Das Verfahren gegen 17N

Politische Strafjustiz in Griechenland

Auch Griechenland folgt dem europäischen Trend, die prozessualen Rechte von „Terror“-Verdächtigen zu beschränken, insbesondere bei den Verhörmethoden. So zogen es die Gerichte vor, schwere Foltervorwürfe im 17-N-Verfahren nicht zu untersuchen. Das Folterverbot muss jedoch absolut gelten, unabhängig vom Tatvorwurf.

Als am 29. Juni 2002 im Hafen von Piräus eine Bombe vorzeitig in den Händen des Stadtguerilleros Savvas Xiros explodierte, war das Ende der „Revolutionären Organisation 17. November“ (17N) eingeleitet: Zum ersten Mal seit Gründung der Gruppe 1975 fiel ein Mitglied in die Hände der griechischen Polizei. 17N sieht sich in der Tradition des Aufstands gegen die Militärdiktatur, der am 17. November 1973 mit der Erstürmung des von oppositionellen Studierenden besetzten Polytechnikums blutig zerschlagen wurde. Diese Auflehnung leitete das Ende der Militärdiktatur ein. Der erste Anschlag der Gruppe galt dem US-amerikanischen Leiter des CIA in Athen, Richard Welch, um auf die Beteiligung der Regierung der USA am Militärputsch und dem Aufbau der Diktatur hinzuweisen. Seitdem hat sich 17N zu zahlreichen weiteren Anschlägen bekannt, z. B. gegen Folterer der Militärdiktatur, multinationale Konzerne, gegen US-, NATO- und EU-Einrichtungen sowie gegen diverse griechische Politiker und Persönlichkeiten.

Der Schwerverletzte Savvas Xiros wurde nach seinen Angaben auf der Intensivstation des Evangelismos-Krankenhauses an Händen und Füßen aufs Krankenbett gefesselt und zunächst vollständig von der Außenwelt isoliert. Ihm wurden Psychopharmaka eingeflößt und er wurde intensiv verhört. Der Kontakt zu einem/ einer Anwalt/ Anwältin oder seiner Familie wurde ihm versagt. Nach 33 Tagen wurde ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt, erst nach insgesamt 40 Tagen im Polizeigewahrsam wurde er formell verhaftet.

Folter als Verhörmethode

In seinem soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Buch[1] beschreibt Savvas Xiros die Ängste, Schmerzen und Wahnvorstellungen, denen er ausgeliefert war:

„Ich bin von der Idee durchdrungen, dass man mich verschwinden lassen will. Ich kämpfe weiterhin mit den Psychopharmaka, im Chaos versunken, von drohenden Schatten umgeben, unter Atemnot, […], den Stricken und diesem Pfeifen, der Musik, die mir das Hirn durchlöchern. Wenn eine Flasche zu Ende ist, gibt es eine kurze Pause, bis die nächste am Tropf aufgehängt wird. Dann weichen die Gase zurück, mildert sich die Atemnot und die Gedanken verzetteln sich nicht so sehr.“

Der Druck, den die Vernehmer auf ihn ausüben, gipfelt in Scheinhinrichtungen: „ Sie fahren mit der gleichen Besessenheit, den gleichen Fragen fort. Die Antworten gefallen ihnen nicht. Sie reagieren gereizt, fast hysterisch. … ’Was ist mit der Bombe los gewesen?’ ‚ Ich hab sie gedrückt und sie ist von allein explodiert.’ Ein Fingerschnippen von Kommissar Giannis und ich höre, wie der seine Waffe direkt an meinem Ohr durchlädt. … […]

Die Verhöre und die Nacht schreiten fort. Die gleichen Fragen, die gleichen Antworten, ein Fingerschnippen – das Zeichen – und wieder lädt Kommissar Giannis durch und mich überläuft es jedes Mal eiskalt, der Atem des Todes streift mich.“

Unter dem Druck seiner schweren Verletzungen, der drogenbedingten Wahnvorstellungen und der Suggestionen seiner Vernehmer machte Savvas Angaben, die zu weiteren Verhaftungen führten. Die neu Verhafteten wurden ebenfalls isoliert und zu Aussagen gepresst, die sie später im Prozess zurücknahmen und deren Verwertung sie vehement widersprachen.

Der Angeklagte Tzorzatos erklärte im Prozess, er sei bei der Antiterrorpolizei[2] nackt ausgezogen worden und mit Fäusten und Schlagstöcken geprügelt und auch getreten worden. Dabei habe man ihm die polizeilichen Berichte über die Taten der Organisation vorgelesen. Die Quälerei habe Stunden gedauert. Am Ende habe er ein von der Polizei vorbereitetes Papier unterschrieben.[3]

Savvas’ Brüder Christodoulos und Vasilis Xiros erklärten im Prozess, man habe ihnen mit Savvas’ Tod gedroht, sollten sie nicht kooperieren und die vorgefertigten Aussagen unterschreiben. Insbesondere sollten sie besser nicht auf Anwälte bestehen, wenn ihnen das Leben ihres Bruders lieb sei[4].

Sondergesetzgebung

Drei Monate vor Beginn des Prozesses trat das Gesetz 3090/2002 in Kraft und beschränkte die Rechte der Beschuldigten in „Terroristenprozessen“. In Griechenland sind Geschworenengerichte üblich, Artikel 97 der griechischen Verfassung sieht vor: „Verbrechen und politische Delikte werden von gemischten Schwurgerichten abgeurteilt, die sich aus Richtern und Geschworenen zusammensetzen“. Aus Sorge, mit Geschworenen keine Verurteilungen zu erreichen, legte das neue Gesetz das Verfahren in die Hände von BerufsrichterInnen. Die Verteidigung verlangte ein Geschworenengericht, denn die Taten waren politisch intendiert und wurden von der Gesellschaft auch so aufgefasst. Die Einsprüche wurden abgewiesen. Darüber hinaus wird durch das Gesetz 3090/2002 die Auswahl der RichterInnen weiter eingeschränkt. Wurde die Zusammensetzung des Gremiums bislang aus allen, zumeist über 100 RichterInnen des zuständigen Gerichts ausgelost, ordnet das neue Gesetz eine Vorauswahl durch die Richterkammer an.

Ein politischer Prozess

Am 3. März 2003 wurde im eigens dafür umgebauten Frauengefängnis in Koridallou, einem Stadtteil von Piräus, der Prozess gegen 19 Verdächtige eröffnet. In fast neun Monaten Gerichtsverhandlung wurde gegen die 19 Angeklagten vor allem wegen Mord, versuchtem Mord, Bombenanschlägen, Bankraub, bewaffnetem Raub, illegalem Waffenbesitz und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verhandelt.

Einige der Angeklagten versuchten, sich vornehmlich juristisch zu verteidigen, andere verfolgten eine politische Verteidigung, zum Missfallen des Gerichts. So erregt sich der Vorsitzende Richter Margaritis bei der Vernehmung der Zeugin Maria Georgianni, einer linken Journalistin: »Lassen wir die Ideologie und auch die Bomben beiseite. Das Volk will wissen, warum die Gruppe so viele Menschen umgebracht hat.« 25 waren es seit 1975. Die Antwort der Georgianni lautete: »Die griechische Gesellschaft will ebenfalls wissen, warum in Griechenland seit Ende der Militärjunta 1974 mehr als 3 500 ArbeiterInnen auf Baugerüsten und in Fabriken für den Gewinn ihrer Bosse sterben mussten.«[5] Es folgte Tumult im Gerichtssaal.

Da die Indizien in dem Verfahren knapp waren, stützte sich die Verurteilung in beiden Instanzen wesentlich auf die mit verbotenen Methoden erlangten Aussagen. Dies obwohl gem. Art. 211A griechStPO die belastende Aussage eines wegen der gleichen Tat Mitangeklagten allein nicht ausreicht für eine Verurteilung, sie muss von weiteren Beweisen gestützt sein. Insgesamt 44 Mal lebenslang wurden so verhängt.

Besonders umstritten war die Verwertbarkeit der vorprozessualen Aussagen von Savvas Xiros. Die Staatsanwaltschaft hatte sich die Protokolle seiner Aussagen, die er in den ersten 40 Tagen gemacht hatte, erst nach seiner formellen Verhaftung von ihm unterschreiben lassen. Er war zu dem Zeitpunkt weiterhin auf der Intensivstation, ohne anwaltlichen Beistand. Im Urteil erster Instanz wurde dies jedoch für ausreichend gehalten, um die Aussagen verwerten zu können. Das Gericht stellte sich auf den Standpunkt, der Einsatz von Psychopharmaka und die Verweigerung anwaltlichen Beistandes seien nicht erwiesen. Verwandte erklärten, bei Besuchen auf der Intensivstation seien mitgebrachte anwaltliche Vollmachtsvordrucke von der Polizei beschlagnahmt worden und Savvas hätte auf sie den Eindruck eines geistig behinderten Kindes gemacht. Sie wurden pauschal für unglaubwürdig erklärt. Ebenso wenig ging das Gericht den Vorwürfen der anderen Angeklagten nach, es lud beispielsweise die Polizeibeamten, die Tzorzatos nach dessen Angaben verprügelt hatten, nicht einmal als Zeugen, obwohl Tzorzatos’ Schwester als Zeugin bestätigte, die Prellungen und Blutergüsse gesehen zu haben. Im Berufungsverfahren gab es zusätzlich das Problem, dass Savvas Xiros selbst nicht als Zeuge aussagte. Er hatte die Berufung zu spät eingelegt, sein Urteil war bereits rechtskräftig, er war also auch nicht mehr als Angeklagter anwesend. Die Verteidiger erklärten, eine Verlesung seiner Aussagen sei rechtswidrig, da unvereinbar mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit des Verfahrens[6]. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Fall Haas v. Deutschland[7] entschieden, dass vorprozessuale Aussagen eines Angeklagten/ einer Angeklagten zu Lasten eines/ einer anderen Angeklagten nicht verwendet werden dürfen, wenn dem/ der Belasteten nicht Gelegenheit geboten wird, den/ die Belastende(n) vor Gericht zu befragen. Das Gericht hielt die Verlesung dennoch für statthaft. Die schriftliche Urteilsbegründung steht noch aus.

Wackelige Zeugen

Da viele Taten der 17 N lange zurück liegen, gab es naturgemäß kaum brauchbare Zeugen und Zeuginnen. Mehr als 10 Zeugen und Zeuginnen, die in der ersten Instanz noch Angeklagte identifiziert hatten, nahmen im Berufungsverfahren auch ihre Aussagen zurück und erklärten, sie könnten niemanden mehr identifizieren. Ihre Aussagen in der ersten Instanz seien im Klima der Terrorhysterie und auf Druck der Strafverfolgungsbehörden zustande gekommen[8]. Das hielt das Gericht jedoch nicht davon ab, Verurteilungen auch auf wackelige Zeugen und Zeuginnen zu stützen. So hatte zum Beispiel der Filialleiter eines angeblich von 17 N überfallenen Supermarktes bei seiner Vernehmung durch die Polizei unmittelbar nach dem Überfall keine Angaben über die Täter machen können, da es sehr dunkel gewesen sei und er seine Brille nicht getragen habe. 17 Jahre später, nach der Verhaftungswelle im Sommer 2002, will er die Brüder Xiros als Täter erkannt haben[9].

Besonders zweifelhaft erscheint auch die Verurteilung von Alexandros Giotopoulos. Er ist wegen „Anstiftung“ zu 17 Mal lebenslang verurteilt worden, ohne dass ihm die Teilnahme an auch nur einer einzigen Aktion der Organisation nachgewiesen werden konnte. Der Angeklagte war als Mitglied des „dreiköpfigen Führungsgremium der Organisation“ verurteilt worden. Er verließ das Berufungsverfahren bereits zu Beginn, um den Prozess und das seines Erachtens bereits feststehende Urteil nicht durch seine Anwesenheit zu legitimieren. Das Gericht setzte Zwangsverteidiger für ihn ein, um die Verhandlung fortsetzen zu können. Später wurde auch Christodoulos Xiros von Zwangsverteidigern vertreten, die ihn teilweise vor der Mandatsübernahme nicht einmal nach seiner Zustimmung fragten.

Sehr fragwürdig ging es auch im Fall des Angeklagten Kostaris zu: Von 22 ursprünglichen Anklagepunkten konnte er mit eigenen Beweisen 17 entkräften. Gestützt auf vorprozessuale Aussagen erhielt er dennoch lebenslänglich, für die Tötung von Pavlos Bakogiannis. Kostaris wurden der Kodename Haris und damit alle mit Haris in Verbindung gebrachten Anschläge angehängt. Der 17 Mal als Haris entlastete Kostaris soll also in den anderen 5 Fällen doch Haris gewesen sein.

Das Berufungsverfahren ging 2007 zu Ende. In einigen Fällen ist Revision eingelegt worden, andere Angeklagte kündigten an, Menschenrechtsbeschwerde vor dem EGMR einlegen zu wollen.

Irreparable Gesundheitsschäden

Zehn der Verurteilten sitzen heute noch in Haft in Korydallos. In dem zum Hochsicherheitstrakt umgebauten Gefängnis sitzen sie in Kleingruppenisolation. Der offensichtlich haftunfähige Savvas Xiros bleibt weiter im Gefängnis. Alle Anträge auf zeitweise Aussetzung seiner Strafe und Verlegung in ein Krankenhaus wurden bislang abgelehnt. Bei der Explosion hatte er drei Finger einer Hand verloren, beide Trommelfelle und einen großen Teil seines Augenlichtes.

Durch den Aufenthalt im unterirdischen Hochsicherheitstrakt hat sich sein Gesundheitszustand noch verschlechtert. Er hat bereits mehr als die Hälfte der einstmals verbliebenen Sehfähigkeit auf dem einen Auge verloren, während das andere vollständig erblindet ist. Er ist bereits zweimal wegen Netzhautablösung operiert worden. Es besteht jedoch die Gefahr, dass diese sich erneut löst, wenn er sich nicht einer umfassenden Therapie unterzieht.

Nach Art. 557 griechStPO ist ein Gefangener zu entlassen, wenn nur so irreparable Schäden für seine Gesundheit abgewendet werden können. Das Gericht bezweifelte jedoch, dass eine Erblindung drohe, und empfahl die Fortsetzung der „Behandlung“ im Gefängnis. Zurzeit läuft eine Unterschriftenaktion für seine Haftverschonung.[10]

Übersetzerin in Köln verhaftet

Das oben erwähnte Buch von Savvas Xiros wurde von Heike Schrader übersetzt. Sie wollte das Buch hierzulande in verschiedenen Städten vorstellen. Die in Griechenland lebende Journalistin wurde bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen Köln-Bonn im Dezember 2007 festgenommen. Sie soll gemäß § 129a Strafgesetzbuch an der Bildung einer terroristischen Vereinigung beteiligt gewesen sein. Die Generalbundesanwaltschaft wirft ihr vor, Mitte der 90er Jahre Mitglied einer innerhalb der DHKP-C[11] bestehenden terroristischen Vereinigung gewesen zu sein. Die fragliche Gruppe wurde 1998 vom Innenministerium verboten. Die Beschuldigte war über diesen Vorwurf empört. Nach eigenen Angaben war sie im angegebenen Zeitraum in einem Menschenrechtszentrum in Köln aktiv und hatte dabei Kontakt zur DHKP-C. Ihre Arbeit habe unter anderem darin bestanden, eine Zeitschrift herauszugeben. Der Haftbefehl stammt von 2001, die Journalistin hat sich in all diesen Jahren der Strafverfolgung mitnichten entzogen: Sie war mehrfach in der Bundesrepublik, noch 2007 als eine auf Plakaten und in Medien angekündigte Konferenz – Rednerin. Sie ist außerdem in Athen offiziell als Journalistin akkreditiert.

Das sah wohl auch der Untersuchungsrichter so, denn Frau Schrader wurde am nächsten Tag unter Meldeauflagen und Kaution auf freien Fuß gesetzt. Inzwischen durfte sie die BRD auch wieder verlassen.

Die Verhaftung von Heike Schrader kann in Zusammenhang mit ihrer Lesereise nur als Einschüchterungsversuch aufgefasst werden. Das Folterverbot in Europa soll wohl doch lieber in aller Stille begraben werden.

Marlene Bodenmann ist Referendarin in Berlin.



[1]Savvas Xiros „Guantanamo auf Griechisch – Zeitgenössische Folter im Rechtsstaat“, übersetzt von Heike Schrader.

[2] Gemeint ist die EKAM „Ειδική Κατασταλτική Αντιτρομοκρατική Μονάδα“, Sondereinheit zur Terrorbekämpfung.

[3] Prozessbeobachterbericht 27.01.06.

[4] Prozessbeobachterberichte vom 30.01.2006 (Erklärung von Chr. Xiros) und vom 23.01.2006.

[5] Zitiert nach Ralf Dreis in „Dorffest und Stadtguerilla“, Jungle World Nr. 28 vom 02. Juli 2003

[6]Die Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit ergeben sich in der griechischen StPO aus Art. 331, 333, 357.

[7]Az.: 73047/01.

[8] Interview mit Petros Giotis, Herausgeber der Wochenzeitschrift Kontra, der für die Zeitung das Verfahren verfolgt hat. http://www.widerstand-repression-griechenland.de/p_17n/jw-2006-09-21-int.htm.

[9] Prozessbeobachterbericht vom 26. Juni 2006.

[10] http://freesavvasxiros.webs.com/deutsch.htm.

[11] Devrimci Halk Kurtuluş Partisi/Cephesi = Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front.