Unrechtsstaat?

Jeder agiert auf dem Niveau seiner Unwilligkeit, unbequeme Wahrheiten zu ertragen.
Das ist ein Menschenrecht, wenn auch kein im Grundgesetz kodifiziertes.
Dieses Recht gilt für alle, selbstverständlich auch für Angela Merkel.
Daß ihr zur DDR nichts anderes einfällt als Unrechtsstaat, zeigt, wie sehr
diese Frau nicht zuletzt Kind der unangenehmeren Seiten der DDR ist: die ideologische
Leerformel als Ersatz für eine selbstverantwortete Weltanschauung.
Eine Anfrage beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages erbrachte
eine nicht ganz überraschende Antwort: Unrechtsstaat sei kein juristischer Begriff,
sondern eine wissenschaftlich nicht erklärbare Vokabel aus dem politischen
Raum – also eine undefinierte Formulierung, unter der jeder verstehen
darf, was er mag.


Wer sagt, ein Regime sei ein Unrechtsstaat, sagt, streng genommen: nichts –
was in den neoliberalen Diskursen, die jetzige Krise hat es auch für den Letzten
offenbart, ohnehin eher die Regel denn die Ausnahme ist. Angela Merkel
»argumentiert« also regelkonform.Der Staat der DDR war ein Zwitterwesen: ein Doppelstaat. Normenstaat und Maßnahmestaat in einem, in seiner Praxis oft beides.
Das Recht war sehr übersichtlich und zumeist bürgerfreundlich formuliert,
garantierte soziale Freiheiten und wurde zumeist unbürokratisch gehandhabt.
Allerdings war der Schutz des einzelnen vor der Willkür des Staates – das signifikanteste
Merkmal der Ablösung feudaler Herrschaft (»L’Etat c’est moi«) durch den bürgerlichen Rechtsstaat – nicht verbürgt. Verwaltungsgerichte, die diesen Schutz durchzusetzen haben, waren seit 1960 zwar mehrfach angekündigt,aber nie gegründet worden. Das einzige nach dem Krieg entstandene Verwaltungsgericht, das des Landes Thüringen, wurde gleich nach Gründung der DDR aufgelöst.


Dieses fehlende Widerstandsrecht bestimmte letztlich den Charakter des
Doppelstaates. Denn das geschriebene Recht wurde nur solange buchstabengetreu
angewendet, wie sich die herrschende Politbürokratie nicht angegriffen
oder in ihrer Entscheidungsfreiheit grundlegend eingeschränkt fühlte. Trat einer
dieser Fälle ein, wurde der Normenstaat suspendiert, der Maßnahmestaat – er
konnte unter sehr unterschiedlichen Masken daherkommen – setzte seine
Mühlen in Bewegung; besonders »wenn es politisch wurde«.


Auch als sich im Zuge der Entspannungspolitik die Spielräume des Maßnahmestaates,
trotz aller retardierender Momente, verengten – hier zeigte »Wandel
durch Annäherung« am spürbarsten seine Wirkung –, blieb die latente
Drohung, »Wir können auch anders«, ständig im Raum.
Am 4. Juni jährt sich zum zwanzigsten Mal das Massaker auf dem Tiananmen.
Das kafkaeske Jubelgeschrei, das die SED-Führung danach in die zerbröckelnde
Gesellschaft hineinplärren ließ, leitete, sicher anders als beabsichtigt,
das Ende des Maßnahmestaates ein – gerade weil die Drohung verstanden
wurde! Denn sie spaltete nicht nur die SED, sondern auch die Polizei, die
Staatssicherheit und das Militär – in einen terroristischen, zum Äußersten bereiten
sowie in einen schnell an Kraft und Umfang gewinnenden Flügel, der
sich innerlich von der jahrzehntelang befolgten Ultima ratio »Die Macht geben
wir nie wieder her« längst verabschiedet hatte.


Damit war die »Einheit und Reinheit«, die Grundlage dieser politbürokratischen
Herrschaft, unwiederbringlich zerstört. Binnen weniger Monate stürzten
die Gewaltigen samt ihres Maßnahmestaates in die selbst aufgerissene Kluft.
Das alles paßt natürlich nicht ins verordnete Geschichtsbild: schwarzweiß.
Selbst vor der Zulassung von Grautönen grassiert Angst. Die Gebetsformel vom
Unrechtsstaat dient als Paravan, hinter dem Geschichte versteckt wird.