Sechs Thesen zum langen Schatten des Stalinismus

Der Beitrag nimmt Themen und Thesen auf, die er in seinem jüngsten Buch »Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus und Demokratie gestern und heute«, Köln 2007, ausführlich behandelt hat.

I. Die sich verschärfende Transformation der Demokratie
Die bereits seit Jahrzehnten vor sich gehende Transformation der herrschenden Demokratie – ihre innere Aushöhlung von einer Demokratie im Sinne einer Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk hin zu den bloß abstrakt-formalen Spielregeln einer rein parlamentarischen Demokratie – hat unter den Bedingungen von Neoliberalismus und bewaffneter Globalisierung, also unter den Bedingungen des so genannten »Krieges gegen den Terror«, ein neues Niveau erreicht. Die demokratischen Errungenschaften und Gepflogenheiten werden von den Regierenden und den Herrschenden in Frage gestellt und abgebaut. Zentrale Grundwerte bürgerlicher Aufklärung sind stark erschüttert und ausgehöhlt.

Diese Krisenentwicklung von Freiheit und Demokratie befördert einerseits eine um sich greifende Demokratiemüdigkeit und politische Apathie, eine Form der »Abscheu vor der Demokratie«, die ausgesprochen vielfältige Formen annehmen kann.1 Sie stellt andererseits aber auch zunehmend die Frage nach den Veränderungsperspektiven und den Alternativen zu diesem Prozess. Zwangsläufig stellt sich damit auch die Frage nach einer sozialistischen Alternative.

Auf den ersten Blick also steht es nicht schlecht für Sozialistinnen und Sozialisten. Die alte Lehre der klassischen Arbeiterbewegung wird vor unseren Augen aktualisiert: Das kapitalistische Bürgertum braucht und verteidigt die Demokratie als Form gesellschaftlicher Freiheit nur, solange sie ihrer eigenen Klassenherrschaft, der Herrschaft der freien Besitzrechte des Einzelnen, sowie dem alltäglichen Funktionieren des Kapitalismus nützlich ist. Ihr Demokratie- und Freiheitsverständnis ist entsprechend strukturell begrenzt – nur der ist ein vollwertiger Mensch, der auch ein Besitzbürger ist. Sobald es zur herrschenden Klasse geworden ist, schlägt sich das Bürgertum auf die Seite einer bloß negativ gefassten Freiheit, um an ihrem partikularen Besitzegoismus festhalten zu können. Ihr Klasseninteresse ist es, das auf soziale Freiheit pochende Nachdrängen der unteren Schichten zu bekämpfen.2

Auf den zweiten Blick jedoch haben wir es mit einem mächtigen Problem zu tun. Denn auch Freiheit und Sozialismus passen nicht zusammen – das sagen uns, mit Verweis auf die Erfahrungen mit dem historischen Stalinismus und der kommunistischen Weltbewegung, nicht nur die Neokonservativen und Neoliberalen seit Jahrzehnten, sondern neuerdings auch wieder führende Vertreter der deutschen Linken.

II. Leo Koflers drei Formen der Freiheit
Welche politisch-theoretischen Konsequenzen haben wir in Bezug auf die Demokratiediskussion aus der Erfahrung des 20. Jahrhunderts meines Erachtens zu ziehen? Ich konzentriere mich hier auf einen zentralen Aspekt und beziehe mich dabei exemplarisch auf Leo Kofler, der die entscheidende demokratietheoretische Lehre bereits vor einem halben Jahrhundert in sein Bildnis von den drei welthistorischen Formen der Freiheit goss.3

Für den klassischen Sozialismus war die in den bürgerlichen Revolutionen durchgesetzte politische Freiheit, d. h. die staatsbürgerliche und individualrechtliche Freiheit (also Koalitions-, Versammlungs-, Religions- und Meinungsfreiheit, allgemeines und gleiches Wahlrecht usw.) die erste weltgeschichtliche Form einer wirklichen menschlichen Freiheit. Das vor allem vom aufbegehrenden und kämpfenden Proletariat seit Mitte des 19. Jahrhunderts eingeklagte Weitertreiben der politischen zur sozialen Demokratie und Freiheit ist ihm die zweite welthistorische Form der Freiheit, die ökonomisch-soziale Freiheit. Doch beide Freiheitsformen, so Kofler, sind wesentlich negativ gefasst – als »Freiheit von«, als Freiheit von den feudalen Fesseln, von persönlicher Abhängigkeit und politischer Bevormundung auf der einen Seite, als Freiheit von materiellem Elend, von sozialer Unterdrückung und Entrechtung auf der anderen Seite. Die welthistorisch dritte Form der Freiheit, die eigentliche sozialistische Idee der Freiheit sei jedoch eine positive. Nicht die »Freiheit von« steht hier im Vordergrund, sondern die »Freiheit zu«, die Freiheit zu einer allseitigen Entfaltung der Persönlichkeit. Diese dritte Form, diese dritte Stufe einer welthistorischen Freiheit ist für Kofler jedoch nur zu erreichen, wenn man die beiden ersten welthistorischen Formen nicht gegeneinander ausspielt, sondern untrennbar auf höherer Ebene vereinigt.

Genau eine solche Synthese ist aber im 20. Jahrhundert nicht geglückt. Die bürgerliche Freiheit zerstörte die persönliche Abhängigkeit, um an deren Stelle eine sachlich-materielle Abhängigkeit zu setzen. Die realsozialistische Freiheit befreite die Arbeiterklasse von materieller Unsicherheit und Verelendung um den Preis, ihr die individuelle, formale Freiheitsstufe zu nehmen. Beschränkte sich die internationale Sozialdemokratie im Laufe des 20. Jahrhunderts darauf, die bürgerliche Stufe der Freiheit durchzusetzen und zu verteidigen, indem sie sich damit zufrieden gab, die Arbeiterklasse zum formal gleichberechtigten Bestandteil bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft zu machen, so beschränkte sich die kommunistische Bewegung auf die Durchsetzung einer bestimmten Form von sozialer Freiheit, die sie der bürgerlichen Freiheitsform schroff entgegenstellte.

Was also einstmals gedacht war als neue Synthese von politischer und sozialer Freiheit, zerfiel mit der Integration der Sozialdemokratie in die spätbürgerliche Demokratie auf der einen und der stalinistischen Bürokratisierung der kommunistischen Bewegung auf der anderen Seite in ihre beiden Bestandteile. Blieben die einen in der ersten welthistorischen Form der Freiheit stecken, verbarrikadierten sich die anderen in der zweiten. »Vergessen« wurde die dritte welthistorische Form, das eigentliche Ziel der sozialistischen Arbeiterbewegung. Beide Hauptströmungen der Bewegung haben so im Laufe des 20. Jahrhunderts ihre emanzipative Zielvision aufgegeben. Die Emanzipations- und Fortschrittsidee hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Es gibt keine Alternative zur wie auch immer sozialen Marktwirtschaft mehr – heißt dies auf sozialdemokratisch. Im Falle des historischen Realsozialismus dagegen heißt dies, dass das, was er den Menschen ökonomisch gegeben hat, er ihnen politisch wieder genommen hat. Wo er ökonomisch über die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft hinausging, ist er politisch hinter deren Errungenschaften zurückgefallen.

Mit seiner Theorie der drei welthistorischen Formen der Freiheit hat Leo Kofler nicht nur die Kritik bürgerlicher Freiheit mit der Kritik realsozialistischer Freiheit im 20. Jahrhundert verbunden. Er tut dies auch in Form einer Aktualisierung der frühbürgerlichen, radikal-humanistischen Zielvorstellung für die sozialistische Bewegung. Jeder neue Sozialismusversuch, so Kofler, wird demokratisch sein oder er wird gar nicht sein. Jeder neue Sozialismusversuch kann nur mehrheitsfähig und siegreich sein, wenn er die politische Freiheit mit der sozialen Freiheit praktisch-politisch vereinigt. Der Sozialismus erweist sich so als das Einfache, das schwer zu machen ist.

III. Luciano Canforas Demokratieverständnis
Mit diesem Koflerschen Interpretationsschema haben wir nicht nur eine der zentralen Lehren aus der Geschichte des Sozialismus im 20.Jahrhundert gezogen. Wir haben hiermit auch den Interpretationsschlüssel, um neuere Diskussionen kritisch zu sichten – beispielsweise die in den Jahren 2006 und 2007 das linke Feuilleton nachhaltig bewegende Diskussion um Luciano Canforas Kurze Geschichte der Demokratie.

Während Demokratie in der Geschichte beides ist – eine jahrhundertealte Form der politischen und sozialen Freiheitsbewegung ebenso wie eine spezifisch institutionelle Fassung der bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft –, schreibt der italienische Linksprofessor Luciano Canfora seine Geschichte der Demokratie als Geschichte eines bloßen Mittels der Herrschenden, die nachdrängenden Klassen und Schichten zu verwirren. Ihm fehlt jeder wirkliche Begriff davon, was Demokratie ist, bzw. von links her sein soll, und schreibt die Geschichte nicht der Kämpfe um soziale, politische oder kulturelle Freiheit, sondern die Geschichte einer zunehmenden Abscheu vor der Demokratie. Für ihn sind Freiheit und Demokratie »letzten Endes leere Worthülsen«.4 Als Mittel der Emanzipation kommt die Demokratie, genauer: kommen demokratische Werte, Bedürfnisse und Formen, bei ihm nicht vor. Er betrachtet die Demokratie nicht als Verschwörung der Gleichen, sondern nur als Verschwörung der Herrschenden, als Demokratie von oben. In schlechter linker Tradition verabsolutiert Canfora die Idee einer sozialen Demokratie zur prinzipiellen Absage an demokratische Formen. Aus der dialektischen Einheit von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit/Solidarität macht er antagonistische, das heißt sich ausschließende Gegensätze und fühlt sich entsprechend gezwungen, Freiheit und Solidarität zu streichen, um eine Gleichheit zu propagieren, in der natürlich bei näherer Betrachtung einige gleicher sind als gleich.

Die antike und bürgerliche Demokratie sind ihm nicht mehr als schöner Schein, weil sie als Herrschaftsmittel von oben kommen. Die sozialistische Demokratie dagegen kann und muss ihm sogar als Herrschaftsmittel von oben kommen. Die antike und bürgerliche Demokratie sind ihm keine, weil sie beide unentwirrbar mit der Sklaverei verwoben sind. Die sozialistische Demokratie ist ihm dagegen eine solche, auch wenn sie, wie im Falle des historischen Stalinismus, mit modernen Formen der Sklaverei (dem Gulag- System) daher kommt. Und weil er die Dialektik von Demokratie und Sozialismus, das heißt die besondere Rolle nicht versteht, die demokratische Werte, Bedürfnisse und demokratische politische Formen im Kampf um den Sozialismus spielen; weil er die Idee einer sozialen Demokratie auf undialektische Weise einseitig verabsolutiert und die erziehungsdiktatorische Herrschaft einer Minderheit aus geschichtsphilosophischen Gründen meint rechtfertigen zu müssen, macht er sich selbst zum eindeutigen Apologeten des Stalinismus. In seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts reproduziert er das gesamte Programm stalinistischer Logik, deren Argumente, Vorurteile und Denunziationen. Er macht jede historische Wendung von Stalins politischem Zick-Zack-Kurs mit und liefert für alle diese Wendungen entsprechende, geschichtsphilosophisch aufgeladene Begründungen.5

Canforas Argumente sind alles andere als originell. Sie begleiten den Sozialismus des 20. Jahrhunderts, seit dieser zur Rechtfertigung der nachrevolutionären Verhältnisse in der Sowjetunion anhob. Nach dem Zusammenbruch des einstmals »real existierenden Sozialismus « – an dem alles real war, nur nicht der Sozialismus (Rudi Dutschke) – wurden diese Argumente einzig noch in kleinen, marginalisierten Zirkeln von (N)Ostalgikern (beispielsweise in der Diskussion um die Weißenseer Blätter zu Beginn der 1990er Jahre) oder bei Restbeständen westdeutscher K-Gruppen (beispielsweise bei Teilen der DKP und der MLPD) vertreten. Heute jedoch ist die politisch- intellektuelle Marginalität solcher Thesen auf der Linken durchbrochen worden. Es sind nicht mehr nur die scheinbar Unbelehrbaren, die vermeintlich Ewiggestrigen – heute machen dieselben Thesen, die einen Kurt Gossweiler oder eine Sahra Wagenknecht einstmals nachhaltig isoliert haben, Intellektuelle wie Hans Heinz Holz, Domenico Losurdo oder Luciano Canfora zu gefeierten Vordenkern, an denen sich das linke Gemüt und Feuilleton ergötzt. Und erstmals kann man dabei kaum noch zwischen Ost- und Westlinken differenzieren. Neu ist ebenfalls, dass sich hier westlinke mit ostlinken Traditionen deutlich zu vermischen beginnen.

Georg Fülberth, um nur Canforas eifrigsten Anwalt der deutschen Linken zu zitieren, sieht in Canforas Werk nicht nur »ein kompetentes politologisches Lehrbuch«, sondern gar »die historische Grundlegung einer Theorie der Demokratie und ihrer Verhinderung in allen bisherigen Ungleichheitsgesellschaften«. Selbst der in Fragen sozialistischer Demokratie deutlich glaubwürdigere Uwe-Jens Heuer lobte Canforas Werk in einem Beitrag zur Debatte explizit als »Fortschritt in der Demokratietheorie«. Und Oskar Lafontaine wertete es gar durch ein Nachwort zur vierten Auflage auf.6 So wird jemand theoretisch überhöht, der uns in unserem Kampf gegen die vor sich gehende Aushöhlung der Demokratie sagt, dass wir in diesem Kampf auf die Demokratie in keiner Form zählen können, weil sie einzig ein Herrschaftsmittel der Eliten sei.

IV. Was ist der Philo- oder Neostalinismus?
Unter anderem in der deutlich gestiegenen allgemeinen Wertschätzung für Canfora und die anderen genannten Autoren schlägt sich ein spürbar um sich greifender Philo- und Neostalinismus nieder. Was verstehe ich darunter?

Stalinismus war und ist zuallererst eine historische Erscheinung und bezeichnet die sowjetrussische Zeit unter Stalin. So betrachtet war der Stalinismus in meinen Augen ein spezifisches gesellschaftspolitisches Herrschaftssystem, das weder kapitalistisch noch sozialistisch war – jedenfalls nicht nach den Kriterien der sozialistischen Klassiker –, eine erstarrte Übergangsgesellschaft, die von einer aus der Arbeiterbewegung, der Arbeiterklasse kommenden bürokratischen Schicht organisiert und geleitet wurde.7

Aber das von Stalin mit Gewalt und Tücke begründete Gesellschaftssystem hat seinen Gründer nicht nur um Jahrzehnte überlebt, sondern ist auch in anderen historischen und geografischen Kontexten angewandt worden. Stalinismus ist vor diesem Hintergrund nicht nur eine historische Erscheinung, sondern auch eine politische Theorie und Praxis, eine spezifische Art des politischen Denkens und Handelns, die sich als solches auch von der Person Stalins und vom sowjetrussischen Beispiel vollkommen ablösen kann.8

Trotz dieser strukturellen Möglichkeit einer Ablösung stalinistischer Politikformen vom sowjetrussischen Fallbeispiel, erkennt man den Neostalinismus allzu häufig noch an seinem Bezug zur Geschichte. Ein heutiger Philo- oder Neostalinist – ich sage bewusst nicht: Stalinist – ist also in meinen Augen derjenige, der historisch oder politisch-theoretisch diesem Gesellschaftssystem und seiner Herrschaftsideologie anhängt, auch gedanklich nicht von ihm loskommt und beide, die Theorie wie die Praxis desselben auch heute noch meint beschönigen, verteidigen, rechtfertigen und reproduzieren zu müssen.

Und man erkennt ihn vor allem an zwei scheinbar selbstverständlichen Argumentationsmustern. Zum einen propagiert der Philo- und Neostalinismus immer wieder einen bestimmten geschichtsphilosophischen »Realismus«. Bei Canfora, seinem deutschen Adlatus Fülberth und vielen anderen ist dies der berüchtigte Stalinsche „Realismus“ – das vermeintliche Ende des weltrevolutionären Prozesses in den 1920er Jahren, hinter dem sich der stalinistische Mythos vom »Sozialismus in einem Lande« versteckt. Vor dem Hintergrund des vermeintlichen Endes weltrevolutionärer Prozesse Anfang der 1920er Jahre habe sich, so die Logik des Gedankens, ein Stellvertreter- Kampf zweier weltpolitischer Lager entfaltet, in dem vor allem die sozialen Ziele zählen, nicht die demokratischen Mittel. Hier wird nicht nur die reale Geschichte des 20. Jahrhunderts als eines Jahrhunderts permanenter Revolten und Revolutionen auf den Kopf gestellt. Hier wird mehr noch ein ideologisches Theorem – und um mehr handelt es sich dabei kaum – dafür benutzt, das Ziel sozialer Freiheit gegen die politische Freiheit auszuspielen.

Zum anderen haben wir es hier mit einem durch und durch bürgerlichen Politik- und vor allem Revolutionsverständnis zu tun. Die sozialistische Revolution wird von den Philo- und Neostalinisten (wie schon von ihren Vorgängern) am überlieferten Verständnis bürgerlicher Revolutionsprozesse gemessen. Sozialistische Revolutionen kommen diesen Denkern und Lenkern immer von oben, in Form einer Art von Erziehungsdiktatur, weil – ebenso wie im bürgerlichen Denken – die Bevölkerung einfach nicht reif genug sei für den wahren Sozialismus. Zentral für den Übergang zum Sozialismus sei deswegen vor allem das ökonomische Niveau der Produktivkraftentfaltung, auf dem dann gleichsam zwangsläufig und mechanisch sich das Reich der Freiheit aufbauen könne. Und wenn nur die ökonomisch- sozialen Ziele einer vermeintlich gut gewillten bürokratischen Herrschaftsschicht stimmen, so sind auch die dazu nötigen Verbrechen zu verteidigen, weil sich ja auch – so die immer wiederkehrende Argumentationsfigur – die bürgerlichen Revolutionen solcher Verbrechen bedient haben.

V. Und woraus speist er sich?
Doch warum eigentlich, materialistisch gefragt, will diese Vergangenheit nicht vergehen? Warum wirft der historische Stalinismus auch weiterhin einen deutlichen Schatten auf die deutsche Linke?

Ein Teil der Antwort findet sich sicherlich in der üblichen Standardantwort, dass es sich bei dem Philostalinismus um eine Altlast der Vergangenheit, um »Ewiggestrige« handele. In der Tat wirkt der historische Stalinismus nach, praktisch wie theoretisch. Man kann wesentliche Teile des gesellschaftspolitischen und sozialphilosophischen Denkens auch unserer Zeit nicht verstehen, wenn man nicht versteht, dass es in vielem, zu Recht oder zu Unrecht, eine intellektuelle Reaktion auf die Geschichte und Ideologie des stalinistisch deformierten Kommunismus ist. Auch in dem nun auf dem Wege zum Kapitalismus befindlichen Osteuropa ist der Stalinismus mehr als nur gedanklich noch präsent. Ohne ein Verständnis einstmals »sozialistischer« Bürokratie ist auch der mafiotische Übergangskapitalismus des Ostens kaum verständlich. Und das größer gewordene Deutschland ist zu einem gehörigen Maß Teil des osteuropäischen Erbes geworden – politisch, ökonomisch wie kulturell.

Gerade die noch immer vorherrschende »Ostalgie« verweist aber auch darauf, dass sich der lange Schatten des Stalinismus, entgegen der landläufigen Meinung, nicht nur aus der längst vergangenen Geschichte speist, sondern mehr noch aus der gesellschaftspolitischen Gegenwart. Mehr als mit einer gewünschten Rückkehr zur SEDDiktatur hat diese (N)Ostalgie nämlich etwas zu tun mit »dem Wunsch, in eine Periode sozialer Sicherheit und öffentlicher Wohlfahrt zurückzukehren«, wie es der britische Politikwissenschaftler Peter Thompson in seinem ausgesprochen anregenden (aber leider nur auf Englisch vorliegenden) Buch über die tief greifende Krise der deutschen Linken vor einigen Jahren noch mal betont hat.9 Die Übergänge zu sozialem Autoritarismus und weiterwirkenden stalinistischen Gedankenstrukturen sind, wie auch Thompson aufzeigt, vor allem dort fließend, wo es zu keiner wirklichen Entstalinisierung des Denkens gekommen ist – und dies trifft die deutsche Linke eben mehr als andere europäische Linke – und wo sich diese mangelnde Entstalinisierung mit den neuen Realitäten einer neoliberal um sich greifenden sozialökonomischen und sozialpolitischen Barbarei mischt. Gerade in diesen Prozessen findet der Rückgriff auf stalinistische Diskurse seinen zeitgenössischen Nährboden.

Dieser Philo- und Neostalinismus verkörpert zwar noch keine identifizierbare politisch-organisatorische Strömung, ist vor allem eine politisch-intellektuelle Strömung.10 Doch gerade weil er als politische Reaktion auf den zeitgenössischen Zustand unseres nun gesamtdeutschen Gesellschaftssystems auch die politische Theorie einer latent angelegten politischen Praxis ist, ist es Zeit für eine Stalinismusdiskussion, die – wie auch Peter Thompson schlüssig aufgezeigt hat – über eine reine Geschichtsdiskussion weit hinausweist. Sie sollte auch nicht weiter verdrängt werden, nur weil sie auch der politische Gegner so gerne führt – dieses Argument war schon immer das Einfallstor all jener, die ausreichend Grund haben zu schweigen.11

Damit schließt sich auch der Kreis zum Anfang meines Beitrages. Der zeitgenössische Unmut über die sich forcierende Transformation der herrschenden Demokratie beginnt sich seit einigen Jahren wieder zu politisieren. Es stellt sich die Frage nach den Veränderungsperspektiven und Alternativen. Die philo- und neostalinistischen Tendenzen sind vor diesem Hintergrund die politische Reaktion auf den zeitgenössischen Zustand unseres nun gesamtdeutschen Gesellschaftssystems, Ausdruck einer oppositionellen Haltung ebenso wie Ausdruck einer allenfalls halbierten Emanzipation, einer strukturell beschränkten »Kraft der Negation«, eines unaufgeklärten und politisch kontraproduktiven Reflexes und somit einer politischen Regression.

Vor diesem Hintergrund haben wir es mit einem Schatten zu tun, der nicht nur von der Vergangenheit her, sondern auch aus der Zukunft zu uns herüberweht. Denn solange über gesellschaftliche Transformationsprozesse über die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform hinaus nachgedacht, diskutiert und politisiert wird, solange wird es die Versuchung eines gesellschaftspolitischen Substitutionismus geben, das heißt eines autoritären und erziehungsdiktatorischen Kurzschlusses, der sich auch und gerade im historischen Stalinismus so klassisch wie verhängnisvoll niedergeschlagen hat, sich davon aber auch, wie gesagt, weitgehend zu lösen vermag.

VI. Kein Sozialismus ohne (radikale) Demokratie
Die von mir so genannten Philo- oder Neostalinisten fallen mit ihrer ideologischen Offensive in gerade jene autoritäre, erziehungsdiktatorische Politikform zurück, die der Linken schon allein deshalb keinen Ausweg aus ihrer historischen Krise vermitteln kann, weil es nicht zuletzt diese autoritäre, erziehungsdiktatorische Politik war, die sie in diese Lage gebracht hat.

Zum einen wird damit der Sozialismus zur Fortführung bürgerlicher Politikmethoden und es bleibt schleierhaft, warum sich Menschen vor diesem Hintergrund überhaupt für den Sozialismus engagieren sollen. Zum anderen kann und will ein solches Sozialismusverständnis nicht realisieren, dass der Sozialismus nur als ein radikaldemokratischer hegemonie- und mehrheitsfähig werden kann, dass er nur siegen kann als umfassendste soziale wie politische Selbsttätigkeit der Bevölkerungsmehrheit. Und dies kann nur geschehen, wenn sich nicht nur dieser Geist einer universellen demokratischen Selbsttätigkeit in den Köpfen der Menschen durchsetzt, sondern wenn sich dies auch in demokratischen Organisationsformen, in institutionellen Organen einer sozialistischen Demokratie niederschlägt, die in der Lage sind, radikal-demokratische Bedürfnisse zu befriedigen und zu verstetigen.12 Erst wenn die Menschen in ihrer alltäglichen Praxis erkennen können, dass Sozialismus mehr Demokratie bedeutet als im Kapitalismus, erst dann ist der Durchbruch eines neuen Sozialismus gesichert.13

Das ist der einfache Sozialismus, der so schwer zu machen ist. Und das ist mit den berühmten Worten Rosa Luxemburgs gemeint – niedergeschrieben aus Anlass der sowjetrussischen Revolution –, dass die sozialistische Demokratie »nicht erst im gelobten Lande (beginnt), wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei.«14 Als dies vor nun 90 Jahren geschrieben wurde, war es kaum mehr als eine Form der Prophetie – allerdings eine, die sich aus der Erkenntnis proletarischer Lern- und Emanzipationsprozesse ergab. Heute kann man diese Worte als geschichtlich verifiziert betrachten. Und eine linke Diskussion, die diese Lehre nicht zieht und zurückfällt in die alten Schablonen stalinistischen Denkens, ist durch und durch regressiv.

Auch dieser Schoß ist also fruchtbar noch. Doch glaubwürdig neu beginnen kann die deutsche Linke nur, wenn sie die schwierige, aber notwendige Dialektik von Demokratie und Sozialismus erneuert und sich den Schlüssel zur politisch-intellektuellen Erneuerung nicht aus der Hand nehmen lässt. Die auch in den philo- und neostalinistischen Strömungen zutage tretende »Abscheu« vor der Demokratie ist hierbei nicht nur eine falsche, sondern mehr noch eine politisch gefährliche Sackgasse in den Neuformierungsdiskussionen der Linken. Denn die Halbheiten der bürgerlichen politischen Emanzipation überwindet man nicht mit den Halbheiten realsozialistischer Emanzipation.


Christoph Jünke – Jg. 1964, lebt als Historiker und Publizist in Bochum, ist Vorsitzender der Leo-Kofler- Gesellschaft e.V. und Autor von Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler – Leben und Werk (1907-1995), Hamburg 2007. Der Beitrag nimmt Themen und Thesen auf, die er in seinem jüngsten Buch »Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus und Demokratie gestern und heute«, Köln 2007, ausführlich behandelt hat. Zuletzt in UTOPIE kreativ: Auf zum letzten Gefecht? Zur Kritik an Domenico Losurdos Neostalinismus, Heft 118 (August 2000).

1 Jacques Ranciere: Hatred of Democracy, London 2006 (französisches Original 2005), hat sich mit dieser neuen Form einer Abscheu vor der Demokratie auf ausgesprochen anregende Weise auseinandergesetzt und aufgezeigt, dass und wie sich unter den neuen Bedingungen des postmodernen Neoliberalismus klassisch konservative mit klassisch liberalen und linken Argumentationen zu einer spezifisch neuen Form der Demokratiekritik vermischt haben.

2 Vgl. dazu Leo Kofler: Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1948), 8. Auflage Berlin 1992; ders.: Staat, Gesellschaft und Elite zwischen Humanismus und Nihilismus, Ulm/Donau 1960 (zweibändige Neuauflage unter dem Titel Vergeistigung der Herrschaft, Frankfurt/ M. 1986 ff.).

3 Ich spreche bewusst von Formen, und nicht wie Kofler selbst von Stufen der Freiheit, da ich die bei ihm mitschwingende Geschichtsteleologie hier vermeiden möchte. Vgl. dazu Leo Kofler: Perspektiven des revolutionären Humanismus (1968), Frankfurt/M. 2007. Erstmals formuliert hat er seine Lehre von den drei Stufen der Freiheit in dem 1951 in der linkssozialistischen Zeitschrift »pro und contra« erschienenen Beitrag »Über die Freiheit«, nachgedruckt in Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politischphilosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers, Hamburg 2000, S. 30-39.

4 Luciano Canfora: Eine kurze Geschichte der Demokratie, Köln 2006, S. 331.

5 Ausführlich auseinandergesetzt habe ich mich mit Canforas Demokratiebuch und dem dazu gehörenden Feuilletonstreit in meinem Beitrag »Luciano Canforas Demokratieverständnis«, in: Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus gestern und heute, Köln 2007, S. 151-180.

6 Lafontaines dort veröffentlichtes flammendes Plädoyer für mehr direkte Demokratie ist durchaus treffend und anregend – nur kann es sich dabei nicht auf Canforas Werk stützen, da dieses eine einzige (vulgärmarxistische) Polemik gegen die Selbstregierung der Bevölkerungen ist.

7 Den Versuch einer kritischen Neuaneignung der Debatte, was der Stalinismus historisch eigentlich gewesen ist, habe ich im ersten Teil von »Der lange Schatten des Stalinismus«, mit einem exemplarischen Blick auf führende Denker der sozialistischen Linken wie Werner Hofmann, Isaac Deutscher, Georg Lukács, Leo Kofler u. a. vorgelegt.

8 Die hegemonialen Teile der zeitgenössischen Stalinismusforschung verstehen den Stalinismus als ein rein historisches Phänomen und lehnen eine Ausdehnung des Begriffs, über die Fokussierung auf den stalinistischen Terror der 1930er Jahre hinaus, explizit ab (vgl. bspw. Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, Frankfurt/M. 2007). Auch wenn sich dies mit bestimmten Traditionen linker Geschichtsschreibung überschneidet, halte ich dies für historisch und politisch falsch.

9 Peter Thompson: The Crisis of the German Left: The Collapse of Communism, the Global Economy and the Second Great Transformation, Oxford 2005, S. 96.

10 Für die noch immer gilt, was der britische Historiker Edward P. Thompson Ende der 1970er formulierte: »Historiker sollten wissen, dass Spinnereien, wenn man sie toleriert – und sogar hofiert und hegt – erstaunliche Wirksamkeit und Langlebigkeit entwickeln können. (Schließlich ist für jeden rationalen Geist der größte Teil der Ideengeschichte eine Geschichte von Spinnereien.) « Das Elend der Theorie. Zur Produktion geschichtlicher Erfahrung, Frankfurt/M., New York 1980, S. 41).

11 Dass sich mein Buch über den langen Schatten des Stalinismus im ersten dreiviertel Jahr zwar ordentlich verkauft, aber kaum nennenswerte Besprechungen provoziert hat, ist meines Erachtens Teil dieser so typischen Verdrängung. Die meisten publizistischen Organe der Linken konnten sich zu einer Besprechung bisher schlicht nicht durchringen. Die Chefredaktion der Jungen Welt nahm gar eine wohlwollende Rezension (Joerg Boewe: »Trost für die Trostlosen«, www.iablis.de/iab2/content/view/346/86) wieder aus dem Blatt, obwohl sie bereits gesetzt war, und veröffentlichte stattdessen einen kurzen Totalverriss von Robert Steigerwald, der meine von ihm nicht weiter dargestellten Thesen für außerhalb jeder Diskussion erklärte. Kaum anders steht es mit Jürgen Meiers Beitrag in UTOPIE kreativ 212, Juni 2008, der ebenfalls kein gutes Haar an meinem Buch lässt und weit ausholend über das prekäre Verhältnis von Arbeiterklasse und Bauernschaft in der nachrevolutionären Sowjetunion referiert. Obwohl es jedoch in meinem Buch auch um die Geschichte geht, ist es eben kein Geschichtsbuch. Man muss solcherart Besprechungen unter anderem deswegen »glatt am Thema vorbei« nennen, allenfalls kurios, wenn solch »Missverständnisse « nicht ihre eigene Logik hätten. Die Geschichte lastet eben noch immer wie ein Alb auf der Seele der deutschen Linken. Das ist auch, aber nicht nur und nicht einmal vor allem – ich wiederhole mich gern –, ein Problem der Geschichte.

12 Von hier aus wäre auch die Rolle politischer Organisationen der Linken stärker zu diskutieren.

13 »In Wirklichkeit wird die sozialistische Revolution im Westen erst dann triumphieren können, wenn sie die proletarische Demokratie – weit davon entfernt, diese einzuengen – so weit wie möglich ausweitet. Denn nur diese Erfahrung, ob in Parteien oder Räten gesammelt, kann die Arbeiterklasse in den Stand setzen, die realen Schranken der bürgerlichen Demokratie zu erkennen, kann sie historisch befähigen, diese zu überwinden.« Perry Anderson: Antonio Gramsci. Eine kritische Würdigung, West- Berlin 1979, S.99 (Hervorhebungen: P. A.).

14 Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Band 4, S. 363.

in: UTOPIE kreativ, H. 217 (November 2008), S. 988-996

aus dem Inhalt:
Gastkolumne Essay MARK SOLOMON: Die Linke in den USA und das »Barack-Obama-Phänomen« Föderalismusreform MARIAN KRÜGER: Ein Projekt der Entstaatlichung. Einige Anmerkungen zur Debatte um die Föderalismusreform II Stalinismusdebatte CHRISTOPH JÜNKE: Sechs Thesen zum langen Schatten des Stalinismus Gesellschaft – Analysen & Alternativen MARTIN BRAND: Die Europäische Nachbarschaftspolitik – ein neoliberales Projekt? ASTRID BÖTTICHER: Islamophobie und Antisemitismus. Ein Vergleich der Grundkonzeptionen HORST BETHGE: Grüne Schrift – schwarzer Text Zur Person MARIO KESSLER: »Dann fangen wir von vorne an«. Drei neue Bücher und ein Film von und über Theodor Bergmann Konferenzen & Veranstaltungen CORNELIA HILDEBRANDT: Kindeswohl und Kinderrechte Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau Bücher & Zeitschriften Michael Heinrich: Wie das Marxsche Kapital lesen? Hinweise zur Lektüre und Kommentar zum Anfang von »Das Kapital« (KOLJA LINDNER) Michael Baade (Hrsg): Von Moskau nach Worpswede. Jan Vogeler. Sohn des Malers Heinrich Vogeler. Mit Bildern und Briefen von Heinrich Vogeler (PETER SCHAUBERT) Günter Benser (Hrsg.): Älter ist nicht alt genug. Henryk Skrzypczak. Festschrift zum 80. Geburtstag (THEODOR BERGMANN) Richard Heigl: Oppositionspolitik. Wolfgang Abendroth und die Entstehung der Neuen Linken (ANDREAS DIERS) Steffi Holz: Alltägliche Ungewissheit. Erfahrungen von Frauen in Abschiebehaft. Mit Fotos von Leona Goldstein (KATHRIN HEROLD) Summaries