von den Bauten Betroffenen geplant.

Aus Sicht der KritikerInnen folgt IIRSA der gleichen Logik wie zuvor: Es werde die Abhängigkeit Südamerikas vom Norden erhöhen, die Ungleichheiten in der Region noch verschärfen und dabei den Aderlass an reichen Rohstoffen auf Kosten künftiger Generationen ausweiten. Außerdem erregt die Hegemonie brasilianischer Unternehmen – vor allem des Agrobusiness‘ und der großen Baufirmen – Argwohn, da diese voraussichtlich mit IIRSA am meisten zu gewinnen haben.

Die KritikerInnen haben von Beginn an auf die harschen Auswirkungen auf FlussanwohnerInnen, Indigene sowie Bäuerinnen und Bauern hingewiesen. „Die bisherigen Integrationsmodelle missachten die Identitäten der lokalen Bevölkerung, ihrer Kulturen und ihres Landes“, kritisiert Magnólia Said, Vorsitzende der NRO Esplar aus Fortaleza. Anstatt gefragt zu werden, ergänzt sie, werden die AnwohnerInnen aufgefordert, „sich einer Entwicklungslogik anzupassen, deren einziges fortwährendes Interesse die Interessen des Marktes sind“.

Der Großteil der IIRSA-Projekte findet sich in Regionen mit reicher Biodiversität, fragilen Ökosystemen und mit einer Bevölkerung, die Umweltveränderungen schutzlos ausgeliefert ist. Obwohl die Vorhaben als „nachhaltig“ deklariert werden, sind die Umweltfolgen unleugbar, in einigen Fällen gar zerstörerisch. Die Wasserstraßen und Dämme verändern die Flüsse, beeinträchtigen die Fischerei und bedrohen eine große Anzahl der Fische mit dem Aussterben. Die Straßen führen zwangsläufig zu weiterer Waldrodung. Bezeichnenderweise erfolgten seit 2006 die Bewilligungen zum Bau der Interozeanischen Straße ohne vorhergehende Umweltfolgenstudie. Es handelt sich um eine der an Biodiversität reichsten Regionen, die zur Zeit noch weitestgehend unberührt ist. Laut einer Studie der peruanischen Zivilgesellschaft werden der Region in zehn Jahren alle Zerstörungen durch Straßenbau widerfahren. Hinzu wird die geplante Straße ein Gebiet durchschneiden, in dem mehrere indigene Völker in selbstgewählter Isolation leben.
In der Technokratensprache der IIRSA werden geographische Gegebenheiten wie die Anden und der Amazonaswald als „Barrieren“ tituliert, die es im Namen des Fortschritts zu „überwinden“ gelte. Naturressourcen werden zu Lagerbeständen von zukünftig an den Terminmärkten zu handelnden Rohstoffen. Magnólia Said warnt, dass „die Umsetzung dieser Projekte die Beseitigung all dessen, was als Hindernis gilt, bewirken wird: jahrhunderte alte Bäume, kleine Ansiedlungen, Indigenengebiete, Quiolombolagemeinden, gemeinschaftliche Landwirtschaft sowie kulturelle Traditionen. Gleichzeitig aber bleibt die soziale Exklusion unberührt bestehen“.

Das brasilianische Amazonien durchlaufen vier der so genannten Integrationsachsen und beeinflussen damit ein Gebiet von 2,5 Millionen Hektar Land, ein Gebiet, in dem fast ein Viertel der indigenen Bevölkerung Brasiliens in 107 Indigenengebieten lebt. Weitere 484 Gebiete, die für den Erhalt der Biodiversität als prioritär klassifiziert sind, liegen in dieser Einflusszone. Der nordamerikanische Wissenschaftler Tim Killeen, Direktor des Nationalen Zentrums für Atmosphärenforschung nennt dieses Szenario den „perfekten Sturm im Wald Amazoniens“. Killeen kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass die Auswirkungen der Transport-, Energie- und Kommunikationsprojekte von IIRSA den Großteil des Tropenwaldes Amazoniens in den nächsten Dekaden zerstören könnten.

Killeen skizziert den ansteigenden Druck auf das Ökosystem Amazoniens sowie seiner traditionellen BewohnerInnen und sieht die Ursachen in der Ausweitung von Land- und Viehwirtschaft, in der Ausbeute von Bodenschätzen und in der Rodung zur Holzgewinnung. Zudem werden die Anbauflächen für Bioenergie rapide ansteigen: „Fehlende Folgenabschätzung für IIRSA bedeutet einen perfekten Sturm der Umweltzerstörung. Der größte tropische Regenwald der Welt sowie die vielfachen Dienste, die er leistet, sind in Gefahr.“ Killeen resümiert, dass die größte Herausforderung in der Balance zwischen legitimen Entwicklungsaussichten und der Wahrung des amazonischen Ökosystems liege.

Hinzu kommt jedoch, dass IIRSA ein gewaltiges Demokratiedefizit innewohnt. Grundsätzlich werden die Projekte als bereits beschlossen bekannt gegeben. Die demokratische Debatte beschränkt sich dann auf die Wege und Mittel zur Anpassung an diese Unumkehrbarkeiten. In vielen Fällen wird die lokale Bevölkerung nicht über die direkten Konsequenzen der geplanten Bauten informiert.

Im ewigen Hader zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz lautet die nur selten gestellte Frage, welches die eigentlichen Interessen hinter diesen gleichsam pharaonischen Infrastrukturprojekten sind: Wem dient die zu produzierende Energie? Wer gewinnt am Warentransport? Wer sind die NutznießerInnen der schiffbaren Flüsse? Welche Strategie steckt dahinter? Für den Soziologen Luiz Fernando Novoa von der NRO Rede Brasil wird IIRSA durch die Interessen großer Firmen – vor allem nordamerikanischer, aber auch brasilianischer – geleitet, Firmen, die eine nie gesehene Kontrolle über die Naturressourcen Südamerikas erlangen werden. „Die Projekte richten sich an der Wettbewerbsfähigkeit nach außen aus. Sie dienen nicht dazu, die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Ländern zu vertiefen“, so Novoa. „Es handelt sich hierbei um eine Hierarchie der Prioritäten, die nicht mit den Interessen unserer Bevölkerungen korrespondiert“.

Die Logik von IIRSA ist – so Novoa – die Schaffung regelrechter „Unternehmensterritorien“, befreit von Herkunft, Kultur und interner Dynamik der Völker selber. „Regierungshandeln soll im Sinne der Unternehmenskonglomerate die Regeln zur Ausweitung der fortschreitenden Unternehmensfront schaffen und ausüben“, kritisiert Novoa und fügt hinzu: „Der Nationalstaat, die Bevölkerung und die Umwelt hängen dann von der Gnade privater Investitionen ab. Gleichzeitig sollen sie deren Bedingungen und Forderungen folgen. So werden wir letztlich zu Ausländern in unseren eigenen Staaten“.

Der Sektor der Energieproduktion ist hierzu beispielhaft: „Die wachsende Nachfrage nach Energie ist direkt gekoppelt an die Ausweitung energieintensiver Produktion wie Aluminium und Zellulose“, erläutert Elisângela Soldatelli Paim von der NRO Núcleo Amigos da Terra Brasil aus Porto Alegre. Der Staudamm von Tucuruí, gebaut in den 1970er Jahren mit immenser Umweltzerstörung und der Vertreibung von mehr als zwanzigtausend Menschen, liefert den Strom vor allem für die drei großen Aluminiumfabriken, die im brasilianischen Bundesstaat Pará angesiedelt wurden. Eine der Fabriken ist nordamerikanisch, die beiden anderen gehören der brasilianischen CVRD als Joint-Venture mit japanischem Kapital. Die brasilianische Regierung subventioniert die drei Firmen, aber die umgesiedelten BewohnerInnen bekamen weder eine Entschädigung, noch erhalten sie Strom. Während das Aluminium ins Ausland transportiert wird, werden die „externen Kosten“ lokal beglichen.

Doch auch die sich als „links“ bezeichnenden Regierungen werden von den GegnerInnen der IIRSA kritisiert. Ein Venezuela mit Hugo Chávez, das auf der einen Seite gegen das neoliberale Modell Initiativen wie ALBA, den Sender Telesur oder die Bank des Südens ins Felde führt, beteiligt sich nicht nur an IIRSA, sondern schlägt auch noch den Bau der Gaspipeline des Südens vor. Dabei geht es um ein pharaonisches Projekt, das von der Karibik bis nach Argentinien den amazonischen Wald durchschneiden, die Umwelt beeinträchtigen und die Lebensform der lokalen Bevölkerungen gefährden wird. Die Präsidenten Boliviens und Ecuadors, Evo Morales und Rafael Correa, erklärten noch im Dezember 2006, dass IIRSA einer neuen Orientierung im Interesse der Völker zu folgen habe. Dennoch sind Bolivien und Ecuador an mehreren IIRSA-Projekten beteiligt – und nicht alle entsprechen annehmbaren sozialen oder umweltgerechten Kriterien. Zwar hat sich die Regierung Morales dem Bau der Staudämme am Rio Madeira wegen der zu erwartenden Auswirkungen auf der bolivianischen Seite, wie Flutung von Land durch Rückstau der Dämme, widersetzt, aber angesichts der Aussicht auf brasilianische Unterstützung bei anderen Projekten diese Meinung geändert. „Diese Regierungen sind noch immer gefangen vom Glauben an wirtschaftliche Entwicklung durch Raub an Natur und Bevölkerung“, meint Mariângela Soldatelli Paim: „Die Frage ist, ob dieses kapitalistische Wirtschaftsmodell, nicht eher in seinen Grundstrukturen zu bekämpfen ist“.

Das Überlaufen der „bolivarianischen“ Regierungen zu IIRSA lässt eine Frage im Raume: Gibt es eine Alternative? Luiz Fernando Novoa glaubt daran: „Indem wir IIRSA kritisieren, bestreiten wir nicht die Notwendigkeit, Straßen, Eisenbahnstrecken, Wasserwege, Häfen und Flughäfen zu bauen oder in den Energie- und Telekommunikationssektor zu investieren“, stellt er klar. Wichtig, so Novoa, sei ein Umdenken, ein neuer Konsens, eine neue Ausrichtung in Bezug auf Infrastruktur und Integration: Indem die Binnenmärkte und die soziale Entwicklung zuerst berücksichtigt werden. „Die Produktion und Verteilung von Energie im Kontinent muss im Hinblick auf die Förderung regionaler Wirtschaftsdynamik erfolgen – und nicht als reiner Nachschub für die transnationalen Produktionsketten“, führt Novoa aus.

Gleichzeitig weist er die Kritik zurück, dass gegen IIRSA zu sein bedeute, den externen Markt zu ignorieren. „Es ist möglich und notwendig, die Exportpalette dahingehend zu diversifizieren, dass Einkommen und Jobs bei einem Minimum an Umweltschäden geschaffen werden“. Das werde aber nur mit einer öffentlichen Planung für den Bereich Infrastruktur erreicht, mit einer Planung, die sich stützt auf öffentliche Institutionen, in denen auch die Zivilgesellschaft vertreten ist. „Das wäre also das genaue Gegenteil von dem, was wir heute in Brasilien durchleben“, urteilt Novoa.

// Igor Fuser
// Übersetzung: LN
Copyleft Le Monde Diplomatique Brasilien, März 2008