Russland als Energieversorger Europas und Deutschlands

in (22.06.2009)
Russland ist neben den USA das ressourcenreichste Land der Welt und gehört bei Erdöl, Erdgas und Kohle zu den wichtigsten Förderländern.[1] Sein Exportpotenzial scheint Russland auf den ersten Blick ein höchst wirksames Druckmittel gegenüber anderen Staaten in die Hand zu geben. Vor allem in den östlichen Mitgliedsländern der EU spricht man von einer gefährlichen Energieabhängigkeit. Manche westlichen Beobachter meinen, dassRussland künftig als Energiegroßmacht eine neue Rolle in der Weltpolitik spielen und das russische Imperium in neuer Gestalt wieder auferstehen werde. Russland könnte zu diesem Zweck die GUS-Staaten wieder unter seine Kontrolle bringen, sich von Europa abwenden und mit China ein strategisches Bündnis eingehen. Die Energiesicherheit der von Russlands Energielieferungen abhängigen Länder wäre bedroht. Europa müsste mit den USA und Asien um Russlands Energieressourcen konkurrieren und könnte dabei unterliegen.[2] Wie steht es nun um diese Einschätzungen in der Realität?

Verfehlte Abhängigkeitsdiskussion

Bei diesen Positionen werden wichtige Faktoren übersehen. Erstens sind Lieferbeziehungen keine einseitige Angelegenheit, denn Russlands Unternehmen sind ihrerseits auf die Absatzmärkte angewiesen und können ihre wichtigsten Kunden nicht ohne Weiteres verprellen. Zweitens sind die meisten Abnehmerstaaten für russische Energieexporte auch Transitländer und haben gegenüber Russland dadurch ebenfalls ein Druckmittel – die Gasstreitigkeiten Anfang 2006 und Anfang 2009 zwischen der Ukraine und Russland zeigten die begrenzten Handlungsmöglichkeiten beider Kontrahenten auf. Drittens sind an den Energieexporten mehrere Akteure beteiligt und interessiert (große und kleine Unternehmen, Pipeline- und Transportgesellschaften, staatliche und private, darunter auch ausländische Eigentümer), weswegen eine einheitliche staatliche Strategie gegenüber einem bestimmten Land nur schwer durchsetzbar wäre. Entscheidend für die Beurteilung des russischen Spielraums sind die vorhandenen Wahlmöglichkeiten. Für Russland gilt, dass es zum Energieträgerexport grundsätzlich keine Alternativen hat, da seine Wirtschaft auf die entsprechenden Deviseneinnahmen angewiesen ist und einflussreiche Akteure an einer Fortsetzung der einträglichen Wirtschaftsbeziehungen ein großes Interesse haben.

Auch bei der Wahl seiner Partner ist Russland keineswegs frei. Der Hauptabsatzmarkt für sein Erdgas und Erdöl ist Europa, wohin gegenwärtig rund 90 Prozent der Energieträgerexporte gehen. Bei Erdgas sind die Lieferbeziehungen bis auf weiteres (d.h. bis zur weitgehenden Ersetzung des Pipelinetransports durch Flüssiggastransport, was noch Jahrzehnte dauern wird) durch das bestehende Pipelinenetz festgelegt, dass in Westrichtung von rund 200 Mrd. m³ im Jahr 2008 bis 2020 voraussichtlich auf rund 300 Mrd. m³ erweitert werden wird. Die Exporte in Ostrichtung sollen teilweise aus den Öl- und Gasvorkommen Ostsibiriens und des Fernen Ostens gespeist werden. Zum Teil sollen allerdings auch die westsibirischen Felder für die Exporte Richtung China und Japan herangezogen werden. Erst dann ergibt sich für die russische Exportpolitik in Zukunft ein gewisser Handlungsspielraum – Gasmengen können entweder nach Europa oder nach Ost- und Südostasien geleitet werden. Dieser darf aber nicht überschätzt werden. Die Exportkapazitäten Richtung Osten, also nach China und an die Pazifikküste, müssen erst neu aufgebaut werden und dürften ab 2020 künftig maximal 20 Prozent der gesamten Gasexportkapazität von 400 Mrd. m³ betragen.

Europa wird daher auch in Zukunft der dominierende Markt für russische Energieträgerexporte bleiben. Nicht nur die Pipelinekapazitäten setzen ihm Grenzen, sondern Russland begibt sich mit seinen Exporten Richtung Osten auch in Konkurrenz zu den zentralasiatischen Staaten Kasachstan und Turkmenistan, die wegen geringerer Transport und Förderkosten im Vorteil sind. Daher werden die östlichen Märkte für Russland keine dem europäischen Markt überlegene Alternative darstellen. Bei Erdöl sind der Weltmarkt bzw. internationale Unternehmen die Abnehmer, was einer außenpolitischen Instrumentalisierung praktisch keinen Spielraum gibt.

Schreckgespenst Verwundbarkeit

Energieträgerexporte bzw. deren Unterbrechung sind als außenpolitisches Druckmittel nur dann geeignet, wenn erstens die Menge gering ist, damit sie für die eigene Exportwirtschaft nicht sehr ins Gewicht fällt, zweitens das Abnehmerland aus geografischen Gründen keine oder nur geringe alternative Versorgungsmöglichkeiten hat und es drittens als Transitland entbehrlich ist. Damit eröffnen sich entsprechende Möglichkeiten für Russland praktisch nur gegenüber den baltischen Staaten und gegenüber Armenien, Georgien und Moldawien. Das Baltikum könnte im Rahmen eines Verbundsystems auch durch noch zu bauende Öl- und Gaspipelines aus Polen versorgt werden. Georgien und Armenien sehen sich bereits nach alternativen Lieferanten wie dem Iran um. Die Ukraine und Belarus haben als Transitländer für russisches Erdöl und Erdgas eine starke Verhandlungsposition. Andere mittelasiatische GUS-Staaten wie Aserbaidschan, Kasachstan und Usbekistan sind entweder Selbstversorger bzw. selbst Exporteure von Energieträgern oder können wie Kirgisistan und Tadschikistan von benachbarten GUS-Staaten mitversorgt werden. Länder wie Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Türkei, Griechenland,

Deutschland und andere EU-Staaten beziehen zwar einen erheblichen Anteil ihres Erdgases und Erdöls aus Russland, jedoch könnte Russland ihnen gegenüber seine Energieträgerexporte nicht wirklich als außenpolitisches Druckmittel einsetzen, weil diese sich dann nach anderen Lieferanten umsehen werden.

Das in den Diskussionen über die europäische Energiesicherheit hochgespielte Problem der „Gasabhängigkeit“ von Russland erweist sich bei Berücksichtigung der vorhandenen gegenseitigen Abhängigkeiten und Begrenzungen als Scheinproblem. Die in den EU-Dokumenten zum Ausdruck kommende explizite Ausrichtung der EU-Energieaußenpolitik auf die Verringerung des Einflusses Russlands ist daher unbegründet, hat keine Erfolgsaussichten und sorgt dort nur für ein Klima des Misstrauens.[3] Die von Monaghan beschriebene Falle der sich zwischen der EU und Russland gegenseitig verstärkendennegativen Perzeptionen ist bereits zugeschnappt.[4]

Popanz „Gas-Opec“

Äußerungen des iranischen wie des russischen Präsidenten bzw. Ministerpräsidenten über die Möglichkeit eines OPEC-ähnlichen Gaskartells haben die Öffentlichkeit in den Verbraucherstaaten aufgeschreckt und auch bei den EU-Instanzen Besorgnis ausgelöst. Auch das bislang bedeutungslose „Forum Gas exportierender Staaten“ (Gas Exporting Countries Forum, GECF) hat durch Verlautbarungen über eine künftige engere Abstimmung diese Befürchtungen verstärkt. Für die Wirksamkeit eines OPEC-ähnlichen Gaskartells müssten aber die Mitglieder ihre Förderung gemäß gemeinsamer Absprache variieren, um so den Gaspreis zu beeinflussen. Wie bei allen Kartellen bzw. Absprachen dieser Art hätten die Abnehmer eine absichtliche Angebotsverknappung zu befürchten, die den Zweck hätte, den Preis zu stabilisieren bzw. zu erhöhen. Der Gaspreis ist in langfristigen Verträgen an Indizes gekoppelt, die im Wesentlichen den Weltmarkt-Ölpreis wiedergeben. Damit ist den Gaslieferanten wie auch den Gaskonsumenten das Preisinstrument als strategischer Parameter entzogen. Ein Preiskartell nach dem Muster der OPEC wäre daher nur bei Aufkündigung des geltenden Systems der Langzeitverträge mit ihrer Preisbindung möglich, was keiner der großen Gasexporteure in Betracht zieht. Und ob selbst dann eine Kartellvereinbarung zwischen den Unternehmen in den für Europa wichtigen Lieferländern Russland, Algerien und Katar zustande käme, ist angesichts der unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Interessen äußerst zweifelhaft.[5]

Vermeintlicher Ausweg Diversifizierung

Grundsätzlich erhöht eine fortschreitende räumliche Diversifizierung der Erdgasbezüge zwar die Versorgungssicherheit, weil zusätzliche Lieferanten ins Spiel kommen können, die das Gasangebot erhöhen, und weil Alternativen zur Verfügung stehen, falls Gasfernleitungen aus technischen oder politischen Gründen unterbrochen werden. Zu fragen ist aber, wie hoch die Liefersicherheit der alten und neuen Anbieter einzuschätzen ist und welche Sicherheitsbedenken die zu ihnen führenden Transportkorridore aufwerfen. Über alle Zweifel erhaben sind nur die Importe aus Norwegen in die EU, die aber den Zusatzbedarf nicht voll befriedigen können. Russlands langfristige Lieferfähigkeit steht unter dem Vorbehalt der zügigen Erschließung der riesigen Gasvorkommen auf der Jamal-Halbinsel und in der Barentssee. Noch nicht klar erkennbar ist, ob und wie sich das Tauen des Permafrostbodens auf die Förder- und Transporteinrichtungen im Hohen Norden auswirken wird.[6]

Davon abgesehen könnten noch für einige Zeit, so lange die durch die Ostsee und das Schwarze Meer führenden Offshore-Gaspipelines (auf Hochsee; North-Stream und South-Stream) nicht gebaut sind, Auseinandersetzungen über den Gaspreis für die Inlandsversorgung der Transitstaaten Belarus und Ukraine immer wieder zu kurzfristigen Störungen des Gastransits führen. Transitprobleme treten bei den Gaslieferungen aus Nordafrika, die über Unterwasserpipelines durch das Mittelmeer erfolgen, nicht auf. Außerdem erscheint auch das Angebotspotential gesichert. Dagegen bieten die Lieferanten aus dem Kaspischen Raum und dem Iran nur begrenzte Sicherheit, da einerseits die Liefermengen langfristig nicht garantiert sind und außerdem manche der benötigten Transitstaaten Anlass zur Sorge geben.



Nabucco ist keine Alternative

Das als Alternative zu Erdgaslieferungen aus Russland von der EU in den Vordergrund gespielte Projekt eines südlichen Gastransportkorridors (Nabucco-Pipeline) ist für diesen Zweck von vornherein nicht geeignet, weil es mit 30 Mrd. m³ pro Jahr keine entsprechend große Kapazität aufweist, um Gasimporte aus Russland von 150 bis 200 Mrd. m³ pro Jahr zu ersetzen.

Ungeklärt ist neben der Frage der Belieferung dieser Pipeline auch noch die Rolle der Türkei, die sich nicht nur als Transitland zur Verfügung stellen, sondern als selbstständiges Verteilerzentrum von Erdgas auftreten will. Ein sicherer, aber nicht ausreichender Lieferant wird Aserbaidschan werden, das bereits über eine Pipeline (South-Caucasus-Pipeline oder Baku-Tbilisi-Erzerum- Pipeline) nach dem osttürkischen Erzerum verfügt, deren Kapazität im Endausbau 20 Mrd. m³ betragen soll.

Ob bzw. wann und wie viel Erdgas Turkmenistan, der Iran und der Irak über Pipelines nach Europa liefern werden, ist dagegen noch nicht abzusehen. Turkmenistan steht außer dem europäischen der russische und chinesische Markt offen; Iran, Irak und Katar werden möglicherweise vor allem Flüssiggas auf den Weltmarkt exportieren wollen. Gasimporte aus dem Kaspischen Raum werden, falls sie zustande kommen, kaum die europäische Gasversorgung verbessern, sondern in erster Linie russische Erdgastransporte durch die Ukraine ersetzen und dadurch die ökonomische Verhandlungsposition der Ukraine als Transitland schwächen. Während die Pipelineprojekte russischer und europäischer Unternehmen in der Publizistik und auch vom EU-Parlament ohne überzeugende Begründung als politisch gesteuert bezeichnet werden (Gaspipelines North-Stream und South-Stream), wird umgekehrt die Nabucco-Gaspipeline zum erstrangigen Projekt der EU-Politik erhoben und damit selbst politisiert.[7]

Lösung Energiechartavertrag?

Zur Lösung vieler Probleme in den internationalen Energiebeziehungen wird von europäischer Seite auf den Energiechartavertrag verwiesen, der aus der 1991 verabschiedeten Energiecharta entstanden ist.[8] Der Energiechartavertrag soll keine nationale Energiepolitik ersetzen. Die nationale Souveränität eines ihm beitretenden Landes über seine Energieressourcen soll gewahrt bleiben. Dies schließt ein, dass Fördergebiete und Energieunternehmen in staatlichem Eigentum bleiben können. Als überragendes Ziel des Energiechartaprozesses bzw. des Energiechartavertrags kann vormals staatlich regulierten Energiesektoren der osteuropäischen und postsowjetischen Volkswirtschaften und damit die Herstellung eines gesamteuropäischen Energiemarkts verstehen, der die bestmögliche Verwertung des Ressourcenpotenzials ermöglicht. Dies beinhaltet die Gleichbehandlung (Nichtdiskriminierung) nicht nur von Handelspartnern, sondern auch von Investoren. Russland hat den Energiechartavertrag bis 2008, also 14 Jahre nach der Unterzeichnung im Jahr 1994, immer noch nicht ratifiziert, obwohl das Ratifizierungsverfahren bereits 1996 begonnen wurde. Es will ihn allerdings „provisorisch“ soweit anwenden, als dies mit den russischen Gesetzen vereinbar ist. Daneben fehlt auch noch die Ratifizierung durch die Unterzeichnerstaaten Australien, Norwegen, Island und Belarus, während die USA und Kanada die Unterzeichnung des Energiechartavertrags komplett verweigert hatten.

Sehr rasch zeigte sich, dass die Interessen der europäischen Länder, die überwiegend Nettoenergieimporteure sind, mit den – wahren oder auch nur eingebildeten – Interessen Russlands als dem hauptsächlichen Exporteur von Energieträgern nicht problemlos unter einen Hut zu bringen waren. In Russland befürchten breite Kreise den „Ausverkauf“ der Reichtümer des Landes und eine Besitzergreifung durch westliche Konzerne.

Man glaubt nicht, dass die durch den Energiechartavertrag angestrebte marktwirtschaftliche Grundverfassung im Energiebereich wirklich zum beiderseitigen Vorteil geraten würde. Insbesondere gibt es erhebliche Vorbehalte dagegen, in- und ausländische Unternehmen bei der Erteilung von Förderlizenzen und beim Zugang zum Pipelinenetz gleichzubehandeln. Während für eine Ratifizierung des Energiechartavertrages durch Russland im Verlauf der rund zehnjährigen Verhandlungen durchaus Chancen gesehen wurden, hat sich die ablehnende Haltung Russlands, nicht zuletzt unter dem steigenden Einfluss Gazproms auf den Kreml seit Putins Amtsantritt, zunehmend verhärtet. Gazprom macht unter anderem geltend, dass durch den Energiechartavertrag und sein Transitprotokoll die zentralasiatischen Gasexporteure leichten Zugang zum russischen Gasnetz erhielten und dadurch seine Exporte nach Europa sowie das gesamte System der langfristigen Lieferverträge mit den europäischen Kunden gefährdet wären.[9] Es geht außerdem darum, zu welchen Bedingungen zentralasiatische GUS-Staaten ihr Erdgas durch russische Pipelines auf den europäischen Markt leiten könnten. Nach Ansicht der russischen Opponenten des Transitprotokolls müssten diesen Staaten bzw. den dort ansässigen ausländischen Konzernen die niedrigen russischen Binnentarife angeboten werden, wodurch sie russisches Gas aus Sibirien preislich unterbieten könnten. Russland sieht sich in seiner ablehnenden Haltung dadurch bestärkt, dass große Energieexporteure wie Norwegen und Australien den Energiechartavertrag ebenfalls nicht ratifiziert bzw. wie die USA nicht einmal unterzeichnet haben.

Die russische Haltung wird auch dadurch beeinflusst, dass für die Ratifikation des Energiechartavertrags keine Gegenleistung der EU erkennbar ist, wie sie für Russlands Zustimmung zum Kyoto-Protokoll durch das Entgegenkommen der EU in den WTO-Verhandlungen gegeben war. Russlands Teilnahme an internationalen Regelungen wie dem Energiechartavertrag kann erst dann erwartet werden, wenn zwischen der EU und Russland eine neue Vertrauensbasis geschaffen ist. Dafür sind vertrauensbildende Maßnahmen notwendig, wie z. B. eine objektive und nicht wie bislang überwiegend politisch geprägte Bewertung der Ostsee-Gaspipeline (North-Stream) durch die der EU angehörenden Ostsee-Anrainerstaaten.[10]

 

Grenzen der Energieaußenpolitik

In der EU-Öffentlichkeit wird regelmäßig ein selbstbewusster Umgang mit Russland eingefordert und im Energiebereich das „Sprechen mit einer Stimme“ verlangt. Dabei wird aber nicht berücksichtigt, dass die großen EU-Staaten aus vielen Gründen eine „spezielle Beziehung“ mit Russland pflegen wollen. Als Beispiel für den Umgang mit der „Energiesupermacht“ Russland kann die deutsche Russlandpolitik dienen. Einerseits betont das offizielle Berlin die guten und ausbaufähigen Beziehungen zu Russland, die man in Richtung einer strategischen Partnerschaft entwickeln möchte. Andererseits wurde und wird von verschiedenen Gruppierungen, am vernehmlichsten von der jeweiligen Opposition, aber auch innerhalb der Regierungsparteien und in den Medien oft Kritik an Russland geübt. Die Hauptthemen sind dabei der Tschetschenienkrieg, die autoritären Verhältnisse unter Putin sowie der Umgang Russlands mit seinen GUS-Nachbarn. Diese Muster einer russlandkritisch auftretenden Gesellschaft und Opposition, die die jeweilige Regierung wegen ihrer zu weit gehenden Russlandfreundlichkeit anprangert, lässt sich seit den 1990er Jahren über alle Legislaturperioden und Regierungskonstellationen hinweg beobachten. Für die deutsche, wenn nicht die westliche Diskussion überhaupt, ist überdies eine erhebliche Differenz zwischen „russlandkritischer“ öffentlicher Meinung und „russlandfreundlichen“ öffentlichen Stellungnahmen der Geschäftswelt zu konstatieren. Die vergleichsweise geringe Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland (gemessen an Verhältnissen in osteuropäischen Ländern) wird teilweise dramatisiert, teilweise als Zwang zur Kooperation mit Russland, „koste was es wolle“, aufgefasst. Bei nüchterner Betrachtung besitzt Russland jedoch gegenüber seinem größten Handelspartner Deutschland kein Erpressungspotenzial, wie umgekehrt auch Deutschland auf zumindest pragmatisch positive Beziehungen zu Russland angewiesen ist.

Die EU hat in den Verhandlungen mit Russland über den WTO-Beitritt sehr zurückhaltend taktiert und ihre Verhandlungsmacht nicht ausgespielt. Dies dürfte nicht auf übergroßen Respekt vor der „Energiesupermacht“ Russland zurückzuführen sein, sondern in erster Linie auf die wenig effektive Verhandlungsstrategie der EU, die Russlands Zustimmung zum Kyoto-Protokoll allen anderen Zielen, darunter auch der Ratifizierung des Energiechartavertrags, überordnete. Die EU-Kommission plant Energieaußenpolitik gegenüber Russland, führt den EU-Russland-Energiedialog und beabsichtigt die Neufassung des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens mit Russland mit unterschiedlichen Zielrichtungen. Während die Konzeption einer Energieaußenpolitik von Misstrauen gegenüber Russland gespeist wird, betont man im Energiedialog die Kooperationsmöglichkeiten und gemeinsamen Ziele, die auch dem Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zugrunde liegen sollen. Dadurch werden auch die Verhandlungen über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der EU mit Russland belastet. Die gegen Russland gerichtete Energieaußenpolitik der EU geht zudem in der Ukraine, im Südkaukasus und in Zentralasien mit einer US-amerikanischen Geopolitik konform, die aus weltpolitischen Gründen und einer aus berechtigter Enttäuschung über Russlands Entwicklung unter Putin (Tschetschenienkrieg, Chodorkowski) gespeisten Aversion gegenüber Russland auf Eindämmung des russischen Einflusses zielt. Sie wird als selbstständiger europäischer Ansatz dadurch unglaubwürdig. Die Möglichkeiten einer konstruktiven Energieaußenpolitik der EU, die statt konfrontativen geopolitischen Strategien gemeinsame Anliegen wie Energieeffizienz und Klimaschutz und damit eine Modernisierungspartnerschaft, wie sie der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier wünscht, in den Vordergrund stellt, werden zu wenig genutzt.

Der Versuch, unter dem Mantel einer „gemeinsamen Energieaußenpolitik“ die Mitgliedsländer dazu zu bewegen, Kompetenzen in der Energie-, Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend an die EU zu delegieren, könnte diese eher spalten als vereinen. Somit muss sich Europa aber darüber klar werden, welche Richtung sie in ihren Verhandlungen mit Russland einschlagen will, wenn diese sich nicht gegenseitig blockieren und fruchtlos bleiben sollen.

Die zwischen den EU-Staaten bestehenden unterschiedlichen Ausprägungen ihrer Energiewirtschaften und außenpolitischen Beziehungen können nicht eingeebnet werden, indem unbegründete Gefährdungen vorgebracht und daraus resultierende zweifelhafte Strategien vorgeschrieben werden.[11] Die Ankündigung einer Energieaußenpolitik seitens der EU weckt Erwartungen, denen sie angesichts ihrer begrenzten Kompetenzen und divergierenden Interessen nicht gerecht werden kann.[12] Das explizit gegenüber Russland eingeforderte „Sprechen mit einer Stimme“ und das politisch motivierte Vorantreiben einer von Russland möglichst unabhängigen Energieversorgung werden nicht nur erfolglos bleiben, sondern auch den Aufbau eines partnerschaftlichen Verhältnisses Europas zu Russland erschweren.



[1] Vgl. Götz, Roland (2007): Russland und die Energieversorgung Europas, in: Kleinwächter, Lutz (Hrsg.): Deutsche Energiepolitik, Potsdam, Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, (Internationale Probleme und Perspektiven 16), S. 38-47.

[2] Vgl. Rahr, Alexander (2006), Die neue OPEC. Wie Russland zur globalen Energie-Supermacht werden will, in: Internationale Politik 61 (2), S. 15-23, http://www.internationalepolitik.de/archiv/2006/februar2006/ (03.03.2009).

[3] Exemplarisch die Meinung des Vorsitzenden des auswärtigen Ausschusses der russischen Staatsduma: Kosachev, Konstantin (2008): Do We Have a Shared Future in Energy? In: Barysch, Katinka (Hrsg.): Pipelines, Politics and Power. The future of EU-Russia energy relations, London, Centre for European Reform, S. 45-52, http://www.cer.org.uk/pdf/rp_851.pdf (03.03.2009).

[4] Vgl. Monaghan, Andrew (2006): Russia-EU Relations. An Emerging Security Dilemma, in: Pro et Contra 10 (2-3), http://www.carnegie.ru/en/pubs/procontra/vol10num2-3-full.pdf (03.03.2009).

[5] Vgl. Goldthau, Andreas (2007): Gasproduzenten rücken zusammen. Der GECF-Gipfel in Katar und die Erfolgsaussichten einer „Gas-OPEC“, Berlin, Stiftung Wissenschaft und Politik, (SWP-Aktuell 26/2007).

[6] Vgl. Götz, Roland (2006): Russland und der europäische Erdgasmarkt. Vermeintliche und wirkliche Bedrohungen, Berlin, Stiftung Wissenschaft und Politik, (SWP-Aktuell 58/2006).


[7] Vgl. European Parliament (2008): Environmental Impact of the Panned Gas Pipeline in the Baltic Sea, Resolution vom 8. 7. 2008, http://www.europarl.europa.eu/oeil/file.jsp?id=5484682 (03.03.2009).

[8] Vgl. Webseite des Energiechartasekretariats in Brüssel: http://www.encharter.org.

[9] Vgl. Mikulčak, Katharina (2006): Russland und der Vertrag über die Energiecharta. Positionen, Probleme, Perspektiven, in: Osteuropa Wirtschaft 51 (3-4), S. 255.

[10] Vgl. Lamp, Jochen (2008): Die Ostseepipeline. Ein transnationales Infrastrukturprojekt als Prüfstein internationaler Umweltstandards, in: Osteuropa 58 (4-5), S. 383-392.

[11] Vgl. Linde, Coby van der (2008): Turning a Weakness into a Strength. A Smart External Energy Policy for Europe, Paris, S. 42, http://www.ifri.org/files/Energie/vanderLindeok.pdf (03.03.2009).

[12] Vgl. Geden, Oliver (2008): Die Energie- und Klimapolitik der EU. Zwischen Implementierung und strategischer Neuorientierung, in: Integration 31 (4), S. 353-364, hier S. 361, http://www.iep-berlin.de/ (03.03.2009).