Ein eigenes Verfassungsgericht, bitte!

in (20.04.2009)
Für Mitte Mai wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon erwartet. Niemand glaubt im Ernst daran, daß die Klage der Linken sowie des CSU-Politikers Peter Gauweiler dieses Vertragswerk der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu Fall bringen wird. Aber zu einer Detailfrage hoffen Gegner wie Anhänger des Lissabon-Vertrags gleichermaßen auf ein Wort der Karlsruher Richter: ein Wort in eigener Sache. Denn die EU zieht immer mehr Kompetenzen an sich, auch hinsichtlich der Rechtsprechung. Daher befürchten namhafte innenpolitische Kommentatoren wie etwa Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, der Lissabon-Vertrag könne das Bundesverfassungsgericht entmachten, wenn der Grundrechtsschutz künftig dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zukäme.

Bürgerrechtler beurteilen diese Entwicklung skeptisch und sehen sie zumindest als verfrüht an. Zuletzt hat der EuGH am 10. Februar 2009 eine Klage gegen die Vorratsdatenspeicherung abgewiesen, während gleichzeitig sich in Deutschland die umfangreichste Verfassungsbeschwerde aller Zeiten mit über 30.000 Beschwerdeführern dagegen wendet, daß Telekommunikationsdaten aller Bürgerinnen und Bürger ohne Verdacht für staatliche Zwecke gespeichert werden. Deren Hoffnungen richten sich nach dem Fehlschlag in Luxemburg nunmehr auf Karlsruhe. Dem EuGH traut man noch nicht dasselbe Maß an Grundrechtssensibilität zu.

Ähnlich argumentierte bisher das Bundesverfassungsgericht selbst in seinen berühmtem »Solange«-Entscheidungen. Solange auf der EU-Ebene nicht derselbe Standard an Grundrechtsschutz erreicht sei wie in Deutschland, behalte sich das Bundesverfassungsgericht die Zuständigkeit hierfür vor.

Nicht nur die Gegner, sondern auch viele Befürworter des Lissabon-Vertrags hoffen darauf, daß bei der Urteilsverkündung im Mai 2009 diese »Solange«-Rechtsprechung fortgesetzt wird und sich Karlsruhe selbst die Kompetenz für den Grundrechtsschutz bewahrt. Eine Abtretung gerade dieser Kompetenz an EU-Institutionen wäre wohl ein unkalkulierbares Risiko.

Hier zeigt sich, daß das Bundesverfassungsgericht nach wie vor höchstes Ansehen genießt und daß die Bürgerinnen und Bürger ihm am meisten vertrauen, wenn es um den Schutz der Bürgerrechte geht. Von der Verfahrensordnung her ist dies durch das - grundgesetzlich abgesicherte - Institut der Verfassungsbeschwerde möglich geworden. Andere Prozeßarten wie die Normenkontrolle, die beispielsweise ein Drittel der Mitglieder des Bundestags einreichen kann, spielen keine so große Rolle. Die Verfassungsbeschwerde ist zwar keine Popularklage. Sie gestattet es nicht, daß jeder Bürger ein Gesetz in Karlsruhe auf seine Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen lassen könnte. Aber jeder, der selbst in seinen Grundrechten betroffen sein kann, ist befugt, Verfassungsbeschwerde zu erheben.

Damit ist die Möglichkeit eröffnet worden, daß der Gesetzgeber immer damit rechnen muß, von den Karlsruher Richtern am Maßstab des Grundgesetzes gemessen zu werden.

Beispielsweise konnte jeder Flugpassagier geltend machen, er könne vom Luftsicherheitsgesetz, das den Abschuß entführter Passagiermaschinen erlauben wollte, möglicherweise persönlich betroffen sein. Dies genügte, damit Verfassungsbeschwerden wegen möglicher Beeinträchtigung des Grundrechts auf Leben zulässigerweise erhoben werden konnten; sie waren auch begründet und damit insgesamt erfolgreich.

Daß die Verfassungsbeschwerde zu einer Erfolgsstory für die Bürgerrechte geworden ist, liegt selbstverständlich nicht nur an Zulässigkeitsregelungen, sondern vor allem daran, daß die Karlsruher Richter über die Jahre hinweg einen klaren inhaltlichen Kurs gehalten haben. Das bestätigte sich besonders nach dem 11. 9. 2001, als sich das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht geradezu polarisierte. Sowohl der Bundestag als auch viele Landtage verfolgten mehrheitlich die Devise »Sicherheit zuerst«. Karlsruhe beharrte dagegen auf dem Freiheitsgehalt des Grundgesetzes.

Somit kam es in den letzten fünf Jahren zu einer dramatischen Abfolge markanter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts:

Karlsruhe verwarf den großen Lauschangriff in der ursprünglichen Fassung, rügte einen Kompetenzverstoß bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung, hielt die Telekommunikations- und Postüberwachung durch das Zollkriminalamt für verfassungswidrig und entschied gegen die vorbeugende Telefonüberwachung. Der Europäische Haftbefehl und das Luftsicherheitsgesetz wurden für nichtig erklärt, die Rasterfahndung ohne konkreten Anlaß wurde verworfen, beim Online-Zugriff auf Kontostammdaten sahen die Richter den Bestimmtheitsgrundsatz als verletzt an. Mit dem Cicero-Urteil wurde die Pressefreiheit gestärkt, die heimlichen Online-Durchsuchungen nach Muster des Landes Nordrhein-Westfalen wurden für nichtig erklärt, ebenso die automatische Kennzeichenerfassung. Schließlich wurden Teile der Vorratsdatenspeicherung sogar durch einstweilige Anordnung außer Kraft gesetzt. Genauso verfuhr das Gericht zuletzt mit dem bayerischen Versammlungsgesetz. Immer ging es darum, unverhältnismäßige Eingriffe in die verbrieften Grundrechte abzuwehren.

Diese eindrucksvolle Bilanz führte auch jüngst wieder zu Gegenreaktionen aus der Politik. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) ließ in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 8. März 2009 wissen, das Gericht mische sich zu sehr in die Politik ein. Dieses Empfinden hatten Politiker auch schon in früheren Zeiten. Von Herbert Wehner, einem führenden Sozialdemokraten, wurde der unfeine Ausspruch kolportiert, man lasse sich doch die Ostpolitik »nicht von den acht Arschlöchern in Karlsruhe kaputtmachen«. So unflätig würde heute sicher niemand mehr formulieren. Aber dahinter steckte die Grundsatzfrage, ob es Bereiche gibt, die nicht justiziabel sind, etwa Fragen des richtigen außenpolitischen Kurses. Sollte es der sozialliberalen Koalition in den Siebziger Jahren wirklich von Verfassungs wegen verboten sein, einen Ausgleich mit der UdSSR und mit Polen zu suchen? Am Ende hat das Bundesverfassungsgericht die Klagen gegen die Ostverträge abgewiesen, aber die Frage nach einem »judicial self restraint«, nach richterlicher Selbstbeschränkung, blieb.

Sie gewann Aktualität angesichts des Karlsruher Verdikts von 1975 gegen die Fristenlösung im Dauerstreit um den Strafgesetzbuch-Paragraphen 218. Was ist noch richterliche Auslegung der Verfassung, und wo beginnen die Richter, selbst Politik zu machen? Ist wirklich dem Grundgesetz - wie unter Federführung von Paul Kirchhof das Bundesverfassungsgericht 1995 urteilte - der Halbteilungsgrundsatz zu entnehmen, wonach die steuerliche Belastung der Bürger fünfzig Prozent ihres Einkommens nicht übersteigen darf, oder handelt es sich hierbei in Wahrheit um eine (Liberalen sympathische) politische Forderung?

An diesen Beispielen wird ein Grundproblem deutlich: Ein Verfassungsgericht mit so weit reichenden Konsequenzen könnte man als systemfremd ansehen, weil die Wähler nur die Parlamente für politische Entscheidungen legitimieren. Wie kann es dann angehen, daß eine mehrheitlich im Parlament getroffene Entscheidung von einem Richtergremium aus acht Personen aufgehoben werden darf?

Die Antwort ist klar. Auch der Gesetzgeber unterliegt Bindungen. Er kann nicht schrankenlos seine Entscheidungen treffen, sondern ist dabei an die Verfassung gebunden. Folglich muß es eine Instanz geben, die durch Auslegung verbindlich den Inhalt der Verfassung feststellt und beurteilen darf, ob sich der Gesetzgeber an diesen Inhalt gehalten hat oder nicht.

Also ist das System durchaus stimmig. Das Bundesverfassungsgericht hat seine Grenzen in der Vergangenheit weitgehend eingehalten, und es hat umgekehrt in einer Fülle glanzvoller Entscheidungen den Grundrechten, wie sie auf dem Papier stehen, Leben eingehaucht. Mit dem berühmten »Lüth-Urteil« vom 15. 1. 1958 hat es Grundrechte nicht nur im klassisch liberalen Sinne als Abwehrrechte gegen den Staat definiert, sondern aus der Gesamtheit der Grundrechte eine objektive Werteordnung entnommen. Demnach wirken die Grundrechte mittelbar auch auf das Privatrecht ein. Ein weiterer Meilenstein in der Rechtsprechungsgeschichte war das Volkszählungsurteil von 1983, mit dem der Datenschutz Grundrechtsqualität erlangte, indem aus Artikel 2 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) ein »Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung« herausgelesen wurde.

Selbstverständlich finden sich in einer bis auf den September 1951 zurückreichenden Judikatur hinreichend Urteile, die kritisch zu bewerten wären. Oft spürt man auch den Kompromißcharakter der Entscheidungsfindung, denn die Besetzung der Richterbank wird von den beiden großen Fraktionen CDU/CSU und SPD maßgeblich gestaltet. Wegen der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit gibt es einen Zwang zur Einigung, also eine faktische große Koalition auch in Zeiten anderer als der derzeitigen Regierungskonstellation. Demgemäß achteten Union und SPD immer auf eine hälftige Aufteilung in jedem der beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts. Die Erwartung, »ihre« Richterinnen und Richter würden dann im jeweiligen Parteisinne judizieren, wurde aber ebenso regelmäßig enttäuscht. Noch dazu gilt seit langem eine zwölfjährige Amtszeit ohne Wiederwahlmöglichkeit, wodurch sich vermutlich die Unabhängigkeit der Verfassungsrichter von den sie vorschlagenden Parteien noch einmal erhöht hat. Beispielsweise wird der derzeitige Verfassungsgerichtspräsident Professor Hans-Jürgen Papier der CSU zugerechnet, unter seinem Vorsitz ergingen aber viele der eingangs genannten bürgerrechtsfreundlichen Urteile, die ganz und gar nicht der innenpolitischen Linie der CSU entsprechen.

Insgesamt hat sich Karlsruhe viel Vertrauen erarbeitet. Das geht manchmal sogar so weit, daß groteskerweise Abgeordnete entgegen ihrer eigenen Meinung (aber entsprechend der Fraktions- und Koalitionsdisziplin) einem Gesetz zustimmen in der Hoffnung, das Bundesverfassungsgericht werde korrigierend eingreifen. Genau dies erklärte freimütig der Vorsitzende des Bundestags-Innenausschusses, Sebastian Edathy (SPD), bei der Verabschiedung der umstrittenen Regelung, daß aus dem Ausland nachziehende Ehegatten zuerst eine Deutschprüfung in ihrem Herkunftsstaat bestehen müßten. Edathy beugte sich der hierzu getroffenen Abmachung von CDU/CSU und SPD, brachte aber in der Plenardebatte seine Erwartung zum Ausdruck, daß Karlsruhe ein solches gegen den Grundrechtsschutz von Ehen gerichtetes Gesetz einkassieren würde.

Der Vorgang zeigt, daß sich - bei aller Unwägbarkeit von Verfassungsauslegung - durch die jahrzehntelange Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts schon ein Stück Berechenbarkeit herausgebildet hat, wie Karlsruhe einen Sachverhalt bewerten wird. Diese (relative) Klarheit bietet der europäische Grundrechtsschutz offenkundig noch nicht. Es ist daher kein Anflug von Nationalismus, sondern ein berechtigtes Beharren auf einem einmal erreichten Standard, wenn man hoffen darf: Das Bundesverfassungsgericht wird in der Lissabon-Entscheidung dafür sorgen, daß es ein echtes Verfassungsgericht bleibt.