Keine Zukunft für Gaza?

in (16.04.2009)
Es gibt Orte, deren Namen mehr über den Zustand der Welt aussagen, als lange Beschreibungen es vermögen: Darfur, Guantánamo, Abu Graib, Bagram oder Lampedusa. Man hüte sich, sie allein jenen Völkern anzulasten, deren Kriege sie zu Orten der Barbarei gemacht haben. Das war noch möglich an den verfluchten Orten der Kriegsführung Hitler-Deutschlands. Die Orte des modernen Grauens sind genuine Orte eines »Weltkulturerbes«, das viele Staaten und auch unsere Gesellschaft zu verantworten haben.

Ein solcher Ort ist Gaza, ein Trümmerhaufen, der aber schon vor dem Angriff der israelischen Truppen ein lebensfeindlicher Ort war. 65 Prozent seiner Bewohner hätten ihn verlassen, wären die Grenzen nicht wie eine Gefängnismauer geschlossen gewesen. Die Stadt Gaza, die ich kürzlich besuchte, steht auch für die anderen Orte und Flüchtlingslager, die sich auf 360 Quadratkilometern, einem der am dichtesten besiedelten Landstriche der Welt, drängen - halb so groß wie Hamburg mit annähernd der gleichen Einwohnerzahl: 1,5 Millionen.

Der offene Terror der »moralischsten Armee der Welt« (Ehud Barak), den israelische Soldaten jetzt eingeräumt haben, gibt nur ein weiteres Beispiel für die häßliche Fratze eines jeden Krieges, ob im Kongo, Sudan, Irak oder Afghanistan, gleichgültig, wer an ihm beteiligt ist. Für die Palästinenser aber war es der verlustreichste Krieg seit 1967. In drei Wochen waren mehr Tote und Verwundete zu beklagen als während der ersten fast sechsjährigen Intifada von Dezember 1987 bis September 1993. Die israelische Armee hat nicht nur Hunderte von Frauen, Kindern und Zivilisten getötet, sondern systematisch die Produktionsstätten und Infrastruktur und damit die ökonomische Basis dieses kleinen Küstenstreifens zerstört. Es war nicht ein Krieg gegen Hamas und die Raketen militanter Gruppen - die Opfer, Trümmer und Schutthalden geben jetzt eine deutliche Auskunft, die uns während des Krieges verwehrt wurde: Es war ein Krieg gegen die Bevölkerung. Ein Krieg, der dem ganzen palästinensischen Volk eine weitere Lektion erteilen sollte, eine offene Demütigung über die zahllosen täglichen Demütigungen an den Checkpoints und die nächtlichen Überfälle hinaus.

Die Vorgeschichte seiner langen Planung, der gezielte Bruch des Waffenstillstandsabkommens Anfang November 2008 durch die israelische Armee und der kalkulierte Angriffszeitraum zwischen Bush, Obama und den eigenen Wahlen entziehen der Rechtfertigung, man habe zur Selbstverteidigung gehandelt, jede Glaubwürdigkeit. Der Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats, Richard Falk, bestreitet in seinem jüngsten Bericht der Besatzungsmacht Israel überhaupt ein Recht auf Selbstverteidigung und stellt diesem Anspruch das Recht der Palästinenser auf Widerstand entgegen - mit guten Gründen, denn die Genfer Konventionen von 1949 verpflichten eine Besatzungsmacht zur Sicherstellung der Grundversorgung und zum Schutz der Zivilbevölkerung. Verstößt sie gegen diese Regeln, so steht ihr kein Verteidigungsrecht gegen den Protest der verelendenden Bevölkerung zu, auch nicht, wenn er gewaltsam erfolgt.

Hätten die europäischen Staaten, die USA und Israel das Ergebnis der Wahl vom Februar 2006 akzeptiert, anstatt mit einem Boykott zu reagieren, der seit Juni 2007 den Gazastreifen hermetisch abriegelte, wären die Tunnel nicht notwendig gewesen, und die Raketen hätten kein Ziel gehabt. Falk weist noch einmal darauf hin, daß zwischen dem Beginn der am 19. Juni 2008 vereinbarten Waffenruhe und ihrem Bruch durch den militärischen Vorstoß der israelischen Armee in den Gazastreifen am 4. November nur elf Raketen auf israelisches Gebiet abgeschossen worden waren.

Seit der Schließung der Grenzen war die Bevölkerung fast vollständig auf humanitäre Hilfe und die Versorgung durch die Tunnel angewiesen. Die Einkesselung, die Unterbrechung der medizinischen Versorgung, die Kontrolle und Beschränkung der Einfuhr notwendiger Lebensmittel wie des Exports palästinensischer Agrarprodukte, die Stromsperren und der Mangel an Trinkwasser bei Verdoppelung der Preise für die verbliebenen Reste, das alles machte die Geiselhaft der Menschen im Gazastreifen zu einem armseligen Leben im Gefängnis. Doch niemand erinnerte die Regierung in Jerusalem an ihre Verpflichtungen als Besatzungsmacht zur ausreichenden Versorgung der belagerten Bevölkerung, Die USA und die EU-Staaten zogen es vor, auch ihrerseits Hamas mit völkerrechtswidrigen Mitteln zu sanktionieren. Das Elend, welches die Blockade und der jüngste Krieg über die Menschen im Gazastreifen gebracht haben, würde selbst bei sofortiger Beendigung des Boykotts noch Jahre nachwirken. Zwei Drittel der Bevölkerung leiden an posttraumatischen Erkrankungen.

Doch die Blockade geht weiter, die Grenzübergänge bleiben meist geschlossen. Von den 700 Lastwagenladungen, die für eine angemessene Versorgung täglich notwendig sind, kommen durchschnittlich nur knapp über 100 in den Gazastreifen. John Ging, dem Leiter der United Nations Relief and Work Agency (UNRWA), bleibt nichts anderes übrig, als immer wieder an die Genfer Konventionen und die Menschenrechtsdeklaration von 1948 zu erinnern und auf die Verantwortung der EU-Staaten hinzuweisen.

Viele Staaten verspüren den Druck. Anfang März fanden sie sich in Sharm el Sheikh zu einer einmaligen Spendenaktion zusammen: 70 Staaten sagten 4,48 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau des Gazastreifens zu; mit den alten Zusagen erhöhte sich die Summe auf insgesamt 5,2 Milliarden Dollar, fast doppelt so viel, wie von den palästinensischen Behörden veranschlagt - allerdings war niemand aus dem Gaza-Streifen eingeladen. Jedenfalls fehlt es nicht an Geld, um wiederherzustellen, was die israelische Armee zerstört hat. Aber in das Hilfsprogramm sind zwei Hürden eingebaut, die offensichtlich niemand wegräumen will. Zunächst läßt die israelische Regierung keine Baumaterialien in den Gazastreifen gelangen, ob Sand, Zement, Glas oder Stahl - aus Sicherheitsgründen, da sie auch militärischen Zwecken dienen können. Ein Vorbehalt, der beliebig lange ausgedehnt werden kann. Sodann wollen viele Staaten selber nicht von ihrer Isolationspolitik gegenüber Hamas lassen und Geld nur dort geben, wo sicher ist, daß Hamas nicht davon profitiert.

Hamas ist keine militärische, sondern in erster Linie eine soziale und politische Organisation, die durch den Krieg laut Umfragen weitere Unterstützung gewonnen hat, in Gaza wie auch der Westbank. Die Staaten tragen also selbst zur Eskalation von Gewalt und Gegengewalt bei, solange sie nicht die Blockade aufheben, die Grenzen öffnen und die Prinzipien wieder durchsetzen, die sie sonst so oft und gern propagieren: Marktfreiheit und Freizügigkeit der Personen.

Doch die neue Regierung in Jerusalem unter dem fatalen Dreigestirn Netanyahu, Liberman und Barak wird kaum auf diesen Weg zu bringen sein. Mitri Raheb, der Pastor der evangelisch-lutherischen Kirche in Betlehem, vertritt die verbreitete These, daß die Regierung Olmert die Hamas stärken wollte, was sie mit dem Krieg erreicht hat. Bereits in ihren Anfangsjahren war die Bewegung gegen Fatah und PLO vom israelischen Geheimdienst Mossad unterstützt worden, und auch jetzt macht es aus der Sicht einer kompromißlosen Siedlungs- und Annexionspolitik Sinn, die Differenzen zwischen Hamas und Fatah zu schüren. Als sich im Oktober 2006 beide Organisationen zur Klärung ihres Verhältnisses im Jemen trafen, intervenierte Olmert mit der Drohung, die Gespräche zwischen der israelischen Regierung und der Fatah zu beenden, wenn diese mit Hamas zu einer Einigung käme.

Ende Februar unternahmen in Kairo Fatah und Hamas sowie zwölf weitere politische Gruppierungen einen neuen Anlauf. Sie kamen zu einem ermutigenden Ergebnis. Die Teilnehmer verpflichteten sich zum Verzicht auf Medienkampagnen gegeneinander und zur Aufgabe der internen Kämpfe. Alle Themen sollen gemeinsam am Runden Tisch diskutiert werden. Alle Gefangenen sollen freigelassen werden. Zu wesentlichen Fragen wurden Arbeitsgruppen eingesetzt: 1. Bildung einer Einheitsregierung und Entwicklung eines gemeinsamen Programms, 2. Fragen der Sicherheit und Reform der Sicherheitsbehörden, 3. Neustrukturierung der PLO unter Einbeziehung aller politischen Gruppen, 4. Vorbereitung demokratischer Wahlen, die spätestens am 25. Januar 2010 stattfinden sollen, und 5. Versöhnung und Vermeidung zukünftiger Spaltung.

Mustafa Barghouti, Arzt und Generalsekretär der Palestinian National Initiative aus Ramallah, der die Gespräche leitete, sieht eine historische Möglichkeit zur Einigung der Palästinenser als Voraussetzung für jeden Friedensprozeß. Seine Hauptsorge ist jetzt das Ergebnis der israelischen Wahl, die dem rechten Block mit seinen rassistischen Parteien ein deutliches Mandat gegeben hat. Netanyahu hat sich nie für eine Zwei-Staaten-Lösung ausgesprochen, sondern ist immer einen harten Kurs gegen die Palästinenser gefahren. Und der Faschist Liberman trifft sich mit der ultra-orthodoxen Shas-Partei eher bei der Vertreibung der Palästinenser als bei der Gründung eines palästinensischen Staates. Die alte These, daß nur konservative Politiker die Siedler zu einer Beendigung der Besatzung bewegen könnten, dürfte auf Netanyahu und seine Koalitionäre nicht zutreffen. Die nach der Wahl verkündeten Pläne zur Ausweitung der Siedlungen in der Westbank und die jetzt unmittelbar drohende Zerstörung von 88 palästinensischen Wohnungen in Ost-Jerusalem deuten auf eine weitere Verschärfung der Konfrontation hin. Und Obama? Seine Prioritäten liegen erkennbar woanders. Wer von ihm eine Kehrtwendung in der Israel-Politik und ernsthafte Verhandlungen über die auf dem Tisch liegenden Pläne, darunter das inoffizielle Abkommen von Genf aus dem Jahre 2003, erwartet, sollte sich Obamas engere Umgebung mit Hillary Clinton und Ram Emanuel näher anschauen. Seine Entsandten George Mitchel und Denis Ross müßten schon eine wesentlich schärfere Gangart einschlagen als ihr britischer Kollege Tony Blair, um gegen die neue israelische Regierung einen Durchbruch zum Frieden zu erreichen. Der allgemeinen Skepsis, die mir in meinen Gesprächen in den besetzten Gebieten begegnete, kann ich kaum eine optimistische Perspektive entgegensetzen.