Einen Toast auf Rapallo

Deutschland und Rußland – auf dem internationalen Parkett in der Zeit nach
dem Ersten Weltkrieg waren sie die Parias: Deutschland als Initiator und Verlierer
des Ersten Weltkriegs, Rußland wegen des Versuchs der Bolschewiki, der
in den bürgerlichen Demokratien des Westens bestehenden privatkapitalistischen
Gesellschaftsordnung eine ausbeutungsfreie Alternative gegenüberzustellen.
Den internationalen Boykott aufzubrechen gelang beiden Staaten erst,
als sie über ihre antagonistischen zwischenstaatlichen Gegensätze hinweg –
immerhin hatte das kaiserliche Deutschland noch kurz vor seinem Untergang
mit dem Frieden von Brest-Litowsk Rußland zeitweilig große Territorien entrissen
– am 16. April 1922 mit dem Vertrag von Rapallo eine Brücke zueinander
geschlagen hatten.
Mit diesem Vertrag nahmen beide Länder ihre durch den Krieg und die Ausweisung
der sowjetrussische Botschaft im Oktober 1918 unterbrochenen diplomatischen
und wirtschaftlichen Beziehungen wieder auf. Profitiert haben
davon beide Seiten. Für die Weimarer Republik, deren Waren von den ehemaligen
Kriegsgegnern in Westeuropa und Nordamerika boykottiert wurden,
öffnete sich der russische Markt, und Sowjetrußland, das vergleichbaren ökonomischen
Restriktionen ausgesetzt war, erhielt Zugang nach Deutschland.
Und die ehemaligen Kriegsgegner Deutschlands, denen auch eine gemeinsame
prinzipielle Feindschaft gegen Sowjetrußland eigen war – fast alle hatten
sie von 1918 bis 1920 aktiv an den Interventionskriegen zum Roll back der
gesellschaftlichen Veränderungen im Lande teilgenommen – zogen es in den
Folgejahren vor, ihre Beziehungen zu den Rapallo-Partnern schrittweise zu normalisieren,
statt diese in ein immer engeres Verhältnis zu einander zu treiben.
Die Phobie vor einem engen deutsch-russischen Verhältnis ist seit 1922 mit
dem Namen Rapallo verknüpft, und noch in den siebziger Jahren diente der
Verweis auf den Vertrag den Konservativen in der Bundesrepublik, aber auch
Politikern und Publizisten in anderen westlichen Ländern zur Diffamierung
der neuen Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt. Die stand bekanntlich
unter dem von Egon Bahr »erfundenen« Leitgedanken »Wandel durch Annäherung
« und dürfte – wenn man den Ausgang des Kalten Krieges vor Augen
hat, eines der erfolgreichsten außenpolitischen Langzeitkonzepte der neueren
Geschichte überhaupt sein.
Der Rapallo-Vertrag selbst war in Deutschland zum Zeitpunkt seines Abschlusses
höchst umstritten und diente insbesondere der extremen Rechten als
Zielscheibe übelster Angriffe, eingeschlossen den Mord an einem seiner geistigen
Väter, dem damaligen Außenminister Walther Rathenau, der zwei Monate
nach Vertragsabschluß erfolgte.
Allerdings gab es in Deutschland – und keineswegs nur beschränkt auf die
kommunistische Linke – auch gesellschaftliche Kräfte, die das friedensstabilisierenden
Potential einer deutsch-russischen Annäherung erkannten und ihren
Beitrag dazu leisten wollten. Eines der herausragendsten, heute weitgehend
vergessenen Beispiele dafür war die »Gesellschaft der Freunde des neuen
Rußland«, die am 1. Juni 1923 in Berlin von vornehmlich bürgerlichen Intellektuellen,
Unternehmern, hochrangigen Beamten und Künstlern gegründet wurde. Zu ihren namhaftesten Mitgliedern in den zehn Jahren ihres Bestehens –
die Gesellschaft wurde nach der Machtübergabe an die Nazis noch 1933 verboten
– gehörten der Reichstagspräsident Paul Löbe, der Physiker Albert Einstein,
der Architekt Bruno Taut, die Schriftsteller Thomas und Heinrich Mann
sowie Oskar-Maria Graf, um nur einige zu nennen. Der Verein leistete Pionierarbeit
beim Aufbau und der Entwicklung völkerverbindender Beziehungen zwischen
beiden Ländern. Das Hauptaugenmerk wurde dabei auf die Vermittlung
von Kenntnissen über das damals noch weitestgehend unbekannte Land im
Osten, seine Wirtschaft und Ressourcen, seine Wissenschaft und Kultur, seine
Menschen gelegt. Oder um es mit den Worten des Vorstandes der Gesellschaft
in der ersten Ausgabe der Zeitschrift »Das neue Rußland« aus dem Jahre 1924
zu sagen: »Es geht … um Aufklärung und Belehrung auf bisher noch zu wenig
bekannten Gebieten. Die neuen Wirtschafts- und Lebensformen, die neuen
künstlerischen und literarischen Erscheinungen des großen Rußland mit seinen
unerschöpflichen Naturschätzen, mit seiner breiten Aufnahmefähigkeit für
industrielle und kulturelle Erzeugnisse sollen zwecks gegenseitiger Durchdringung
hier gebührend gewürdigt werden. Wir glauben hierbei auf die Teilnahme
breitester Schichten deutscher Geistesarbeiter und wirtschaftlicher Pioniere
rechnen zu dürfen.«
Heute haben wir ein durchaus facettenreicheres, wenn auch nach wie vor
unvollständiges und nicht selten tendenziöses Bild von Rußland, und die Beziehungen
sind noch immer deutlich von den Nachwirkungen jahrzehntelanger
Systemkonfrontation geprägt. Der russische Präsident Dimitri Medwedjew
unterstrich bei seinem Antrittsbesuch Anfang Juni 2008 in Berlin, daß
Rußland nach fast einem Jahrhundert der Isolation und Selbstisolation entschlossen
sei, in die Weltpolitik und -wirtschaft zurückzukehren. Er verwies
in diesem Zusammenhang auch darauf, daß Europas Architektur noch den
Stempel der Vergangenheit trage.
Dem ist nicht zu widersprechen. Andererseits liegt ein nachhaltig stabiles
politisches, wirtschaftliches und geistig-kulturelles Beziehungsgefüge zwischen
dem Westen, speziell Westeuropa, und Rußland im strategischen, ja existentiellen
Interesse Deutschlands mit seiner Brückenlage im Herzen des Kontinents.
Denn Sicherheit in Europa, so sagt es Egon Bahr, ist nicht ohne und
nicht gegen, sondern nur mit Rußland zu erlangen. Leider gehört diese Erkenntnis
noch keineswegs zu den durchgängig prägenden Konstanten deutscher
Politik.
Vor diesem Hintergrund ist es um so mehr zu begrüßen, daß die Tradition
der »Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland« nunmehr eine Renaissance
erlebt: Im November vergangenen Jahres hat in Berlin ein Initiatorenkreis aus
Wirtschaft und Kultur die Gesellschaft mit direktem Bezug auf Anliegen und
Agieren der historischen Vorgängerin neu gegründet. Man wolle, so Geschäftsführer
Steffen Bayer zu den aktuellen Zielen, »mittelständischen Unternehmen,
wissenschaftlichen Einrichtungen, Sportverbänden, Schriftstellern und
Künstlern sowie interessierten Personen den Zugang zu potentiellen Partnern
im jeweils anderen Land ebnen«.
Zur Beförderung dieser Ziele ist auch wieder eine eigene Zeitschrift ins
Auge gefaßt, mit der Akkreditierung der Gesellschaft beim russischen Außenministerium
ist – laut Bayer – in Kürze zu rechnen. Und über jeden Interessenten
und neuen Mitstreiter für dieses Projekt freue man sich schon jetzt.
Weitere Informationen im Internet (www. freundedesneuenrussland.com).