Kinderrechte und Soziale Arbeit

Waltraut Kerber-Ganse

Kinderrechte und Soziale Arbeit

 

DieserBeitrag fragt nach einem Verhältnis, dem Verhältnis von Kinderrechten undSozialer Arbeit. Im Hintergrund verbirgt sich eine Fragestellung, welche - inden 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgeworfen - bis heuteoffenkundig die Gemüter nicht besonders erhitzt. Ist Soziale Arbeit eineMenschenrechtsprofession? Ist folglich die Kinder- und Jugendhilfe von denvölkerrechtlichen Bestimmungen der Kinderrechtskonvention her zu bestimmen? Menschenrechtesind in diesem Land und für unsere eigene, auch nationale Selbstverständigungnicht eine derartige Herausforderung, als dass sie - obzwar im Allgemeinen fürrichtig gehalten -  die Frage nachdem je eigenen beruflichen Selbstverständnis nachhaltig zu beunruhigen oder garauszuloten versprechen würden.[i]

Auseinem an den Menschenrechten jedoch ausgewiesenen Nachdenken kann manallerdings zu einer noch sehr viel weiter gehenden Einschätzung gelangen: habensich denn Berufe wie Erzieher, Lehrer, Rechtsanwälte, Richter, Ärzte oder auchdie Polizei nicht notwendigerweise ebenso in ihrem professionellenSelbstverständnis am Maßstab der Menschenrechte auszurichten und sind folglichin ihrer Praxis an diesem Maßstab kritisch immer wieder neu zu überprüfen? Istalso die Sicht auf Soziale Arbeit als einer Menschenrechtsprofession imVergleich zu allen übrigen Berufen, die sich auf Menschen und ihr Zusammenlebenbeziehen, eher nicht als ein Spezifikum gerade dieses Berufsstandes zubetrachten? Oder gilt diese Zuschreibung doch in einem vergleichsweise höherenMaße, also mehr als langläufig mit anderen Humanberufen in Verbindung gebrachtwird? Ist also die Herausforderung durch die Menschenrechte und Verantwortungfür diese im besonderen Maße mit der Sozialen Arbeit verbunden und sind daherdie Konsequenzen umso mehr immer wieder neu im offenen Dialog zu entdecken undzu erarbeiten?

Wennhier das Verhältnis von Kinderrechten und Sozialer Arbeit analysiert werdensoll, kann die Frage auch heißen: Was denn gewinnt diese Disziplin, wasgewinnen Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, wenn sie der Notwendigkeitgewahr werden, ihr Handeln nicht nur an den gesetzlichen Vorgaben des Kinder-und Jugendhilfegesetzes im Sozialgesetzbuch VIII (im weiteren KJHG)  auszurichten, sondern menschenrechtlichzu fundieren? Was also gewinnt die Kinder- und Jugendhilfe, wenn sie die Rechtevon Heranwachsenden als international verbriefte Rechte, als Menschenrechte,begreift und ihr Handeln an diesen reflektiert? Vielleicht ist es als eineIronie der Geschichte zu betrachten, dass beide, das Übereinkommen über dieRechte des Kindes von 1989 (weiterhin als Konvention bezeichnet) und das KJHGzeitnah entwickelt wurden, ohne das letzteres trotz Novellierungen bis heuteeinen Bezug zur Konvention gefunden hätte. Beide traten im gleichen Jahr inKraft, einmal als ein nationales Jugendhilfegesetz und einmal als einvölkerrechtlicher Vertrag mit weltweitem Geltungsanspruch. Deutschlandratifizierte die Konvention 1992. Inzwischen sind diesem Vertrag mit Ausnahmevon zwei Ländern, Somalia und USA, alle Länder dieser Erde beigetreten. Erstheute aber kommt in Deutschland Bewegung in die bemerkenswerteBeziehungslosigkeit zwischen nationaler Orientierung und weltweitenkinderrechtlichen Standards: die Bewegung ‚Kinderrechte ins Grundgesetz' findetzunehmend Befürworter, andererseits aber auch aktuell die mit auffallenderUnkenntnis begründete Ablehnung der Kanzlerin. 

ImUN Übereinkommen werden die Menschenrechte von Heranwachsenden, von jungen Menschenbis zu Vollendung ihres 18. Lebensjahres, ausbuchstabiert.[ii]Da Vorbehalte gegen einzelne Artikel erlaubt sind, soweit  dadurch nicht der Kern der Konventionin Frage gestellt wird (Art.51), kann man formell gesehen, wenn auch keineswegsinhaltlich in gleichem Maße, von einem bislang weltweit beispiellosen normativen Konsens sprechen. Als einmenschenrechtliches Dach aber gelten die Kinderrechte für alle Humanberufe indiesem Land, soweit diese sich auf Heranwachsende beziehen. Was heißt: er gilt? Kann denn in diesem Land von einemnormativen Konsens gesprochen werden?

SindSozialarbeiter Erfüllungsgehilfen eines Vertrages, den sie nicht abgeschlossenhaben und zumeist nicht kennen? Völkerrechtssubjekte sind Staaten und ihrejeweiligen Regierungen. Sie haben sich zur Achtung der Menschenrechte, inSonderheit zur Achtung der Menschenrechte von Heranwachsenden vertraglichverpflichtet. Der erste Schritt dieser vertraglichen Verpflichtungnachzukommen, ist die Anpassung der Gesetzgebung an die Vorgaben desvölkerrechtlichen Vertrags, sowie Informationskampagnen des Staates an alle seine Mitbürger undMitbürgerinnen und entsprechende Trainings für alle Verantwortlichen in diesemBereich, in diesem Falle, von den Professionellen abgesehen, auch und geradefür Eltern. Dass dieses Land dieser seiner Aufklärungspflicht nichtnachgekommen ist, sehe ich als unbestreitbar an.

Dochwarum überhaupt Kinderrechte, wenn es doch nur um ein Ausbuchstabieren vonRechten geht, welche dem Kind schon durch sein Menschsein als seineMenschenrechte, nämlich dank vormaliger menschenrechtlicher Verträge, längst zustehen? Dieser Frage soll ineinem ersten Schritt nachgegangen werden.

Umgekehrtkann man von einem menschenrechtlich informierten professionellenSelbstverständnis her auf die Kinderrechtskonvention schauen und ihrenAnregungsgehalt kritisch abwägen. Das soll am Beispiel der Beteiligung vonKindern und Jugendlichen an sie betreffenden Belangen in der gebotenen Kürzegeschehen. Aus beiden Blickrichtungen wird sich die Frage nach dem Verhältnisvon Sozialer Arbeit und Menschenrechten, hier den Kinderrechten, noch einmalneu stellen und als nationale und internationale Herausforderung zu bewertensein.

 

Eine kurze Einführung in dieKinderrechtskonvention

WerdenHeranwachsende durch ein eigenes Menschenrechtsinstrument zu einer besondersanfälligen Gruppe stilisiert, so ihnen kraft ihres Menschseins doch dieMenschenrechte längst schon zustehen? Das einzige relevante Kriterium ihrerVerschiedenheit von Erwachsenen besteht aus der Sicht der Konvention darin,dass sie - heranwachsend - von ihren Rechten erst zunehmend eineneigenständigen Gebrauch machen können: sie genießen daher einen besonderenSchutz dieser ihrer Menschenrechte. Der Schutz ihrer Rechte ist ihnen von denStaaten zu gewähren, auf deren Territorium sie sich befinden. Staaten sind dieVölkerrechtssubjekte. Heranwachsende sind Menschenrechtsubjekte.

Derandere Pol der Verantwortung liegt bei den Eltern oder ihren Vertretern. DasFeld dieser Verantwortung liegt in der Unterstützungdes Heranwachsens am Maßstab eben jener Rechte, auf welche das Kind und derJugendliche einen menschenrechtlichen Anspruch haben: verstanden als die„Aufgaben, Rechte und Pflichten" der Eltern oder ihrer Vertreter, „das Kind beider Ausübung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte in einer seinerEntwicklung entsprechenden Weise angemessen zu leiten und zu führen" (Art. 5).Heranwachsende brauchen Rat und Unterstützung, sie brauchen geeignete Erziehungund Bildung, um ihre Menschenrechte in eigene Hände nehmen zu können. Nur einean den Menschenrechten orientierte Erziehung und Bildung also verdienen dieAnerkennung des Staates. Umgekehrt ist es der Staat, der daran zu messen ist,ob er alle Mittel in Kraft setzt, eine Erziehung und Bildung in diesem Sinne zugewährleisten, also entsprechend die Eltern und Lehrende in Schule undAusbildung bei ihren Aufgaben in hinreichendem Maße zu unterstützen.

Es ist allein die Entwicklungstatsache, die eigene Rechte erforderlich macht undrechtfertigt. Sie begründet den Schutz dieser Rechte, zumal mit dem Ziel,Heranwachsende zunehmend zur eigenständigen Ausübung ihrer Rechte zu befähigen.Deswegen betont die Konvention das Recht auf die Anerkennung der zunehmendeigenständigen Kompetenzen (evolving capacities, Art.5). Das Recht, in deneigenen Angelegenheiten angehört und in seiner Meinung berücksichtigt zuwerden, gilt so in Verbindung mit der Entwicklung des Kindes und ist dochzugleich nie, auch bei dem noch so kleinen Kind, unwirksam. Dieses Recht giltvon Lebensbeginn an, zieht jedoch im Entwicklungsverlauf des Kindes ganzunterschiedliche Herausforderungen an die Erwachsenen nach sich. Denn diezunehmenden Kompetenzen garantieren die zunehmende Möglichkeit, dassHeranwachsende ihre Rechte selbständig ausüben. Ihre menschenrechtlichverbriefte Würde aber steht ihnen immer schon, jederzeit und an jedem Ort, zu.Was es heißt, dieser Würde gerecht zu werden, ist die produktiveHerausforderung an Erwachsene.

Sokommt der Erwachsene nicht umhin zu lernen, wenn er Heranwachsende in ihrenRechten ernsthaft anzuerkennen bereit ist. Eine kinderrechtlich basierteBewusstseinbildung ist erforderlich und dieses Lernen ist auf basale Weise auchein Lernen vom Kind.[iii] Diebesonderen Rechte des Kindes gelten bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Hierendet völkerrechtlich der Schutz des Aufwachsens. Dieser Schutz der zunehmendenVerselbständigung von Heranwachsenden als Rechtssubjekten vom Beginn ihresLebens an kann nur als ein produktiver Widerspruch zulänglich begriffen werden.

DieKonvention ist eine Kompilation der zum Zeitpunkt ihres Entstehens (1978-1989)schon vorhandenen Menschenrechtsinstrumente bzw. -verträge in ihrer Übertragungauf junge Menschen in Entwicklung. Sie berührt Rechtsbereiche wie das Recht aufErziehung und Bildung, auf Gesundheit, Freizeit und Erholung, die klassischenFreiheitsrechte wie Gedanken-, Gewissens-, Religions-, Vereinigungs- undVersammlungsfreiheit, sie berührt Verfahrensrechte bei Fremdunterbringung, inStrafverfahren oder bei der Adoption, sie berührt Förderung, Vorsorge undFürsorge, sie sichert Schutz zu für die Privatsphäre des Kindes, Schutz vorphysischer und psychischer Gewalt, vor Vernachlässigung, Missbrauch, auchSchutz bei bewaffneten Konflikten, vor wirtschaftlicher Ausbeutung, Maßnahmengegen Entführung und Kinderhandel, für jugendliche Flüchtlinge und anderesmehr.

EineKonvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag und das Subjekt dieses Vertrages ist der Staat. Dass Subjektder Kinderrechte sind alle Heranwachsenden bis zur Vollendung ihres 18.Lebensjahres. Im UN Bereich geht der Staat gegenüber der Gemeinschaft derVölker und gegenüber den Menschen auf dem entsprechenden Territorium also dievertragliche Verpflichtung ein, für die Einhaltung der Menschenrechte Sorge zutragen und alle Voraussetzungen dafür zu schaffen. In diesem Sinne geht es umdie klassischen Abwehrrechte ebenso wie um Anspruchsrechte im Sinne derwirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Das Instrumentarium derSicherung nach Innen sind die nationale Gesetzgebung, die Rechtsdurchsetzungbzw. die praktische Umsetzung des Völkerrechtsvertrages. Die Wachsamkeitgegenüber diesen Instrumentarien liegt bei der Zivilgesellschaft und derenOrganisationen, z.B. auch beruflichen Organisationen. Sie liegt auch bei denHeranwachsenden selbst: denn sie sind Rechtssubjekte. Heranwachsend aber sindsie in besonderem Maße auf Unterstützung und den Schutz ihrer Rechteangewiesen.

Menschenrechtesind unteilbar und unveräußerlich. Die Kinderrechtskonvention ist in besonderemMaße umfassend, vereint sie doch, was andernorts dank der historischen Dynamikauf verschiedene Verträge verteilt entstand.  So umfasst sie Aufgabenbereiche, die so unterschiedlichenMinisterien zugeordnet sind wie Ministerien für Soziales, für Familie, fürJugend, für Gesundheit, für Bildung, des Innern, der Justiz, jedoch auchMinisterien, die sich mit Kultur, Verkehr oder Städtebau befassen. Die derKonvention zuzuordnenden Handlungsfelder können daher nur als politische Querschnittsaufgabewahrgenommen werden! Der innere Zusammenhang dieser Aufgabenvielfalt wirddeshalb in der Frage nach der Koordination der vielen Aufgabenfelder vomKinderrechtsausschuss stets eindringlich der Regierungsdelegation einesjeweiligen Landes gegenüber zum Gegenstand gemacht. Die Konvention vereintbürgerliche, politische, ökonomische, soziale und kulturelle Rechte und ebendiese Komplexität ist kinderpolitisch umzusetzen. Sie erhebt den Anspruch einerintegrativen Sicht auf Menschenrechte: deshalb sind die einzelnen 41substantiellen Artikel nur in ihrem Zusammenhang ausdeutbar und realisierbar.Das soll beispielhaft an zwei der so genannten übergreifenden Prinzipienaufgezeigt werden.

 

Die übergreifenden Prinzipien der Konvention

Ist die Konvention nun ein Vertragswerk, gegen das maneinwenden kann, dass es zwar im Rahmen der UN seine Rolle spielen möge, ineiner riesigen und konkret kaum vorstellbaren Institution, dass es, diesesVertragswerk, aber doch in seiner an den Menschenrechten ausgerichtetenGrundauffassung konkret unwirksam bliebe, fern von den Alltagsbelangen undfremd gegenüber beruflichen Bezügen? Oder aber sollte man einwenden, dass eszwar eine allgemeine Rolle spielen möge, gewissermaßen für jedermann und vorallem für die Probleme der Dritten Welt fernab, aber doch nicht für sodiffizile Belange und Entscheidungsproblematiken, wie sie charakteristisch sindfür die Soziale Arbeit? Doch selbst die übergreifenden Prinzipien derKonvention stehen für deren konkrete Relevanz im Alltagsleben! Eben das sollhier gezeigt werden. Sie stehen im Zentrum dessen, worum es auch in derSozialen Arbeit grundlegend geht.

Alssolche übergreifende Prinzipien wurden vom ersten im Jahr des Inkrafttretens1990 gewählten UN Kinderrechtsausschuss auf dessen erster Sitzung 1991 diefolgenden besonders hervorgehoben: das Verbot jedweder Art von Diskriminierung(Art.2), das Wohl des Kindes (best interest) (Art.3), das Recht auf Leben undEntwicklung (Art.6) und, wie es in der deutschen Fassung heißt, die „Berücksichtigungdes Kindeswillens" (Art.12).[iv] Die Artikel3 und 12 sollen hier als Beispiele für das konkret umfassende Grundverständnisder Konvention dienen.

Die Verpflichtung auf das Kindeswohl als einer ehrwürdigen sozialarbeiterischenTradition ist wohl für jede Sozialarbeiter/in eine konkret zwiespältigeAufgabe. Denn für die Verpflichtung gegenüber diesem unbestimmten Rechtsbegriffkann auch im KJHG eine Handlungsanleitung notwendigerweise nicht gegebenwerden. Zwar genießen das Wohl des Kindes und seine Würde auch bei unsgrundrechtlichen Schutz. Doch deutlicher noch werden in der Konvention nun die Rechte des Kindes in der Dimensionseines Wohles begriffen oder genauer: das Wohl des Kindes wird mit seinenRechten verknüpft, es wird selbst zu einem Recht! Entscheidungen zum Kindeswohlsind so nur über eine sublime Kenntnis seiner Rechte und im Respekt gegenüberseinen Rechten zu haben. So ist es nicht mehr möglich, Entscheidungen alleinfürsorglich, bevormundend oder objektivistisch vorzugeben, ob sie sich nun aufden Einzelfall, auf eine Gruppe, auf die kindlichen Bewohner einerNachbarschaft, einer Stadt oder eines Landes beziehen. Sie sind vielmehr ausder Perspektive des Kindes zu rekonstruieren und diese Perspektive ist ohne dieaktive Mitwirkung von Heranwachsenden nicht zur Hand (siehe dazu weiter untenzu Art.12). Auf Entscheidungen zum Wohl des Kindes lastet demnach ein enormerVerantwortungsdruck von Seiten einzelner Erwachsener sowohl wie einer ganzenGeneration: denn angesichts der Rechte des Kindes wird die Verantwortung vonErwachsenen nicht ausgehebelt sondern vertieft. Rechte von Eltern können zumalnicht mehr als solche gar gegen die von Kindern geltend gemacht werden: denndie Rechte des Kindes schützen die Rechte von Eltern, anders als in derdeutschen Verfassung, nur im Hinblick auf deren Verpflichtungen gegenüber denMenschenrechten des Kindes![v]

Praktischbetrachtet unterliegt das Konzept vom Kindeswohl zwar kontroversenEinschätzungen und Konflikten. Doch aufgefasst als ein Menschenrecht zwingt esdazu, Entscheidungsgesichtspunkte im höchsten Maße auszudifferenzieren, damitBegründungen allen Zweifeln schließlich standhalten. Es zwingt ebenso zufortlaufend sorgfältiger Überprüfung der Angemessenheit von Entscheidungen imweiteren Verlauf der Entwicklung dessen, was mit der Entscheidung intendiertworden war bzw. worin sie zunächst begründet erschien. Doch greift dieKonvention weit über eine Berücksichtigung des Kindeswohls im Familienrechthinaus: denn alle „Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen" unterstehen diesemPrinzip (Art.3 Abs.2), ebenso wie  fachliche Eignung und Anzahl des Personal in der Fürsorge für Kinder(Abs.3).

Erwachseneninteressenbrechen sich am best interest desKindes. Erwachseneninteressen werden erst so in ihrer Tragweite für Kinder alssolche erkennbar. Sie können nicht mehr hinter der Fassade des guten Willensverdeckt bleiben. Es sind die Kinder, die, um ein Beispiel zu geben, einUmgangsrecht mit beiden ihrer getrennt lebenden Eltern innehaben, außer ihrWohl wäre gefährdet. Erscheint aber dieses Wohl gefährdet, tritt dasElternrecht gegenüber dem Recht des Kindes auf eine von Eltern unbeschadeteKindheit zurück. Das ist der Perspektivenwechsel! Erwachsene werden weiterhingebraucht: nämlich in ihrer Verantwortung gegenüber dem Heranwachsenden, sofernsie einer solchen fähig sind. Doch es sind umgekehrt die Kinder, die ein Recht haben, sich „in allen das Kindberührenden Angelegenheiten frei zu äußern", zu Gehör zu bringen, was ihnen aufder Seele brennt. Es ist ihr Anspruch an die Gesellschaft undkeineswegs mehr eine persönlich karitative Geste von Erwachsenen, wenn sieihnen, den Kindern, Gehör schenken. Erwachseneninteressen stehenkinderrechtlich auf dem Prüfstand! Eben das bliebe sonst mit dem herkömmlichenWort vom Kindeswohl, das sich auch kontraproduktiv für die Rechtfertigung vonEingriff und Kontrolle eignet, verdeckt. Durch die Konvention jedoch wirddeutlich gemacht, dass das Elternrecht von den Kinderrechten her zuthematisieren ist, dass aber auch das staatliche Wächteramt sich - inDeutschland seit 1992 - allein von den Kinderrechten her legitimiert undzugleich in dieser Perspektive dringend ist.

Die Kinderrechtskonvention vollzieht diesen radikalenParadigmenwechsel. Denn Kinderrechte sind nicht zu gewähren, sie sind schon da.Sie können eingeklagt werden. Sie messen sich gewissermaßen aneinander: dasRecht auf Bildung ist ein Recht und zugleich die Voraussetzung zur Wahrnehmungeigener Rechte; das Recht auf Gehör (siehe dazu im Folgenden) ist ein Recht undzugleich eine Voraussetzung für das Wohl des Kindes; das Recht auf Beteiligungan Entscheidungen, die das Kind betreffen, ist Voraussetzung seinerEntwicklung; das Recht auf geeignete Entwicklungsbedingungen ist Voraussetzungder Wahrnehmung jedweder Rechte überhaupt. Die Voraussetzung des Ausübens vonKinderrechten also ist stets zugleich deren Schutz durch die Gesellschaft undmehr als das, ihre Anerkennung und ihre gesellschaftliche Unterstützung. Und esist diese, auch politische Anerkennung, auf die Kinder ein Menschenrecht haben.Von dieser Anerkennung sind wir in diesem Lande weit entfernt!

Kinder haben Rechte. Zur ihrer Anerkennungaber gehören stets zwei: Kinder undErwachsene. Menschenrechte können den Kindern nicht genommen werden. Dochkönnen sie ohne Anerkennung nicht ausgeübt werden. Als Menschenrechte sind dieRechte des Kindes fraglos Bestandteil ihres Menschseins: und doch finden siestatt und werden ausgeübt in einer Beziehung, nämlich zwischen Erwachsenen undKindern. Die Herausforderung also liegt bei den Erwachsenen: sie zu allerersthaben den Perspektivenwechsel zu lernen! Diese Rechtsstellung der Kinder macht das Kindeswohl zu ihrem Recht. Das Kindeswohlkann nicht mehr als Deckmantel herrschaftlicher Verfügung herhalten.

Im Kontext seiner Menschenrechte ist das Kind aktiver Anspruchsinhaber,Rechtssubjekt, und deswegen zugleich Akteur im Kontext seines Wohls. SeineBeteiligung (Art.12) auch an seinem Wohl also ist sein Recht. Eben deshalb istseine Äußerung, seine Mitsprache, seine Mitwirkung bis hin zur selbstverantworteten Entscheidung nach Maßgabe seiner entwickelten Kompetenzen schonein Recht, bevor ihm die Macht zur Durchsetzung zu Verfügung stehtPartizipation also ist mehrperspektivisch zu sehen und nicht auf eineMachtfrage zu reduzieren. Denn das Menschenrecht der Anerkennung meiner Würdekann schon darin bestehen, dass ich Antwort erhalte und mir nachvollziehbargemacht wird, warum meinem Wunsch in gegebenen Fall nicht entsprochen werdenkann, welche Gesichtspunkte also schließlich handlungsleitend geworden sind.Die weiterreichende Frage einer politischen Vertretung von Interessen vonKindern und Jugendlichen und einer effektiven Mitwirkung am politischenGeschehen kann hier nicht diskutiert werden. Jedoch kann sich heute keinErwachsener mehr herausreden, Heranwachsende seien im gegebenen Falle nicht inder Lage, reif genug oder willens, zum Beispiel im Hilfeplangespräch einenaktiven Part zu übernehmen: vielmehr geht es um das Einfordern aller erdenklichenfachlichen und methodischen Hilfen und Ressourcen, damit die nötige Kompetenzauf Seiten der Erwachsenen zur Gestaltung solcher Gespräche als Dialog imInteresse des Heranwachsenden entstehen kann.

Im Zuhören geht es um die Herstellung geteilten Wissen in der Achtung vor denLebensäußerungen des Kindes. Seine Sichten ernst zu nehmen kann heißen, ihnenzu widersprechen. Ein Widersprechen ist nicht entwürdigend, denn es kann diePerspektive des Kindes aufnehmen, ohne sie zu verletzen. So ist der §36 des KJHGzu verstehen: das Kind ist nicht einfach nur zu konsultieren. Vielmehr ist ihmauf eine sensible Weise zu ermöglichen, dass es seine Perspektive auf eineanstehende Entscheidung zu einer Hilfe zur Erziehung tatsächlich findet. Wenndann aber dieser Perspektive nicht Raum gegeben werden kann, so ist sie dennochzu einem Bestandteil eines weiteren sensiblen Vorgehens geworden. DieseWürdigung ist Menschenrecht des Kindes. Eine bloße technische Handhabehingegen, die einer gesetzlichen Maßgabe nur formal Genüge tun würde, iststattdessen menschenrechtlich gesehen eine Entwürdigung des Kindes.

 

Menschenrechtlich allerdings ist diese Regelung des KJHGim §36 insgesamt noch nicht überzeugend. Zwar liegt hier schon ein Schritt inder richtigen Richtung vor: die Fachkräfte sollen „zusammen mit demPersonensorgeberechtigen und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplanaufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfesowie die notwendigen Leistungen enthält". Von der tatsächlichen Praxis einersolchen Hilfeplanerstellung einmal abgesehen, ist doch vor allem keine Rededavon, dass Kinder oder Jugendliche auch im weiteren Verlauf der Hilfe selbstirgendeine Mitwirkung haben oder sich zu Gehör bringen können in der Gewissheiteiner angemessenen Berücksichtigung ihrer Sichten. Ebenso wenig ist ihnenvielleicht vor der Feststellung einer Hilfebedürftigkeit jemals schon ernsthaftzugehört worden. Eben dieser Sachverhalt mag gerade zu dem geführt haben, wasnun als Hilfebedürftigkeit gesetzlich definiert zu Tage tritt. Es steht alsonoch aus, das KJHG menschenrechtlich zu erweitern!

 

Ein menschenrechtlich belehrter Blick auf die Soziale Arbeit?

Schaut man in der umschriebenen Perspektive auf die Kinder- und Jugendhilfe, zeichnensich für diese Herausforderungen ab, die sich zugleich für ein professionellesSelbstverständnis als nicht mehr hintergehbar erweisen.

Dennes geht um die menschenrechtliche Anerkennung der Heranwachsenden imface-to-face Verhältnis (Art.12). Es geht um das streitbare Vertreten ihrerInteressen an gesellschaftlicher Teilhabe, um Advokatorik. Es geht um dasSicherstellen der „für die Entwicklung des Kindes notwendigenLebensbedingungen" und das Einklagen ihrer Rechte an einem Aufwachsen mit„angemessenem Lebensstandard" (Art.27). Es geht darum, das verfassungsgemäßeWächteramt des Staates kritisch zu begleiten: im Hinblick auf Gesetzgebung,Ressourcen (Art.4) und nachhaltige Umsetzung.

Esgeht dabei um nicht weniger als um die konkret politische Wachsamkeit in Bezugauf die völkerrechtlich bindende Selbstverpflichtung des Staates auf dieAchtung der Menschenrechte der Heranwachsenden.[vi]Dieses Wächteramt des Staates politisch und konkret fallbezogen zu begleitenund zugleich beruflich zu vertreten und umzusetzen, ist die herausforderndschwierige professionelle Lage von Sozialarbeiter/innen.

Politisch geht es auch um Fragen wie diese: Sind die verschiedenen regelmäßigen Berichte,die den UN Gremien vertraglich vorzulegen sind, kritisch genug in derSelbsteinschätzung oder wird ein selbstgerechtes Bild der gegenwärtigenSozialpolitik und sozialen Landschaft gezeichnet? Sind dieRegierungsdelegationen, die gegenüber den UN Gremien für die verschiedenenMenschenrechtsverträge Rechenschaft abzulegen haben, überhaupt mit einerKompetenz ausgestattet, welche die Soziale Arbeit mit einschließt?[vii]Sind umgekehrt die nationalen Instrumentarien wie z.B. die regelmäßigen Kinder-und Jugendberichte[viii] überhaupterkennbar auf die Kinderrechte gegründet?

Wie kann eine Kritische Sozialarbeit ihre Impulse nicht aus den Menschenrechtenbeziehen? Allein ein menschenrechtlich aufgeklärtes Verständnis von SozialerArbeit könnte zumal den Rahmen für eine Kritische Sozialarbeit[ix]abgeben! Denn bei den Menschenrechten für Heranwachsende handelt es sich nichtum „hoch gehängte ethische Prinzipien", wie es gelegentlich heißt, sondern umihre verbrieften Rechte! Diese Menschenrechte allerdings sind als maßgeblich zubegreifen für jedwede Humanberufe und deswegen eben auch für die Soziale Arbeitin der Kinder- und Jugendhilfe. Eine einzelne Berufsrichtung hingegen solltesich wohl kaum mit einem auf die Menschenrechte bezogenen Beiwort schmücken.Wohl aber muss die Kinder- und Jugendhilfe endlich aus ihrer nationalen Nischefinden und sich als eine Agentin der Menschenrechte Heranwachsender begreifen,auch über den nationalen Tellerrand hinaus.[x]Sie wird dann herausfinden, dass die Kinderrechtskonvention längst zurEntwicklung internationaler Standards geführt hat, die ihrerseitserfahrungsoffen, kulturell sensitiv und deswegen in beständiger Entwicklungsind.[xi]



[i] Als eine Ausnahme von dieser Ignoranz muss der FHMasterstudiengang „Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession" in Berlinbetrachtet werden.

[ii] Es sei noch einmal betont, dass hier nur von den durchdie UN verbrieften Kinderrechten die Rede sein wird und anders lautende Ideenvon Kinderrechtsbewegungen nicht berücksichtigt werden .

[iii] Dieser Gedanke wurde von dem polnischen Arzt,Pädagogen und Schriftsteller Korczak (1878-1942) schon während des ErstenWeltkrieges formuliert.

[iv] Hier sei kurzerhand die dringende Empfehlungeingeflochten, sich des englischen Textes zu bedienen, da die deutscheÜbersetzung etliche Schwachpunkte aufweist, so z.B. im Hinblick auf: best interest (Art.3),evolving capacities (Art.5,14), maximum extent of the availableresources(Art.4), primary education (Art.28).

[v] Dieser grundrechtliche Schutz des Elternrechts inDeutschland hat, insbesondere 1988, zu Skepsis oder gar Ablehnung der Konventionwährend ihres Entstehungsprozesses im Rahmen der damaligenMenschenrechtskommission geführt (1979-1989) und wird aktuell von der CDU alsArgument gegen eine Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz benutzt.

[vi] Vgl. hierzu das von der International Federation ofSocial Workers 2002 publizierteTrainingshandbuch „Social Work and the Rights of the Child. A Professional TrainingManual on the UN Convention", das zudemin konkreten Beispielen hoch dilemmatische Entscheidungssituationen zurDiskussion stellt, oder das „Implementation Handbook for the Convention on theRights of the Child von unicef, 3. Aufl.2007,z.Z. nur als CD-ROM..

[vii] Das konnte man von der Regierungsdelegation, die denzweiten Bericht der Bundesregierung 2004 mit der Kinderrechtskommission in Genfzu diskutieren hatte, leider nicht sagen (persönliche Beobachtung).

[viii] Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht bezieht sich aufdie Konvention, das aber genau genommen allein deswegen, weil es mit SvenBorsche ein Mitglied gab, der im Namen einer NGO im Rahmen derMenschenrechtskommission einst selbst an deren Formulierung mitgewirkt hatte.Für den 11. und 12. Bericht entfällt diese Personalunion. Folglich gibt eskeinerlei Verweis, obwohl die Bundesregierung dies im Nationalen Aktionsplan2005 ausdrücklich im Sinne einer Evaluation ihrer auf die Kinderrechtebezogenen Bemühungen„beabsichtigt".

[ix] Vergleiche dazu die eigentümliche Abstinenz, wie siefür die Debatte einer „Kritischen Sozialarbeit" im 100. Heft der Widersprüche2006 charakteristisch ist.

[x]  Deshalbfolge ich nicht dem Begründungszusammenhang von Silvia Staub-Bernasconi 1995,das Anliegen der Sozialen Arbeit müsse "eine theoretisch-wissenschaftliche Begründungsbasis sein und mit ihr dermögliche wie anzustrebende Nachweis von allenMenschen gemeinsamen Bedürfnissen" (S.69, Hervorh. im Original). Einekeineswegs international einigungsfähige Bedürfnistheorie ist angesichts desMenschenrechtsdiskurses der UN keinesfalls vonnöten.

[xi] In der deutschen Fachliteratur allerdings trifft manauf eine bemerkenswerte Ignoranz gegenüber diesem Sachverhalt, ob es sich nunum Sorgerechtsfragen, Jugendgerichtsverfahren, Hilfen zur Erziehung oderJugendhilfeplanung handelt. Man sollte zumindest schon einmal damit beginnen,die so genannten General Comments desKinderrechtsausschusses zur Vielfalt anstehender Probleme zur Kenntnis nehmen,von denen seit 2001 zehn erschienen sind und voraussichtlich im Jahre 2008 zweiweitere folgen werden. Es dauert einige Zeit, bis sie vom Deutschen Institutfür Menschenrechte in deutscher Übersetzung vorliegen, weshalb ich dieenglische Fassung aus dem Internet vorschlage (www.ohchr.ch).

 

Literatur

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Bundesministerium fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend (HRSG.) 2005: Nationaler Aktionsplan. Fürein kindergerechtes Deutschland 2005-10

Bellamy, Carol, Zermatten, Jean 2007: Realizing the Rights of the Child.Bern: rüffer & rub

Davis, Martha F., Powell, Roslyn 2003: The International Convention onthe Rights of the Child: A Catalyst for Innovative Childcare Policies.In: Human Rights Quarterly 25, pp 689-719

Hall, Nigel (ed.) 2006: Social Work: Making a World of Difference.International Federation of Social Workers and Fafo

Hammarberg, Thomas; Holmberg, Barbro 2000: Best Interest of the Child -the Principle and the Process. In: Save the Children, UNICEF

International Federation of Social Workers 2002: Social Work and theRights of the Child. A Professional Training Manual on the UNConvention. Bern

Lorz, Ralph Alexander 2003:Der Vorrang des Kindeswohls nach Art.3 der UN-Kinderrechtskonvention in der deutschenRechtsordnung. Berlin: Arbeitsgemeinschaft Jugendhilfe

Save the Children Sweden, UNICEF Regional Office for South Asia,Kathmandu Napa (ed) 2000: Children's Rights. Turning Principlesinto Practice

Staub-Bernasconi, Silvia 1995: Das fachlicheSelbstverständnis Sozialer Arbeit - Wege aus der Bescheidenheit. Soziale Arbeit als "Human Rights Profession. In: Wolf Rainer Wendt (Hrsg.) SozialeArbeit im Wandel ihres Selbstverständnisses. Beruf und Identität. Freiburg i. Breisgau: Lambertus

Thomas, Nigel 2007: Towards a Theory of Children's Participation. In:International Journal of Children's Rights 15, 199-218

Winkler, Michael 2000: Diesseits der Macht. In: Neue Sammlung, 40/2,S.187-209

Zermatten, Jean 2007: The Convention on the Rights of the Child from thePerspective of the Child's Best Interest and Children's Views.In: Bellamy,C., Zermatten,J. 2007

 

Prof. Dr. phil. Waltraud Kerber-Ganse, Institut fürSozialpädagogik, Sekr. FR 4-7, Franklinstr. 28/29, D-10587 Berlin