Die Führungsfähigkeiten der USA erodieren. Auch die nächste
US-Regierung wird der Tatsache ins Auge sehen müssen, dass der
mächtigste Staat der Erde in einem globalen System der geopolitischen
Machtrivalitäten und weltwirtschaftlichen Instabilitäten nicht
unhinterfragt herrschen kann, schreibt Tobias ten Brink. Dabei ordnet er die Entwicklungen der letzten Jahre in imperialismustheoretische Debatten ein.
Die weltweiten Kräfteverhältnisse nach dem Ende des Kalten Krieges
wurden von den USA dominiert. Mitte der 1990er konnte sogar von einer
unangefochtenen, hegemonialen Rolle gesprochen werden. Es ist aufgrund
der einzigartigen Machtkapazitäten nicht allein als ideologisches
Wunschdenken bzw. überhöhter Ausdruck einer „Ausnahmestellung“ zu
begreifen, wenn amerikanische Machteliten das Ziel eines übergreifenden
„Imperiums“ formulieren.1
Seit Jahrzehnten zielt die amerikanische Außenpolitik strategisch auf
die Schaffung eines globalen „freien“ Marktes, der vom amerikanischen
Staat reguliert wird. Dieser Anspruch scheint mit der Masse der Profite
zu korrespondieren, die US-Unternehmen im Ausland realisieren: „Gemäß
Zahlen des Jahres 2000 erscheint der Umfang von USDIA-Profiten
[Profite, die von US-Unternehmen bzw. deren Tochterfirmen im Ausland
erzielt wurden, Anm. TtB] überwältigend. USDIA-Profite stellten 53 %
der inländischen Profite“.2
Tatsächlich kontrollieren die Vereinigten Staaten den internationalen
Raum wie kein anderer Akteur. Aus dieser Vormachtstellung resultieren
„Hegemonialrenten“3
(u.a. aufgrund der Rolle des Dollar als Weltgeld), die die Kosten der
Aufwendungen für die Herstellung dieser Ordnung (Verteidigungsausgaben
etc.) übertreffen können. Auf absehbare Zeit wird der amerikanische
Staat die Vorzüge einer einheitlichen Volkswirtschaft mit enormen
Kapazitäten und eines übergreifenden ökonomischen Anziehungspunktes
nutzen können. Auf Grundlage ihrer gewaltigen militärischen Übermacht
stellen sie ein, wenn auch prekäres „Gewaltmonopol“ dar, das nicht nur
die amerikanischen, sondern auch andere international operierende
Unternehmen sowie Staaten für ihre Reproduktion zu nutzen versuchen.
Zu einem gewissen Grad fungiert damit die US-amerikanische
Weltordnungspolitik auch als Dienstleister der global um stabile
Verwertungsmöglichkeiten und Wertschöpfungsketten bemühten Unternehmen
sowie von Teilen der politischen Machteliten anderer Industriestaaten.
Die in den Staaten des „Westens“ in Ansätzen geteilte kulturalistische
Vorstellung eines neuen Konflikts zwischen der „zivilisierten Welt“ und
der „barbarisierten Welt“ – der „Kampf der Kulturen“ – deutet auf
diesen Sachverhalt hin, auch wenn unterschiedliche Taktiken debattiert
werden, wie diesem Konflikt entgegenzutreten sei (was aber auch für die
Diskussionen in den USA selbst zutrifft).
Grenzen der amerikanischen Macht
Doch dies ist nur ein Teil des Gesamtbilds. Die Umsetzung der
Ziele gelingt nämlich nur partiell – im „alten“ Europa schlechter als
im „neuen“, in Japan besser als in China, in Indien besser als in
Russland, in Lateinamerika schlechter als in Südostasien, im Nahen und
Mittleren Osten schlechter als in Zentralasien. Der Versuch der Bildung
eines weltumspannenden Imperiums, der mit der hegemonialen Kontrolle
anderer „Vasallenstaaten“ einhergeht, sowie die Strategie offener
Märkte, stoßen auf Widerstände. Der Wunsch nach einem „US-Imperium“
wird von der Realität des „Imperialismus“, d.h. der geopolitischen
Machtrivalitäten im internationalen Staatensystem und der Instabilität
der Weltwirtschaft, konterkariert. Das trifft abgeschwächt auch auf die
enge „transatlantische Partnerschaft“ zu: Die Vereinigten Staaten
definieren Ansprüche an die „Alliierten“ – etwa den deutlichen Vorrang
der NATO und deren Erweiterung auch gegenüber der europäischen
Sicherheitsorganisation, die Entwicklung einer europäischen
Verteidigungspolitik im Rahmen der NATO, die Angleichung der
Bedrohungswahrnehmungen –, die allerdings nicht ohne weiteres umgesetzt
werden. Die Beständigkeit des transatlantischen Bündnisses in den
1990ern war keine zwangsläufige, sondern eine unter größeren
Anstrengungen seitens der USA politisch erkämpfte Entwicklung, wie das
amerikanische Engagement in den Balkankriegen, die NATO-Osterweiterung,
die Einflussnahme auf die EU-Osterweiterung oder, zuvor, die
Etablierung des marktliberalen „Washington Consensus“4 anzeigt.
Auch die Entwicklung der Weltwirtschaft fordert den amerikanischen
Staat heraus. Seit den 1970ern konnten die USA die weltwirtschaftlichen
Turbulenzen bis zu einem gewissen Grad abfedern bzw. Kriseneffekte
anderen Regionen aufbürden. Die hegemoniale Position der USA in der
Weltwirtschaft war niemals ernsthaft gefährdet. Gegenwärtig erscheint
es allerdings zumindest als fragwürdig, ob die aktuelle ökonomische
Krise und ihre noch schwer absehbaren Folgen in ähnlicher Weise unter
Kontrolle gehalten werden können. Die Tiefe der Krise – für gewöhnlich
resultiert die Bankenkrise aus einer allgemeinen Krise, diesmal geht
sie ihr voraus, d.h. das Bankensystem ist bereits geschwächt, bevor die
Belastungen aus der allgemeinen Krise kommen – und der auch aufgrund
des Aufstiegs Chinas und anderer neuer „Global Player“ relativ
betrachtet reduzierte amerikanische Anteil an der Weltproduktion machen
dieses Unterfangen zum schwer zu bewältigenden Mammutprojekt. Ökonomen
diskutieren die Möglichkeit eines ernsthaften Vertrauensverlustes in
den Dollar und selbst in die amerikanische Zentralbank.
Die Differenz zwischen den hegemonialen Zielen der amerikanischen
Weltordnungspolitik und ihrer Umsetzung kann – etwas weniger spekulativ
als in der Frage der Bewältigung der aktuellen Finanzkrise – am Fall
der Kontrolle der Weltölressourcen exemplifiziert
werden. Auf der einen Seite steht hier der Anspruch, als hegemonialer
Ordnungsgarant die Ölnachfrage zu regulieren, indem auch die Interessen
anderer berücksichtigt werden: „Mit ihrer militärischen Macht
gestalteten die Vereinigten Staaten eine geopolitische Ordnung, die das
von ihnen bevorzugte Modell der Weltwirtschaft politisch stützt: also
eine immer offenere internationale liberale Ordnung. Die US-Politik
zielte darauf ab, eine offene internationale Ölwirtschaft zu gestalten,
wo von großen multinationalen Firmen beherrschte Märkte Kapital und
Waren zuteilen. Die Macht des US-Staates wird nicht einfach nur
eingesetzt, um die Konsumbedürfnisse der Vereinigten Staaten und der
US-Firmen zu schützen. Es geht für die USA, in der zuversichtlichen
Erwartung, als die führende Volkswirtschaft der Welt alle ihre
Bedürfnisse durch Handel befriedigen zu können, vielmehr darum, die
allgemeinen Voraussetzungen für einen Weltölmarkt zu schaffen“.5
Diese Zielsetzung trifft allerdings in der Realität auf strategische
Präferenzen anderer Akteure, die mitunter mit den US-amerikanischen
kollidieren.
Im Nahen und Mittleren Osten etwa interagieren mehrere starke Staaten
und weitere inter-gesellschaftliche Akteure in einem Raum hoher
geostrategischer Bedeutung. Auch die lokalen Staaten treten mit eigenen
außenpolitischen Bestrebungen der Kontrolle von Räumen in Erscheinung.
Einige OPEC-Staaten haben seit den 1970ern vor dem Hintergrund der
steigenden weltweiten Abhängigkeit gegenüber den Erdölressourcen an
Relevanz gewonnen. Des Weiteren haben innerhalb der Region bis in die
1970er nationalistische, seitdem vor allem politisierte
religiös-nationale Bewegungen Einfluss auf die Politik von
Einzelstaaten gewonnen. Zwischen den Staaten bzw. den
Kräfteverhältnissen, die sie repräsentieren, finden oft
Auseinandersetzungen statt, die selten zugunsten aller beteiligten
Interessen gelöst werden können. Zugleich spielen sich in dieser Region
indirekte geopolitische Konflikte zwischen den größten Staaten der Welt
ab: Die europäischen und ostasiatischen Mächte sind beispielsweise
erheblich abhängiger von den Öl- und Gasressourcen des Nahen und
Mittleren Ostens als die Vereinigten Staaten. Weil die Regierungen der
Vereinigten Staaten um die strategische Bedeutung
der Ware Öl wissen, reagieren sie mit ihrem Ringen um den Nahen und
Mittleren Osten nicht in erster Linie auf das Interesse einiger
einheimischer Ölkonzerne (und damit zusammenhängender Industriezweige),
sondern möchten als vorherrschende Kraft die Bedingungen und Regeln der
Aneignung der Energieressourcen bestimmen, auch wenn dafür wie im Fall
des Irakkriegs 2003 und der daran anschließenden Besatzung Aktionen
nötig sind, die sich überhaupt nicht ökonomisch „rechnen“. Eine
Vormacht in dieser Frage, so die (riskante) Annahme, befördere die
Vorherrschaft in anderen Bereichen, etwa die Kontrolle der
Weltleitwährung.6
De facto stellen sich die ausgeklügelten außenpolitischen Strategien
der USA als ein mehr oder minder effektives Krisenmanagement dar und
nicht als eine hegemoniale Führung.7
Bereits diese Sachverhalte verweisen darauf, dass die USA weder eine
hegemoniale Führungsmacht noch ein Imperium, sondern lediglich der
vorherrschende Akteur der Weltpolitik sind. „Imperien bestimmen die
Spielregeln. Sie haben es nicht nötig, umständliche und nicht
einleuchtende Ausnahmen für sich einzufordern, die fast von der ganzen
Welt abgelehnt werden. Ein Staat, der nicht in der Lage ist, die von
ihm bevorzugten internationalen Normen durchzusetzen, ist kein
Imperium. Ein Staat, der nicht wenigstens zähneknirschende Zustimmung
seiner wichtigsten ‚Verbündeten’ erhalten kann, übt nicht einmal eine
Hegemonie aus“.8
Der „Krieg gegen den Terror“ wurde mit dem Ziel geführt, die globale
Vorherrschaft der Vereinigten Staaten zu festigen oder gar auszubauen.
Faktisch wurde sie geschwächt. Im Vergleich zur Mitte der 1990er Jahre
hat sich die USA vom Ziel der hegemonialen politischen Führung
entfernt, wiewohl ihre Führungsfähigkeit in verschiedenen Bereichen
variiert.
Eindämmung potentieller Konkurrenten
Mit dem systematischen Ausstieg aus internationalen Verträgen (z.B.
Atomteststopvertrag, Vertrag über biologische und toxische Waffen,
ABM-Vertrag9,
Ratifizierung des Internationalen Strafgerichtshofs) gewinnt die USA
zwar auf der einen Seite an Entscheidungsfreiheit, verliert aber
zugleich an Fähigkeit, seine Bündnispartner im Konsens zu führen.
Vielmehr scheinen die Vereinigten Staaten mit ihren militärischen
Aktionen darauf zu setzen, ihre Bündnispartner einschüchtern zu wollen.
Der gewagte Versuch, über den Einsatz militärischer Kapazitäten die
eigene Vorherrschaft zu befestigen oder gar auszubauen, bringt jedoch
nicht den erwarteten Erfolg. Der amerikanische Hegemonismus hat zu
einer Reaktion geführt, die man als „Soft-Balancing“ bezeichnet:
„Frankreich und Deutschland haben nämlich versucht, amerikanische
Initiativen politisch zu blockieren, oder sie haben ihre Mitarbeit
verweigert, als sie darum ersucht wurden. Desgleichen haben die
asiatischen Länder sich aktiv darum bemüht, regionale multilaterale
Organisationen zu bilden, da Washington bei ihnen den Eindruck erweckt,
es interessiere sich nicht besonders für ihre Bedürfnisse. Hugo Chavez
in Venezuela hat die Öleinkünfte des Landes dafür eingesetzt, Länder in
den Anden und in der Karibik aus der amerikanischen Einflusssphäre
herauszulösen, während Russland und China zusammenarbeiten, um die
Vereinigten Staaten nach und nach aus Zentralasien hinauszudrängen“.10
Als möglicherweise folgenreichster Grund für die Erosion der
amerikanischen Vormachtstellung kann der Trend zu einer Rezentrierung
der Weltwirtschaft in Ostasien gelten. Der asiatische Anteil am
weltweiten Bruttosozialprodukt ist zwischen 1960 und heute von 13 % auf
etwa 30 % gestiegen. Besonders die Entwicklungsstrategien Chinas
stellen relativ stabile globale Kräfteverhältnisse und abgesteckte
Interessenssphären „alter“ Großmächte in Frage und bergen damit
mittelfristig eine Reihe von Konkurrenz- und möglicherweise
folgenreicher Konfliktverhältnisse in sich. Einige AutorInnen sehen
diesen Prozess als eine „hidden agenda“ hinter der hegemonialen Krise
Washingtons.
In diesem Zusammenhang wird plausibel, warum Teile der amerikanischen
Machteliten im Rahmen ihrer Globalstrategien nicht nur die Einbindung,
sondern auch die Eindämmung möglicher Konkurrenten um die globale Vorherrschaft diskutieren.11
Dabei gelten besonders Russland und China als mögliche Wettbewerber um
die Rolle der Führungsmacht. Virulent werden die Konkurrenzen um
Einfluss- und Interessenssphären zwischen den USA sowie China und
Russland im Hinblick auf den „Eurasian Continental Rim“. Dieser sich
von Osteuropa über den Kaukasus bis nach Zentralasien erstreckende
Staatengürtel befindet sich seit der Auflösung der Sowjetunion in einem
Prozess der geopolitischen Restrukturierung. Bis 1991 waren 14 der
heutigen Staaten Republiken der Sowjetunion. Um den Einfluss in diesem
„Schwarzen Loch“ ringen seitdem die Großmächte. Beim Krieg zwischen dem
künftigen Nato-Mitgliedstaat Georgien und Russland um Südossetien und
Abchasien handelte es sich nicht nur um einen lokalen Konflikt – es
ging auch um das internationale Kräfteverhältnis.
Renaissance der Imperialismusanalyse
Das Zeitalter der „Globalisierung“ sollte eigentlich das Ende der
Machtpolitik und zwischenstaatlicher Konflikte mit sich bringen.
Heerscharen an JournalistInnen und WissenschafterInnen posaunten das in
den 1990ern hinaus. Diese optimistische liberale Erklärung geht
langfristig von einem Versiegen der Quellen internationaler, mit Gewalt
verbundener Konflikte aus. Geopolitik und Krieg rühren dem zufolge aus
vormodernen Quellen. Je mehr sich marktwirtschaftliche Prinzipien
global durchsetzen und die wirtschaftliche Interdependenz zunimmt,
desto mehr werden zwischenstaatliche Konflikte an Bedeutung verlieren.
Die Politik der Bush-Regierung wird auf ein nicht mehr zeitgemäßes,
„irrationales“ Machtstreben reduziert.
Im wissenschaftlichen „Mainstream“ wird diese These in der Regel nur
von konservativen Argumentationen herausgefordert. Eine
übergeschichtliche Konstante der ungleichen Machtverteilung begründet
dem zufolge eine anhaltende Tendenz zur militärischen Absicherung
einzelstaatlicher Interessen. Jeder Staat, der auf Machtpolitik
verzichtet, droht letztlich zum Opfer der Machtpolitik anderer Staaten
zu werden, was zu einer Unterordnung staatlicher Handlungen unter das
Interesse des Machterhalts führt. Nach der Devise „Das ist halt so“
werden die politischen Eliten dazu angeregt, sich den „Umständen“ gemäß
zu verhalten – und gegebenenfalls mit Gewaltmitteln für die Sicherheit
und die Interessen eines Landes zu sorgen.12 Amerikas Rolle als „Weltpolizist“ wird folgerichtig akzeptiert.
An den kritischen Rändern des Wissenschaftsbetriebs und in sozialen
Bewegungen werden der „alte“ wie „neue“ Imperialismus und die
amerikanische Außenpolitik im Zusammenhang mit dem globalen
Kapitalismus und den mit ihm zusammenhängenden Konkurrenzverhältnissen,
Machthierarchien und Unterdrückungsmechanismen erforscht. Im Gegensatz
zu konservativen TheoretikerInnen halten die linken TheoretikerInnen
diese Struktur jedoch prinzipiell für überwindbar.
In den letzten Jahren ist es zu einer Wiederbelebung
imperialismustheoretischer Debatten gekommen. Die dafür verwendeten
theoretischen Ansätze unterscheiden sich freilich. Nachdem die so
genannte Empire-These von Michael Hardt und Antonio Negri13
in den letzten Jahren an Strahlkraft verloren hat – die Annahme einer
Transformation des Kapitalismus und der fragmentierten Staatenwelt in
einen „glatten Raum“ der Machtausübung, einer Herrschaft des
„Gesamtkapitals“ – haben zwei andere Ansätze an Bedeutung gewonnen: Die
These eines amerikanischen Superimperialismus und die Annahme neuer globaler Rivalitäten.
Die These des US-Superimperialismus wird von kritischen
WissenschafterInnen wie Leo Panitch vertreten. Für ihn sind die
Staaten, insbesondere der amerikanische Staat, Urheber der
Globalisierung und nicht deren Opfer. Nach 1945 hat sich eine
historisch neuartige Konstellation ergeben. Die USA konnten die anderen
kapitalistischen Mächte in ein funktionsfähiges Netzwerk integrieren.
Es ist zur „Verknüpfung“ des amerikanischen Staates mit den
Exekutivapparaten Europas und Japans sowie mit deren Zentralbanken
gekommen. Vertiefte wirtschaftliche Verflechtungen innerhalb der
Triade, die internationalen politischen Institutionen, die die USA um
sich herum schufen, vervollkommnet durch die Sicherheitsstrukturen der
NATO, führten so zu einer „Veränderung des Wesens des kapitalistischen
Zentrums“ im Sinne einer Abnahme inner-imperialistischer Konflikte.14
Spannungen und Bündnisse nationaler herrschender Klassen können heute
nicht mehr in rein „nationalen“ Begriffen verstanden werden. Unter
Bezugnahme auf den Marxisten Nicos Poulantzas wird von „inneren“
Bourgeoisien in Europa gesprochen, die im Gegensatz zur alten
„nationalen“ Machtelite gegenüber den USA ihre Unabhängigkeit verloren
haben. Die EU passt in den Rahmen der amerikanisch geführten
Globalisierung, wiewohl es weiterhin zu Meinungsverschiedenheiten
kommen kann. Die Krise der 1970er Jahre und die darauf folgende
Stagnation konnte der amerikanische Staat relativ erfolgreich
überwinden, obwohl dieser Prozess die wirtschaftliche Konkurrenz
zwischen regionalen Wirtschaftsblöcken forcierte. Der amerikanische
Staat sorgt weiterhin als „prototypischer Globalstaat“ für eine globale
Regulation. Andere potentielle Konkurrenten sind noch lange nicht dazu
in der Lage, das amerikanische Imperium herauszufordern.
Panitch kann für sich reklamieren, den fortwährenden Einfluss
einzelstaatlicher Instanzen belegt zu haben. Auch der Akzent auf die
Notwendigkeit der Historisierung imperialistischer Kräfteverhältnisse
ist ein Fortschritt. Leider führt eine Fixierung auf die Politik
Washingtons dazu, das Durchsetzungsvermögen der amerikanischen
Weltordnungspolitik zu überschätzen, weshalb auch die hieraus
abgeleiteten theoretischen Verallgemeinerungen fragwürdig erscheinen.
Die Annahme, der zufolge die Übermacht der amerikanischen Unternehmen
nach dem Zweiten Weltkrieg die europäischen Kapitalien „zersetzt“ und
das Ende „kohärenter Bourgeoisien“ eingeleitet habe, erscheint
vorschnell. Sie unterschätzt die relative Unabhängigkeit der
europäischen (und anderer) Machteliten genauso wie mögliche Quellen der
Entstehung von zwischenstaatlichen Rivalitäten, auch wenn diese andere
Formen als vor 1945 annehmen.
Kapitalismus und Geopolitik
Die Ereignisse der letzten Jahre scheinen denjenigen Autor-Innen
Recht zu geben, die von einer fortwährenden Relevanz
zwischenstaatlicher Konflikte ausgehen. Sie verstehen unter
kapitalistischer Geopolitik den Versuch der Kontrolle von und die
Einflussnahme in Räumen auch und gerade, wenn keine direkte
territoriale Kontrolle über diese vorliegt. Einige AutorInnen (u.a.
David Harvey, Alex Callinicos oder Joachim Hirsch) versuchen im Rahmen
einer Kapitalismusanalyse und der Annahme der relativen Autonomie
geopolitischer Konkurrenzlogik imperialismustheoretische Konzepte
weiterzuentwickeln.15
Einem instrumentellen Staatsverständnis wird dadurch entgegenzutreten
versucht, indem zwischen ökonomischen und geopolitischen Machtlogiken
unterschieden wird. Sie möchten die Analyse von Staatenkonkurrenz in
einem weltwirtschaftlichen Zusammenhang ermöglichen, ohne dass erstere
auf letzteren reduziert wird. Der amerikanische Imperialismus steht
demzufolge in einem umkämpften Verhältnis zu anderen Imperialismen.
Um an diese Thesen anknüpfen zu können, muss mit einer Analyse des
Kapitalismus in räumlicher wie auch in zeitlicher Hinsicht begonnen
werden.16
Das globale System der „verallgemeinerten Warenproduktion“ ist
grundlegend dadurch gekennzeichnet, dass es den sozialen Akteuren
äußerliche Handlungszwänge aufherrscht. Der Kapitalismus ist zwar ein
von Menschen geschaffenes System, es produziert jedoch Verhältnisse,
die sich gegenüber dem bewussten Handeln und Wollen der Subjekte
verselbständigen – und die, über Kontinente und Kulturen hinweg, sowohl
Wahrnehmungen als auch Handlungen der Akteure prägen.
Verschiedene Merkmale des Kapitalismus – genau genommen der „vielen“
Kapitalismen – tendieren in einer historischen Perspektive betrachtet,
d.h. auch unter Berücksichtigung erheblicher Modifikationen im Aufbau
verschiedener Spielarten des Kapitalismus seit Ende des 19.
Jahrhunderts, dazu, geopolitische Konflikte und internationale
Abhängigkeiten zu befördern:
1. Geopolitik steht in einem Zusammenhang mit den Klassenverhältnissen
moderner Gesellschaften. Interne gesellschaftliche Konflikte und
Legitimationsdefizite werden häufig von Machteliten dadurch zu lösen
versucht, dass ein externes, feindliches „Anderes“ konstruiert wird.
Ein innenpolitischer Konsens soll über eine Abgrenzung nach „außen“
hergestellt werden. Die jeweilige nationale Außenpolitik lässt sich
daher nicht ohne eine Analyse der nationalen Gesellschaften und der
Phänomene moderner „Massenpolitik“ verstehen (z.B. gesellschaftliche
Kräfteverhältnisse, nationalistische Bewegungen, Auseinandersetzungen
im herrschenden Machtblock). Hieraus ergibt sich wiederum eine
Unterscheidung zwischen vielfältigen Varianten des kapitalistischen Imperialismus.
2. Die Konflikthaftigkeit kapitalistischer Gesellschaften erschöpft
sich nicht in den „vertikalen“ Klassenauseinandersetzungen. Diese
werden von einer anderen Konfliktachse überlagert, den „horizontalen“
Konkurrenzverhältnissen zwischen den Unternehmen. Die systematische
Notwendigkeit zur Akkumulation des Kapitals setzt sich vermittelt durch
die Konkurrenz durch. Diese wirkt als sozialer Sanktions¬mechanismus,
der jedem Einzelkapital den Zwang zur Akkumulation bei Strafe der
Existenzgefährdung unterwirft. Wettbewerbsverhältnisse zwischen
Unternehmen generieren eine permanente Unsicherheit und
Krisenhaftigkeit. Kapitalistische Märkte existieren daher immer in
einer anarchischen, dezentralen Weise. Die maß- und endlose
Kapitalakkumulation sowie der Sanktionsmechanismus der Konkurrenz
verweisen auf die Grenzen der Steuerung des Systems, auch und gerade
auf internationaler Ebene.
3. In welcher Weise ist die ökonomische Konkurrenz und Krisenhaftigkeit
mit der Politik von Staaten verbunden? Das Kapital drückt schließlich
in erster Linie ein soziales Verhältnis aus, dessen „Motor“ nicht das
„nationale Interesse“, sondern das „Eigeninteresse“ an einer möglichst
hohen Profitrate ist. Zur Beantwortung dieser Frage müssen die Ursachen
für die Existenz vieler konkurrierender kapitalistischer Einzelstaaten
bzw. gegenwärtig auch makro-regionaler Zusammenschlüsse beachtet
werden. Erst einmal gilt es dabei festzuhalten, dass ohne eine
„besonderte“, d.h. relativ autonome politische Instanz, die das
Gewaltmonopol innehat, eine gelingende Kapitalakkumulation nicht
vorstellbar ist. Der Staat schafft eine Reihe von sozialen, rechtlichen
und infrastrukturellen Integrations- und Anpassungsleistungen, die die
Aufrechterhaltung kapitalistischer Vergesellschaftung zu garantieren
versuchen.
Dass der „Bedarf“ des Kapitals nach einem Staat nicht in einem
Weltstaat mündet, sondern im Kapitalismus grundsätzlich viele Staaten
koexistieren, hat wenigstens zwei zentrale Ursachen: Erstens macht
die Notwendigkeit der Schaffung klassenübergreifender Koalitionen
(gegenwärtig zwecks Sicherung des „Standortes“) zur Herstellung
innergesellschaftlicher Stabilität die Integrationsleistungen der
Einzelstaaten erforderlich. Am ehesten sind hierzu staatliche
Machtapparate in der Lage. Ohne die Existenz vieler Einzelstaaten wären
grundlegende Mechanismen der Ausbalancierung von Konflikten sowohl
innerhalb als auch zwischen den Klassen nicht mehr gewährleistet. Diese
Form der Abgrenzung der einzelnen Staaten untereinander setzt andere
Staaten gewissermaßen voraus: Ein „Anderer“ kann nur konstruiert
werden, wenn es diesen Anderen auch wirklich gibt. Wie
Nationalismusforscher argumentieren, gilt die nationale Form als „der
am universellsten legitimierte Wert im politischen Leben unserer Zeit“.17
Zweitens führt die kombiniert-ungleiche, krisenhafte
wirtschaftliche Entwicklung nicht zu einer Homogenisierung auf
Weltebene. Die Welt ist kein einheitlich-glatter, sondern ein gekerbter
Raum. Es haben sich fest verankerte wirtschaftliche Zentren gebildet,
die in einem engen Wechselverhältnis zu den auf dem jeweiligen
Territorium herrschenden Staatsapparaten stehen. Harvey spricht von
relativ immobilen „raum-zeitlichen Fixierungen“ des Kapitals,
insbesondere des Produktivkapitals, die hohe Anforderungen an
staatliche Regulierungsapparate stellen. Um eine gewisse
Berechenbarkeit und Sicherheit zu gewährleisten, müssen wirtschaftliche
Ver¬flechtungsräume ein Maß an Kohärenz garantieren, die von
politischen Hilfestellungen abhängt. Komplexe Produktionsstrukturen
erfordern eine administrativ-ordnungssetzende Infrastruktur (wie
Rechtswesen, Verwaltung, Lizenzierungsverfahren), eine wirtschaftliche
Infrastruktur (etwa bei der Regelsetzung für ökonomische Transaktionen)
sowie weitere Regulierungen (beispielsweise im Arbeitsrecht). Ferner
verlangt die Kapitalintensivierung der Produktionsprozesse eine gewisse
Risikoübernahme durch den Staat mittels Subventionen,
Direktbeteili¬gungen etc. Zugleich waren und sind die Staaten
angehalten, für ein Mindestmaß an ausgebildeten Arbeitskräften und
deren soziale Sicherheit zu sorgen. Die Globalisierung bringt also eine
Gegentendenz hervor: Die globale Akkumulation ist im Zuge permanenter
Ortswechsel und der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten gebunden
an eine auch politisch produzierte „geographische“ Infrastruktur.18
4. Doch nicht nur die Unternehmen sind abhängig von den jeweiligen
staatlichen Instanzen, umgekehrt hängt die Existenz des Staates von den
erfolgreichen Aktivitäten der Wirtschaft ab. Sie befinden sich in einer
strukturellen Abhängigkeit gegenüber einer gelingenden Akkumulation
innerhalb ihres Territoriums,
die sich etwa in einem Interesse am Erhalt der Besteuerungsgrundlagen
ausdrückt. Der moderne, kapitalistische Staat ist immer auch
„Steuerstaat“: Um handlungsfähig zu bleiben, müssen die politischen
Eliten der Tatsache Rechnung tragen, dass ihre Einkünfte und damit die
Mittel, staatliche Politik zu gestalten, letztlich von einer
einigermaßen reibungslosen Kapitalakkumulation abhängen. Auch wenn
Firmen mehr und mehr „global“ denken und agieren (und sich teilweise
auf die infrastrukturellen Voraussetzungen mehrerer Staaten
gleichzeitig beziehen), werden die Staaten künftig von international
wettbewerbsfähigen „nationalen“ bzw. „einheimischen“ Unternehmen
ausgehen müssen und ein Interesse an dauerhaften Beziehungen zu ihnen
haben.
Parallel hierzu bildet der kapitalistische Einzelstaat in einer nicht
unmittelbar ökonomisch ableitbaren, sondern auch auf seine
Selbsterhaltung bezogenen Weise grundlegende Interessen an der
Attraktivität der von ihm gesicherten und angebotenen Standortvorteile
aus.
5. Auf dieser Basis lässt sich ein weiteres Merkmal des Kapitalismus
benennen, das internationale Konflikte befördert: die Geld- und
Währungsverhältnisse. Geld ist immer bezogen auf konkrete
einzelstaatliche (im Falle des Euro, supranationale) Währungsräume.
Die Geldpolitik grenzt mit dem Gültigkeitsbereich einer Währung etwa
Binnen- und Außenwirtschaft gegeneinander ab. Geld ist somit immer ein
politisch reguliertes Medium, was insbesondere für die Ausgabe des
Geldes zutrifft. In den Geldverhältnissen kommt ähnlich wie in anderen
Strukturmerkmalen des Kapitalismus die konstitutive Präsenz des
Politischen zum Ausdruck. Mangels eines Weltstaates gibt es kein
internationales Geld – eine Grundlage für die Währungskonkurrenz.
Ökonomische und geopolitische Konkurrenz
Aus den vielgestaltigen Artikulationen von Kooperations- und
Konkurrenzverhältnissen zwischen staatlichen Machtstrategien in einer
instabilen Weltwirtschaft geht kein glatter, sondern ein durch viele
Akteure konflikthaft strukturierter internationaler Raum hervor. Als
ein anarchisches, quer zu anderen sozialräumlichen Dimensionen
verlaufendes Geflecht befördert der Raum des Inter- und Transnationalen
nicht intendierte bzw. nicht antizipierte Formen des gewaltförmigen
Handelns.
Auf Weltebene können zwei grundlegende, relativ unabhängig voneinander
existierende und nicht aufeinander zu reduzierende, jedoch sich
zeitweise verschränkende Muster der Konkurrenz beobachtet werden: die
sozio-ökonomische sowie die geopolitische Konkurrenz zwischen
Einzelkapitalien bzw. Einzelstaaten.
Kapitalbewegungen und kapitalistische Einzelstaaten orientieren sich an verschiedenartigen Kriterien der Reproduktion
und bilden daher untereinander ein Spannungsverhältnis aus, das
regelmäßig divergierende Handlungsstrategien zur Folge hat, so dass
ökonomische Interessen sich nicht unvermittelt in Staatshandeln
niederschlagen müssen. Der Einzelkapitalist operiert „im
Raum-Zeit-Kontinuum, während der Politiker innerhalb der Grenzen seines
Hoheitsgebiets operiert und, zumin¬dest in Demokratien, in einer vom
Wahlzyklus diktierten Zeitlich¬keit. Andererseits kommen und gehen
kapitalistische Firmen, sie ver¬schieben ihren Standort, fusionieren
oder schließen, wohingegen Staa¬ten langlebige Einheiten sind, nicht
abwandern können und, außer unter außergewöhnlichen Umständen
geographischer Eroberung, auf Territorien mit festen Grenzen beschränkt
sind“.19
Das wesentliche ökonomische Kriterium der Reproduktion besteht in der
Behauptung der relativen Kapitalstärke (und damit der Profitabilität);
sollten Einzelkapitalien dieses Ziel verfehlen, drohen der Bankrott
oder die Übernahme. Das wesentliche Kriterium der geopolitischen
Reproduktion zielt dagegen darauf, die Herrschaft gegenüber der
jeweiligen Bevölkerung und gegenüber anderen Staaten sowie „äußeren“
sozialen Kräften zu behaupten.20
Die wechselseitige strukturelle Abhängigkeit beider Akteursebenen führt
aber immer wieder auch zu kongruenten Handlungsstrategien, die sich
unter anderem in der geopolitischen Hilfestellung bei der globalen
Restrukturierung der Kapitalverwertung (in der Produktions-,
Zirkulations- und Konsumtionssphäre) und dem Versuch des Managements
der internationalen öffentlichen Sphären ausdrücken. Solche Dienste
lassen sich zugleich nicht hinreichend aus einzelnen Profitinteressen
erklären, sondern müssen immer auch die Interessen einzelstaatlicher
Instanzen in Betracht ziehen, die damit etwa auf die Aufrechterhaltung
bzw. Erweiterung ihrer Souveränität und damit ihrer Machtbasis zielen.
Wenn die Akkumulationsprozesse die Grenzen eines Gebietes
überschreiten, ist die Frage, wie sich dies auf die Handlungen des
ursprünglichen Standortes (des Staates) auswirkt. Ist es für den Staat
absehbar, dass dieser Prozess der Kapitalakkumulation seine Macht
potentiell unterminieren könnte, ringt er mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit darum, Investitionsströme mit viel „Mühe und
Besonnenheit“ zu seinem eigenen Vorteil zu lenken: „Und was den
externen Bereich angeht, wird er typischerweise große Aufmerksamkeit
auf die Asymmetrien legen, die immer aus dem Handel zwischen Räumen
entstehen, und versuchen, die Trümpfe der monopolistischen Kontrolle so
stark zu machen, wie er kann. Er wird sich, kurz gesagt, notwendig am
geopolitischen Kampf beteiligen und wo er kann auf imperialistische
Praktiken zurückgreifen“.21 Die gewöhnlichen Formen der Konkurrenz würden sich in letzterem Fall in einen Konflikt
steigern. Letztere sind vielgestaltig und liegen in der Regel unterhalb
der Schwelle der offenen Gewaltanwendung bzw. dem zwischenstaatlichen
Krieg.
Die jeweilige Struktur der internationalen Konkurrenzverhältnisse
variiert. Die gegenwärtige Weltordnung unterscheidet sich erheblich von
früheren Weltordnungsphasen. Das Verhältnis zwischen Kooperation und
Konflikt im Kontext des amerikanischen Hegemonismus erscheint
gegenwärtig, etwas vereinfacht ausgedrückt, wie folgt: In relativer
Übereinstimmung wird auf den internationalen Wirtschafts- und
Politikgipfeln versucht, die „Agenda“ zu setzen und marktliberale
Handlungs- und Deutungsmuster zu festigen. Doch bereits bei den
Sondierungsgesprächen über Fragen der Wirtschafts-, Sicherheits- und
Energiepolitik können mitunter erhebliche Meinungsverschiedenheiten
auftreten, die dann in den internationalen Organisationen wie der UN,
der NATO oder der WTO möglicherweise bis zur Handlungsunfähigkeit
führen. Die Machteliten sind sich mehr oder wenig einig darin, die
Herstellung von weltweiter Ordnung und einer gelingenden
Kapitalakkumulation (auch mittels Gewalt) gegenüber den Bevölkerungen
herzustellen, streiten aber untereinander um die Rangordnung in der Herstellung dieser Ordnung.22
Insofern steht die heutige Forschung vor der Herausforderung, die
Bedingungskonstellationen potentieller ökonomischer und geopolitischer
Konflikte zwischen den entwickelten Industriegesellschaften vor dem
Hintergrund der nur relativen Zusammenfassung derselben unter
amerikanischer Vorherrschaft zu untersuchen. Auch wenn verschiedene
kapitalistische Staaten ein im Kern ähnliches marktliberales „policy
regime“ durchsetzen, bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass unter
ihnen keine ernsthaften Interessengegensätze bestehen oder entstehen
können. Die „Triadezentren“ bleiben in eine „ständige
Auseinandersetzung um die Kontrolle von Märkten, Investitionsgebieten
und Rohstoffquellen verwickelt. Interventionskriege wie auf dem Balkan,
in Afghanistan oder im Irak liegen einerseits im Interesse der
kapitalistischen Metropolen an der Erhaltung der von ihnen bestimmten
ökonomischen, militärischen und politischen Weltordnung. Zugleich sind
sie auch ein Mittel der Auseinandersetzung zwischen ihnen um
Rohstoffvorkommen, Marktzugänge und Investitionsgebiete“.23
Unter der Regierung Bush ist diese Dynamik besonders deutlich geworden.
Auf der obersten Führungsebene der amerikanischen Politik hatte bereits
in den 1990ern eine ideologische Verschiebung stattgefunden. In den
letzten Jahren der Clinton-Regierung sowie in der nachfolgenden,
„neokonservativen“ Bush-Administration wurde wieder verstärkt nach
Maßgabe geopolitischer Strategien agiert, denen zufolge die geo-ökonomische Vorherrschaft eine geopolitische (Macht-)Grundlage zur Voraussetzung hat.24
Hoffnung Obama?
Insgesamt lassen diese Sachverhalte die Hoffnungen auf einen
grundsätzlichen Wandel der Außenpolitik innerhalb
global-kapitalistischer Sozialbeziehungen schwinden. Gegenwärtig steht
Barack Obama weltweit für die Hoffnung auf eine friedlichere
Außenpolitik. Doch auch er würde im Rahmen eines Weltsystems regieren
müssen, das von erheblichen Verwerfungen, zwischenstaatlichen
Konflikten und Gewalt zusehends dominiert ist. Obama steht (bislang)
für eine Außenpolitik, die mehr als sein Vorgänger Bush auf die
„multilaterale“ Absprache mit den „Bündnispartnern“ setzt. Daher wird
etwa die NATO in den nächsten Jahren womöglich eine wichtigere Rolle im
globalen Spiel um Macht und Einfluss erhalten. In einem Aufsatz für die
renommierte Zeitschrift Foreign Affairs informiert er
darüber, dass seine außenpolitischen Zielsetzungen lediglich taktische
Änderungen darstellen. „Ich werde nicht zögern, Gewalt einzusetzen,
wenn notwendig auch unilateral, um das amerikanische Volk oder unsere
grundlegenden Interessen zu schützen … Wir müssen auch erwägen,
militärische Macht unter Umständen einzusetzen, die über die
Selbstverteidigung hinausgehen, um für die gemeinsame Sicherheit zu
sorgen, die die globale Stabilität untermauert.“25In
einer Stellungnahme während des Kaukasus-Kriegs im August 2008 sprach
sich Obama für eine beschleunigte Aufnahme Georgiens in die NATO aus –
und goss damit Öl ins Feuer. Zwar votiert er für einen allmählichen
Truppenabzug aus dem Irak (stellt dies allerdings unter den Vorbehalt
der Expertise seiner Militärs), fordert aber im nächsten Satz eine
Verstärkung der Truppenpräsenz in Afghanistan.
Obamas stärker bündnisorientierte Vorstellungen haben Tradition. Durch
die beiden großen Parteien des politischen Systems der USA hindurch
wurde das gesamte 20. Jahrhundert über die richtige außenpolitische
Taktik gestritten. Auch unter den Liberalen Wilson, Roosevelt oder
Clinton wurden imperiale Ziele angestrebt. Der immer wieder auf den
„Multilateralismus“ Bezug nehmende amerikanische Liberalismus agierte
immer als national orientierter „Internationalismus“, der nie, wie
konservative Kräfte kritisieren, einfach nur einem idealistischen
Politikansatz Rechnung trug, sondern immer auch geopolitische
Ambitionen durchzusetzen suchte.26
Das Desaster im Irak und die aufgebrachte Öffentlichkeit drängen
derzeit dazu, das Ruder wieder in eine stärker multilaterale Richtung
zu reißen. Bereits Bush hat in seiner zweiten Amtsperiode auf diesen
Druck reagieren müssen.27
Die Vereinigten Staaten sind der einzige Staat, der in der Lage ist,
ein weltweites hegemoniales Projekt zu verfechten. Doch dieser Versuch
stößt auf Widerstände. Der Wunsch nach einem „US-Imperium“ wird von der
Realität der geopolitischen Machtrivalitäten im internationalen
Staatensystem, der Instabilität der Weltwirtschaft und den Konkurrenzen
im Bereich der Währungsverhältnisse untergraben. Ob dies durch eine
veränderte Taktik rückgängig gemacht werden kann, erscheint fraglich.
Ebenso die vage Hoffnung, der Multilateralismus könne wenigstens das
Ausmaß der Gewalt reduzieren.
Anmerkungen
Tobias ten Brink ist Politikwissenschafter und arbeitet am Frankfurter Institut für Sozialforschung.
Zuletzt sind von ihm erschienen:
Staatenkonflikte. Stuttgart: Lucius & Lucius 2008
und
Geopolitik. Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz. Münster: Westfälisches Dampfboot 2008.
1
Vgl. Bacevich, Andrew J.: American Empire. The Realities and
Consequences of U.S. Diplomacy, Cambridge/London 2002, 3, 79-116, 215
ff.
2
Duménil, Gérard/ Lévy, Dominique: The economics of US imperialism at
the turn of the 21st century, in: Review of International Political
Economy, Vol. 11, 4/2004, 662
3
„Hegemonialrenten” sind Gewinne, die die US-amerikanische Wirtschaft
aufgrund der politischen und militärischen Vormachtstellung der USA im
Weltsystem abschöpfen kann. Vgl. Massarat, Mohsen: Amerikas
Hegemonialsystem und seine Grenzen. Europas Beitrag für eine
multilaterale Weltordnung, in: Sozialismus Supplement 3/2004, 1-33,
online unter http://www.home.uni-osnabrueck.de/mohmass/USAHEM.pdf (Anm. d. Red.).
4
Als „Washington Consensus” wird die neoliberale wirtschaftspolitische
Doktrin bezeichnet, die insbesondere von den in Washington ansässigen
Institutionen IWF (Internationaler Währungsfonds) und Weltbank in aller
Welt durchgesetzt wird (Anm. d. Red.)
5 Bromley, Simon: The United States and the Control of World Oil, in: Government and Opposition, Vol. 40, 2/2005, 254
6 Vgl. Altvater, Elmar: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik, Münster 2005, 163 ff.
7
Dies hängt nicht zuletzt mit den innergesellschaftlichen Verhältnissen
der Staaten der Region zusammen, weshalb beispielsweise auch
freundschaftliche Beziehungen zu den Machteliten Saudi-Arabiens keine
Garantie dafür darstellen, dass sich interne politische
Machtverhältnisse nicht zu Ungunsten Washingtons verändern können.
Zusätzlich spielte in den letzten Jahren die Wahrnehmung veränderter
inter-gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse eine Rolle in der
Geopolitik der Vereinigten Staaten: „Der Krieg ab 2003 ging um mehr als
um Öl, so sehr Öl auch ein zentraler Punkt der Berechnungen war. Ebenso
bedrohte eine Interessenkoalition im Mittleren Osten aus Irak,
Saudi-Arabien und islamistischen Bewegungen die Hoffnung auf die Vision
der US-zentrierten Globalisierung erheblich.“ Vgl. Smith, Neil: The
Endgame of Globalization, London/New York 2005, 190
8
Donnelly, Jack: Sovereign Inequalities and Hierarchy in Anarchy:
American Power and International Society, in: European Journal of
International Relations, Vol. 12, 2/2006, 160
9
Der 1972 zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossene ABM-Vertrag
begrenzt den Einsatz von Raketenabwehrsystemen („Anti-Ballistic
Missiles“) (Anm. d. Red.).
10 Fukuyama, Francis: Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg, Berlin 2006, 192
11
Vgl. Layne, Christopher: The Peace of Illusions: American Grand
Strategy from 1940 to the Present, Ithaka/London 2006; Mearsheimer,
John J.: The Tragedy of Great Power Politics, New York 2003; für eine
Diskussion aus der Perspektive der Partei der Demokraten: Brzezinski,
Zbigniew: Second Chance: Three Presidents and the Crisis of American
Superpower, New York 2007
12
In der Disziplin der Internationalen Beziehungen firmiert dieser Ansatz
unter dem Namen Realismus bzw. Neo-Realismus. Einer der bekanntesten
Realisten, John J. Mearsheimer (2003), erwartet erhebliche Konflikte
zwischen den Großmächten und hält sogar Kriege zwischen ihnen für
möglich. Er sieht die ständige Suche nach Überlegenheit als einzige
Garantie des Überlebens von Staaten an. Ihre „Sicherheit“ werden
Staaten nur erreichen, wenn sie verstehen, dass sie am ehesten dann
überleben, wenn sie der mächtigste Staat sind. Eine zentrale
Konfliktlinie bis hin zum Krieg sieht Mearsheimer im Verhältnis
zwischen den USA und China. Eine Konfrontation wird unvermeidlich
werden, wenn das chinesische Wirtschaftswachstum anhält und China eine
schlagkräftige Streitkraft aufbaut. Um dies abzuwenden, ist eine
notfalls auch aggressive Eindämmung nötig. Auch in Europa erwartet er
eine Rückkehr zur alten Großmächterivalität. Noch ist Deutschland
abhängig von den USA. Dies kann sich ändern – wenn die BRD
beispielsweise ein eigenes Nukleararsenal errichtet und auf diese Weise
noch mehr Kontrolle über Mittel- und Osteuropa ausübt (was wiederum
Russland auf den Plan rufen wird). Militärische Konflikte sind dann
nicht mehr auszuschließen. Zur Begründung seiner Vorstellungen nimmt
dieser Ansatz jedoch eine Vereinfachung der Wirklichkeit vor, weshalb
er an dieser Stelle nicht weiter behandelt wird. Es wird i.d.R. mit nur
einer Variablen, der Machtverteilung im internationalen Staatensystem,
das Verhalten von Staaten bzw. Hegemonen erklärt. Die Perspektive
tendiert dazu, sozio-ökonomische Prozesse genauso wie die Rolle von
sozialen Akteuren außerhalb des Staatsapparats zu vernachlässigen. Der
Blick wird lediglich auf die Staaten gerichtet, aber nicht in sie
hinein. Vgl. für den deutschen bzw. europäischen Kontext: Münkler,
Herfried: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu
den Vereinigten Staaten, Berlin 2005
13
Hardt, Michael/ Negri, Antonio: Empire. Die neue Weltordnung,
Frankfurt/M. 2003. In einem neuen Buch relativieren Hardt/Negri ihre
Annahmen. Nachdem in Empire „Big Government is over“ erklärt wurde,
rekurrieren sie nun wieder mehr auf den starken Staat – „Big Government
is back“. Die Krise nach dem 11.9.2001 verdeutlicht, wie sehr
„Nationalstaaten für die Weltordnung und die Sicherheit absolut
unerlässlich“ sind. Das „Empire“ sei durch scharfe Widersprüche
gekennzeichnet. Negri, Antonio / Hardt, Michael: Multitude – Krieg und
Demokratie im Empire, Frankfurt/New York 2004, 39, 200
14 Panitch, Leo / Gindin, Sam: Globaler Kapitalismus und amerikanisches Imperium, Hamburg 2004
15
Harvey, David: Der neue Imperialismus, Hamburg 2005; Callinicos, Alex:
Benötigt der Kapitalismus das Staatensystem?, in: Arrighi, Giovanni
u.a.: Kapitalismus Reloaded. Kontroversen zu Imperialismus, Empire und
Hegemonie, Hamburg 2007; Hirsch, Joachim: Materialistische
Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen
Staatensystems, Hamburg 2005
16
Folgende Ausführungen bleiben aufgrund des Platzmangels fragmentarisch.
Vgl. für eine ausführliche Darstellung: ten Brink, Tobias: Geopolitik.
Geschichte und Gegenwart kapitalistischer Staatenkonkurrenz, Münster
2008
17 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/New York 1996, 12 f.
18
Neuere Tendenzen der Transnationalisierung ökonomischer Prozesse haben
die Entstehung makro-regionaler Wirtschaftseinheiten mit partieller
politischer Integration (EU) befördert.
19 Harvey, Der neue Imperialismus, a.a.O, 34
20
Bestimmte weltweit ausgerichtete Unternehmensgruppen sind aus diesem
Grund von den weniger mobilen politischen Eliten zu unterscheiden. Im
Raum der EU sowie im transatlantischen Raum hat dies zu einem höheren
Grad der Homogenisierung der Interessenlagen geführt als dies außerhalb
dieser Räume der Fall ist.
21
Harvey, Der neue Imperialismus, a.a.O., 108. Gegenwärtig agiert die
Mehrheit der Unternehmen immer noch vorwiegend in nationalen und/oder
makro-regionalen Räumen. Es ist voreilig, von den hohen
Transnationalisierungsgraden der größten Konzerne auf die gesamte
Struktur der Weltwirtschaft zu schließen. Auf der einzelstaatlichen
Ebene kann dies zur Entstehung nationaler ökonomischer Interessen
führen (und im makro-regionalen Raum dementsprechend zu „europäischen“
Interessen), wie an den nationalen Leistungsbilanzen und dem Interesse
an einer Währungssouveränität abzulesen ist. In dieser Weise werden
„nationale Volkswirtschaften“ immer wieder rekonstruiert und
reproduziert, was zugleich der Überlagerung der inneren Sozialkonflikte
dient (vgl. ten Brink, Geopolitik, a.a.O., S. 147-180).
22
Dabei gilt es zwischen der Stärke der Einzelstaaten zu differenzieren.
Innerhalb der Gruppe der starken Staaten lassen sich vier Typen
unterscheiden: erstens der global vorherrschende amerikanische Staat;
zweitens makro-regional führende Staaten mit globalem Wirkungsradius
wie Deutschland und Frankreich (zunehmend im Rahmen der EU), Japan,
mehr und mehr auch China; drittens weitere makro-regionale Mächte mit
weniger großer Wirkungsmacht wie Russland, Brasilien oder Indien;
viertens starke Staaten mit geringerem Aktionsradius wie Südkorea,
Türkei, Israel, Ägypten oder Südafrika. Letztere Staaten können, sofern
sie sich imperialistischer Praktiken bedienen, als subimperialistische
Mächte bezeichnet werden.
23 Hirsch, Materialistische Staatstheorie, a.a.O., 165
24
Im Aufstieg des Neokonservativismus bündelte sich schließlich eine
Kritik der liberalen Lesart der Moderne mit dem Versuch der
Re-Moralisierung der Politik.
25 Obama, Barack: Renewing American Leadership, in: Foreign Affairs, 7/8-2007, hier: http://www.foreignaffairs.org/20070701faessay86401/barack-obama/renewing-american-leadership.html
26 Smith, The Endgame of Globalization, a.a.O., 44-52
27
De facto basieren die Außenbeziehungen zwischen den stärksten Staaten
jenseits der politisch-diplomatischen Konfrontation „Multilateralismus“
versus „Unilateralismus“ auf einem komplexen Ineinandergreifen uni- und
multilateraler Politikformen. Auch die Clinton-Regierung überging die
UNO und ergriff einseitig Maßnahmen, wenn sie es für notwendig hielt.
Ihre Betonung multilateraler Weltpolitik war in Wirklichkeit ein
instrumenteller Multilateralismus, der nach der Maßgabe erfolgte, mit
der Zustimmung und Unterstützung anderer Länder zu handeln, wenn es als
sinnvoll erachtet wurde – zugleich sich aber die Möglichkeit
vorzubehalten, alleine zu handeln, wenn dies als zweckmäßig angesehen
wurde. Uni- und Multilateralismus schließen einander nicht aus.