Neue alte Kapitalismuskritik

Eine einzige Veranstaltung des Attac-Kapitalismuskongresses machte Geschlechterverhältnisse zum zentralen Thema.

Der Kapitalismus ist mit der Finanzkrise zum massenmedialen Thema avanciert, über Kapitalismus wird wieder verhandelt, Kapitalismus wird kritisiert. Befragt man die omnipräsenten Kritiken und Lösungsangebote auf ihre Radikalität hin, relativiert sich die Rede von der gegenwärtigen Salonfähigkeit der Kapitalismuskritik jedoch: Zielen die Kritiken auf den Kapitalismus als solchen ab oder wird bloß der gegenwärtige Status Quo des Kapitalismus als „Casino-Kapitalismus“ kritisiert? (Und: Wo liegt die Grenze zwischen beiden?) Verfolgen die vorgeschlagenen Maßnahmen eine Stabilisierung oder Reformierung, eine Transformation oder gar das Ende des Kapitalismus? 
So unterschiedlich die Diskussionsbeiträge hinsichtlich ihrer Radikalität und Stoßrichtung auch sein mögen, was in der aktuellen medial-öffentlichen Diskussion insgesamt – und fast vollständig – fehlt, sind feministische Kapitalismuskritiken und Reflexionen über das Verhältnis von Kapitalismus und Geschlecht.

Feminismus und Kapitalismus.
Vom 6. bis 8. März (Internationaler Frauentag!) fand in Berlin der Kapitalismuskongress der globalisierungskritischen Organisation Attac statt – mit 2.500 BesucherInnen ein unerwartet erfolgreicher Kongress, der in dutzenden Veranstaltungen Raum für Weiterbildung und Diskussion in Sachen Kapitalismus und Krise bot, und damit für linke Bewegungen in Deutschland ein wichtiges Moment kapitalismuskritischer Diskussion und Mobilisierung darstellte. 
Doch leider offenbarte der Blick in das Programmheft auch hier die gewohnte Leerstelle: Eine einzige von insgesamt knapp hundert Veranstaltungen befasste sich mit Kapitalismus und Geschlechterverhältnissen. Nur Frigga Haug, bis 2001 Professorin für Soziologie in Hamburg, entwarf eine dezidiert feministische Zielperspektive für eine alternative Organisation von Leben und Arbeit. Ihre „Vier-in-Einem-Perspektive“ gründet auf der Überzeugung, dass der kapitalistische Akkumulationsprozess durch eine Mittel-Zweck-Verkennung gekennzeichnet sei, in der die Produktion des Lebens der Produktion der Lebensmittel – heute organisiert als Lohnarbeit – untergeordnet sei. Das heißt: Reproduktionsarbeiten werden als Beiwerk des kapitalistischen Produktionsprozesses marginalisiert, der allerdings seinerseits in eine Überakkumulationskrise geraten sei. Darin machte auch Globalisierungstheoretikerin Saskia Sassen beim Eröffnungspodium die Spezifik der gegenwärtigen Krise aus: Sie ließe sich – und das sei neu – nicht lösen, indem weitere gesellschaftliche Sektoren in den Finanzsektor und seine Logik integriert werden, da fast nichts mehr übrig sei. Die Folge: „Capitalism implodes“. 
In der Marginalisierung jener Tätigkeiten, die sich nicht sinnvoll in die „Zeitsparlogik“ (Haug) oder in die Logik des „Maximalprofits“ (Publizistin Daniela Dahm auf dem Eröffnungspodium) einfügen lassen, treffen bei Haug Kapitalismus und Geschlechterungleichheit aufeinander. Die politische Forderung, die sie ableitet, zielt auf eine radikale Verkürzung der täglichen Erwerbsarbeitszeit auf vier Stunden, um Platz zu schaffen für reproduktive Arbeit, für die Gestaltung der Gesellschaft und für die Arbeit an sich selbst. Ziel ist die gleichwertige Verknüpfung der vier Bereiche Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, politische Arbeit und individuelle Entwicklung, bei Anerkennung ihrer je eigenen Logiken. Damit einher geht eine Absage an die arbeitsteilige StellvertreterInnenpolitik: Mit dem vorgeschlagenen Zeitmodell kann diese durch die aktive Gestaltung von Gesellschaft durch alle ersetzt werden.

Unfeministische Kapitalismuskritik.
Haug sprach zudem die historische Marginalisierung der Frauenbewegung in der ArbeiterInnenbewegung an und bemerkte, dass auch gegenwärtige linke kapitalismuskritische Interventionen wie der Attac-Kongress schlicht unter Auslassung der Frauenfrage operieren. Auch Deborah Ruggieri, Mitglied der Gender-AG von Attac und Moderatorin auf dem Kongress, teilte diese Einschätzung: In globalisierungskritischen, linken Bewegungen und NGOs des deutschsprachigen Raumes sei es um die Verknüpfung von Feminismus und Kapitalismuskritik momentan schlecht bestellt. Bezogen auf den Attac-Kongress jedenfalls lässt sich eine wenig ruhmreiche Bilanz ziehen: Es blieb bei der einen Veranstaltung von Frigga Haug, die als einzige das Geschlechterverhältnis zum zentralen Thema machte. Was die zahlenmäßige Vertretung von Frauen auf dem Kongress anbelangt, standen circa vierzig Referentinnen etwa 110 Referenten gegenüber. Positiv hervorzuheben ist indes, dass die zentralen Podien auf dem Kongress geschlechterparitätisch besetzt waren. 
Auch sonst nimmt Attac bis dato keine Vorreiterrolle ein, was die Berücksichtigung feministischer Perspektiven, eine geschlechtergerechte Organisationsstruktur und die Repräsentation nach außen anbelangt. Allerdings tut sich hier etwas: 2008 hat sich die bundesweite Gender-AG gegründet, die auf die Umsetzung von Geschlechtergerechtigkeit innerhalb der Organisation hinwirkt und zugleich inhaltlich zu Geschlecht und Globalisierung beziehungsweise Kapitalismus arbeitet. Die AG intervenierte am Abschlusstag des Kongresses mit einer politischen Aktion, um auf die Marginalisierung feministischer Perspektiven auf dem Kongress aufmerksam zu machen. Denn: „Auch bei Attac wird Wirtschafts- und Finanzkompetenz offensichtlich männlich geschrieben“, so das begründende Statement der AG auf ihrer Homepage. Ruggieri schätzt das feministische Veränderungspotenzial bei Attac allerdings sehr positiv ein: Erstens sei eine deutliche Tendenz in Richtung einer besseren Verankerung von Geschlechtergerechtigkeit auszumachen. Und zweitens werde die Verknüpfung von Geschlecht und Finanzkrise verstärkt zum Thema inhaltlicher Arbeit.

Kapitalismusunkritischer Feminismus.
Haug verwies darüber hinaus auf Nachfrage auf eine weitere Leerstelle: Das weitgehende Fehlen kapitalismuskritischer Perspektiven im gegenwärtigen akademischen Feminismus (was Deutschland und Österreich anbelangt). Tatsächlich scheint Kapitalismuskritik in den großen Debatten der feministischen Wissenschaften nicht gerade en vogue zu sein. Das heißt aber natürlich nicht, dass es überhaupt nichts dergleichen gibt – eine Fülle wissenschaftlicher Arbeiten befasst sich etwa kritisch mit dem Neoliberalismus und problematisiert den Abbau sozialer Absicherungen und dessen Prekarisierungsfolgen, von denen Frauen tendenziell in stärkerem Maße betroffen sind als Männer. Des Weiteren werden Kritiken an neoliberalen Subjektvorstellungen und politischen Programmen (HartzIV) formuliert, die auf individuelle Selbstverantwortung und „Aktivierung“ setzen: Ungleiche Ausgangsbedingungen aufgrund von Geschlecht, Klasse und Ethnizität würden unsichtbar gemacht, was zu einer Entpolitisierung und Entsolidarisierung beitrage. Arbeiten aus den Forschungskontexten der QueerTheory kreisen um die Frage nach dem Verhältnis von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität auf der einen und Kapitalismus auf der anderen Seite. Hierhat eine Reflexion darüber eingesetzt, dass sich der gegenwärtige (neoliberale) Kapitalismus möglicherweise als so flexibel erweisen könnte, dass ihn auch eine grundlegende Irritation der zweigeschlechtlichen Gesellschaftsordnung nicht zwangsläufig maßgeblich erschüttern würde. 
Mit der Frage nach einer feministischen Kapitalismuskritik stellt sich auch jene nach einem zeitgemäßen linken Feminismus neu. Jenseits von „F-Klasse“ und „Karrierefeminismus“ sowie konservativer Familienpolitik und Mutter-Ethos; global denkend, nicht elitär, die unterschiedlichen und miteinander verknüpften Ungleichheitsrelationen und Ausschlussmechanismen im Blick. Möglicherweise liefern die wirtschaftliche Kriseund die sie umgebenden Debatten einen Anstoß für eine diesbezügliche Suchbewegung – in den wissenschaftlichen Kontexten ebenso wie in linken (globalisierungskritischen) Bewegungen.

Attac Gender-AG: 
www.attac-netzwerk.de/gender-ag

 

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,  www.anschlaege.at