Herrenmenschenmanieren

in (05.05.2009)
Nach der Genfer Weltkonferenz gegen Rassismus verglich Uri Avnery in seinen allwöchentlichen, immer lesenswerten Betrachtungen den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, den Eröffnungsredner der Konferenz, mit dem israelischen Außenminister Avigdor Lieberman: Jeder sei der Feind, den der andere brauche und geradezu erfunden haben könne. Ein zum Nachdenken anregender Vergleich. Aber aus offizieller deutscher Sicht sind die beiden äußerst ungleich. Die Bundesregierung würde wohl niemals wegen eines Lieberman-Auftritts eine internationale Konferenz verlassen oder gar nicht erst anreisen wie jetzt wegen des Ahmadinedschad-Auftritts in Genf.

Über Lieberman, dem der aus der faschistischen Partei stammende italienische Außenminister als erster zum jetzigen Amt gratulierte, berichtet Avnery: »Er hat einmal das Bombardieren des großen Assuan-Dammes vorgeschlagen, einen Akt, der eine tsunamigleiche Überschwemmung verursacht und viele Millionen Ägypter getötet hätte. Ein anderes Mal schlug er vor, den Palästinensern ein Ultimatum zu stellen: Um 8 Uhr bombardieren wir Eure Handelszentren, mittags Eure Tankstellen und um 14 Uhr Eure Banken und so weiter. Er hatte auch vorgeschlagen, Tausende von palästinensischen Gefangenen zu ertränken, und bot an, die nötigen Busse zur Verfügung zu stellen, um sie an die Küste zu bringen (...) Während der letzten Wahlkampagne schloß er in sein offizielles Programm die Forderung ein, den Arabern, die ihre Loyalität gegenüber Israel nicht beweisen könnten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen.«

Daß Liebermans Partei zur drittgrößten Fraktion in der neuen Knesset werden konnte, kam nach Avnerys Feststellungen von »den in Israel geborenen jungen Leuten, von denen viele kürzlich am Gazakrieg teilgenommen hatten. Sie stimmten für ihn, weil sie glaubten, er würde die arabischen Bürger aus Israel und die Palästinenser aus dem ganzen Land herausschmeißen.«

Avnery fragte: »Besteht die Möglichkeit, daß in Israel ein faschistisches Regime an die Macht kommt? (...) Kann sich jemand vorstellen, daß Israelis so etwas wie Nazis werden?« Schon in seinem Buch »Swastika« hatte er geantwortet, Nazismus sei nicht eine spezifisch deutsche Krankheit. Zum Faschismus gehörten die Idee, eine »Übernation« zu sein, die Anmaßung, anderen Völkern und nationalen Minderheiten die Menschlichkeit abzusprechen, der Führerkult, ein Kult der Gewalt, Verachtung der Demokratie, eine besondere Vorliebe für Krieg, Verachtung für Moral und Ethik.

Avnery fragte weiter: »Nähert sich der Staat Israel einer existentiellen Krise - moralisch, politisch, wirtschaftlich -, die es in eine gefährdete Nation verwandelt? Kann Lieberman oder jemand, der seinen Platz einnimmt, zu einer dämonischen Gestalt wie Hitler werden oder zumindest wie Mussolini?« Antwort: Es gebe »einige gefährliche Hinweise«: »Der letzte Krieg zeigte eine weitere Abnahme unserer moralischen Maßstäbe. Der Haß gegen Israels arabische Minderheit wächst. Und so wächst auch der Haß gegen das besetzte palästinensische Volk, das unter langsamer Strangulierung leidet. In einigen Kreisen wächst die Verehrung brutaler Gewalt. Das demokratische Regime befindet sich in einer nicht endenden Krise. Die wirtschaftliche Situation könnte ins Chaos führen, so daß die Massen nach einem ›starken Mann‹ verlangen. Und der Glaube, daß wir das ›auserwählte Volk‹ sind, ist bereits tief verwurzelt.« Der kluge israelische Journalist, Träger des Carl-von-Ossietzky-Preises, äußerte sich »überzeugt, daß die israelische Demokratie verborgene Stärken hat, die in der Stunde der Not zum Vorschein kommen. Nichts muß geschehen. Aber alles kann geschehen.«

Auf solche umsichtige Art, frei von nationalen, religiösen oder »rassischen« Ressentiments, sollten auch wir in Europa über faschistische Gefahren sprechen. Über den Umgang mit Migranten, die faktische Abschaffung des Asylrechts, das »Frontex«-System, mit dem sich Europa abriegelt und Flüchtlinge an den Grenzen sterben läßt. Über Kriege wie in Irak und Afghanistan. Über Massenarbeitslosigkeit wie am Ende der Weimarer Republik. Über eine Bankenkrise wie damals. Über das Schwächeln und Einknicken von Gewerkschaften im Gefolge der SPD. Über stärker werdende, polizeilich geschützte Nazi-Demonstrationen, über polizeiliche Brutalität gegen Anti-Nazis, über die permanenten geheimdienstlichen Kampagnen gegen den Antifaschismus (s. die Broschüren der »Verfassungschutz«-Ämter). Über den stetigen Abbau von Grundrechten. Über die entpolitisierenden, irreführend berichtenden Konzernmedien wie damals. Gibt es eigentlich etwas, was nicht an damals erinnert? Aber ausgerechnet Deutschland blieb der Weltkonferenz gegen Rassismus fern. Mit welcher Begründung? Wegen Ahmadinedschad, der, wie man schon vorher zu wissen behauptete, eine antisemitische Rede halten werde.

In den Konzernmedien habe ich die Rede nicht veröffentlicht gesehen, aber im Internet. Antisemitismus habe ich darin nicht gefunden, aber Warnungen vor dem in Israel regierenden Zionismus. Warnungen, die mir nach Uri Avnerys Darstellungen berechtigt erscheinen. Richtig fand ich, was Ahmadinedschad über den Zusammenhang des Rassismus mit dem Kolonialismus, mit Sklaverei und Ausbeutung fremder Länder sagte und über die Notwendigkeit, die Unabhängigkeit aller Länder zu achten. Sicher stimmten ihm viele in Genf vertretene Staaten zu, als er die Weltherrschaftsansprüche der atombombenbesitzenden Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat anprangerte. Eine Rede, mit der sich Repräsentanten der angesprochenen Staaten, auch Deutschlands, auf der Konferenz hätten auseinandersetzen sollen.

Daniela Dahn schildert in ihrem neuen Buch und in diesem Heft ein grausiges Beispiel, wie die NATO ein Land, das sie sich aneignen wollte, mundtot machte. Der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic kam in den deutschen Konzernmedien niemals zu Wort. Noch heute wird mir in Diskussionen immer mal wieder entgegengehalten, Milosevic habe vor 20 Jahren eine schlimme Rede gegen die Albaner im Amselfeld (Kosovo) gehalten und damit den Bürgerkrieg angestiftet. Daß es eine schlimme Rede gewesen sei, hatten die deutsche Konzernmedien oft behauptet und wiederholt, aber sie hatten sorgsam vermieden, sie zu lesen zu geben, sonst hätten sich die Leser vom Gegenteil überzeugen können.

Es gibt Gründe genug, das Regime in Iran zu kritisieren; schon die grausamen Körperstrafen sind Grund genug. Hört auf, Gründe herbeizuphantasieren (zum Beispiel auch die Fähigkeit zum atomaren Militärschlag, die der Iran nicht hat, aber Israel). Nach den Erfahrungen mit den Kriegsvorbereitungen gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak können solche Lügen zu Kriegsgründen werden. Notwendig ist es, mit dem Iran, mit Israel, mit der gewählten Vertretung der Palästinenser, am besten mit allen Staaten in Nahost zu verhandeln. Wenn US-Präsident Obama beabsichtigt, mit Ahmadinedschad zu reden, sollten wir ihn unbedingt bestärken.

Selbst mit einem solchen Rassisten wie Lieberman wird zu reden sein, solange er sein Land repräsentiert. Völkerrecht, Vernunft und Humanität müssen ihm entgegengehalten werden, um ihm eine Fortsetzung des israelischen Expansionismus auf Kosten der Palästinenser zu verwehren. Oder müssen wir Deutschen uns da aus historischer Verantwortung zurückhalten? Nein, aus historischer Verantwortung müssen wir darauf bedacht sein, alle Juden vor Rassismus zu schützen. Aber wir dürfen rassistische Politik auch dann nicht unterstützen, wenn sie von Juden kommt. Zu leugnen, daß auch ein Jude Rassist sein kann, wäre purer Rassismus.

Hören wir auf die israelische Friedensbewegung  - Uri Avnery ist einer ihrer Sprecher - und auf die palästinensische Friedensbewegung, die mit ihr eng zusammenarbeitet. Um beide zu unterstützen, hat die Internationale Liga für Menschenrechte ihre Carl-von-Ossietzky-Medaille 2008 an diejenigen verliehen, die jeden Freitag gewaltlos gemeinsam im Schatten der neun Meter hohen israelischen Mauer bei Bil'in demonstrieren; die Mauer trennt das Dorf vom größten Teil der Äcker und Olivenhaine. Während der Demonstration am Freitag, dem 17. April, tötete eine israelische Tränengasgranate Bassem Ibrahim Abu Rahmeh (29), Mitglied des so geehrten Bürgerkomitees von Bil'in.

Nach Angaben der Internationalen Liga für Menschenrechte sind bereits 18 Palästinenser , davon zehn Minderjährige, bei gewaltfreien Protesten gegen die Mauer von israelischen Streitkräften getötet worden.