Ein Land am Abgrund

in (12.08.2009)

Pakistans Armee hat im Nordwesten des Landes eine Großoffensive gestartet - kurz nachdem eine Bewegung von unten der Regierung eine herbe Niederlage zugefügt hatte. Stefan Bornost schildert die Ereignisse. 

Mindora im Nordwesten Pakistans war einmal eine lebendige Stadt mit 300.000 Einwohnern. Jetzt ist sie, so die pakistanische Zeitung Dawn, »still wie ein Grab. Die Märkte sind verlassen, die Häuser tragen die Spuren von schwerem Beschuss«. Mindoras Einwohner sind geflohen - und nicht nur sie. Seit Pakistans Präsident Asif Ali Zardari am 5. Mai den Angriff auf die islamistischen Gruppen im Nordwestterritorium Pakistans befohlen hat, haben 2,5 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Das ist die größte Massenflucht seit dem Völkermord in Ruanda vor 15 Jahren.

Die planmäßige Entvölkerung ganzer Gebiete gehört zur Strategie der Regierung in Islamabad. Flucht und Vertreibung werden durch Evakuierungsbefehle, das Sperren von Strom und Gas, Ausgangsverbot rund um die Uhr und schließlich durch massive Luftangriffe auf Dörfer und Stadtteile forciert.
Die Offensive der pakistanischen Armee ist direkt auf Druck aus Washington zurückzuführen. Barack Obama hatte die Regierung Zardari öffentlich dafür kritisiert, nicht hart genug gegen Islamisten durchzugreifen. Schon seit 2002 bombardiert die US-Armee neben Afghanistan auch Ziele in Pakistan. Bei diesen Angriffen wurden viele Zivilisten getötet, was den islamistischen Gruppen immer wieder neue Rekruten zutrieb.

Auch die diversen Einsätze der pakistanischen Armee in den letzten Jahren haben den Widerstand gestärkt. Diese fanden ihren Höhepunkt im August 2008 in der nur wenige Autostunden von der Hauptstadt Islamabad entfernten Swat-Region, die bis dahin hauptsächlich wegen ihrer Schönheit und ihrem touristischen Wert bekannt war. Der Angriff der Armee trieb 400.000 Menschen in die Flucht. Zehntausende von ihnen landeten in Karachi, der größten Stadt des Landes. Dort beschuldigte sie der dortige Bürgermeister, die Taliban in die Stadt zu bringen. Daraufhin kam es zu Pogromen gegen die Flüchtlinge. Mehrere Dutzend Menschen wurden umgebacht.
Die Offensive vom August 2008 scheiterte und Zardari war gezwungen, eine demütigende Waffenruhe mit den Aufständischen einzugehen. Die Einwohner von Swat wurden der Herrschaft der Mullahs übergeben. Diese führten die Scharia ein und kontrollieren die Gerichte. Mädchen wurde der Zugang zum Bildungswesen verhindert, Frauen durften nicht mehr einkaufen gehen und konnten in ländlichen Gegenden nicht einmal mehr Wasser aus den Brunnen holen.

Dafür hatten die Armen auf dem Land nicht gekämpft, als sie die Führung der Taliban im Widerstand gegen die Militäroperationen der USA und der pakistanischen Regierung akzeptierten. Ihre Wut begann, sich nun gegen die Taliban zu richten. Diese Entfremdung zwischen den islamistischen Gruppen und der lokalen Bevölkerung versucht die Armee mit einer erneuten Offensive zu nutzen. Doch die Vertreibung von 2,5 Millionen Menschen und die Zerstörung ihrer Häuser und Lebensgrundlagen wird die Einwohner der Nordwestprovinzen nicht zu Freunden der Zentralregierung machen - vor allem nicht in der derzeitigen sozialen Situation: Der Krieg und die Flüchtlingskatastrophe trifft die Menschen in Pakistan in einer verzweifelten wirtschaftlichen Lage. In den vergangenen Jahren hatte das Land noch Teil am globalen Aufschwung - mit einem Wirtschaftswachstum von sieben bis acht Prozent pro Jahr. Seit Ausbruch der Krise befinden sich die Exporte im freien Fall. Die Börse ist zusammengebrochen.

160 Millionen Menschen leben in Armut, das ist ein Viertel mehr als vor fünf Jahren. Pakistan investiert lediglich 2,1 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes ins Bildungswesen. Mit diesem Anteil rangiert es weltweit unter den letzten zwölf Staaten. Mädchen sind besonders benachteiligt: Nur etwa jede dritte Frau kann lesen und schreiben. Kinderarbeit ist zwar offiziell verboten, jedoch gängige Praxis.
Um den sofortigen Staatsbankrott abzuwenden, ist der Internationale Währungsfonds mit einem Notkredit in Höhe von sieben Milliarden Dollar eingesprungen. Dass dieses Geld bei den Bedürftigen ankommt, ist unwahrscheinlich. Transparency International, eine unabhängige Forschungseinrichtung, listet Pakistan nach Nigeria als das zweitkorrupteste Land der Welt.

Wesentlich verantwortlich für diese Zustände ist die eigentliche Macht im Staate, die Armee. Das Militär ist der größte Unternehmer im Land und einer der größten Landeigner. Generäle handeln mit Immobilien und führen große Exportfirmen. Ihre Kinder gehen auf armeeeigene Schulen und spielen auf Squashplätzen, die auch schon mal mit Marmor ausgelegt sind.

Korruption und systematische Unterentwicklung sind auch ein weiterer Grund für das Erstarken islamistischer Gruppen in den nordwestlichen Provinzen. Dass eine wachsende Zahl von Kindern in Madrasas, religiösen Schulen, ausgebildet wird, zeugt nicht vom Erstarken der islamistischen Parteien, sondern von der Armut der Bevölkerung. Für sie stellen die Madrasas die einzige Möglichkeit dar, ihren Kindern zu Bildung zu verhelfen.
US-Präsident Obama hat die Offensive der pakistanischen Regierung begrüßt - ohne das Flüchtlingselend weiter zu thematisieren oder die zahllosen zivilen Opfer. Damit bestätigt er die schlimmsten Befürchtungen der internationalen Friedensbewegung: Die unter Bush angefangenen Kriege werden von der Obama-Regierung nicht beendet, sondern sie eskalieren.

Die Linke ist in Pakistan traditionell schwach, eingekeilt zwischen dem Militär und den Islamisten. Dennoch gab es in den Monaten vor der Offensive ermutigende Entwicklungen, die den Weg zu einer breiteren linken Bewegung öffnen könnten. Menschen tanzten am 16. März auf den Straßen als die Regierung die Wiedereinsetzung des Obersten Richters Iftikhar Chaudhry bekannt geben musste. Chaudhry ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit. In Pakistan gibt es keine Tradition einer unabhängigen Justiz. Deshalb hat Chaudhry viele überrascht, als er sich mit den mächtigen Geheimdiensten anlegte und Nachforschungen nach den »Verschwundenen«, von Staatsbehörden entführten Oppositionellen, anstellte. Zudem annullierte er die Privatisierung von Pakistan Steel, einer großen Staatsfirma, die zu einem lächerlichen Preis an einen Günstling des ehemaligen Präsidenten Pervez Musharraf verscherbelt worden war.

Deshalb war Chaudhry ein Dorn im Auge der Regierung und wurde 2007 von Musharraf abgesetzt. Schon damals hatte sich eine starke Bewegung mit Rechtsanwälten an ihrer Spitze für Chaudhry eingesetzt. Der politische Druck war so hoch, dass der damalige Präsidentschaftskandidat Zardari die Wiedereinsetzung von Chaudhry zu einem seiner zentralen Wahlversprechen machte. Nach der Wahl wollte er davon allerdings nichts mehr wissen. Zardari gilt als einer der korruptesten Politiker Pakistans und heißt im Volksmund »Mr. zehn Prozent«, weil er bei jedem Geschäft mit abkassiert. Er hatte also gute Gründe, Chaudhry zu fürchten.
Doch Zardaris Pläne wurden von unten durchkreuzt. Woche für Woche hatten Rechtsanwälte vor den Gerichtsgebäuden Proteste organisiert. Die Aktionen sollten in einen »langen Marsch« nach Islamabad münden. Zardaris Reaktion war brutal: Die Polizei prügelte demonstrierende Rechtsanwälte und ihre Sympathisanten zusammen, Hunderte wurden eingesperrt und der Oppositionspolitiker Nawaz Sharif unter Hausarrest gestellt.

Die Reaktion der Bewegung folgte prompt: Die Hauptverkehradern im Punjab, Pakistans größter Provinz, wurden von Demonstranten mit Hilfe von großen Transportcontainern versperrt. Während so dem Militär der Weg blockiert war, machten sich Tausende aus Karachi und anderen großen Städten auf den Weg zum Obersten Gericht in Lahore. Trotz ständiger Attacken erreichten 4000 am Morgen des 15. März ihr Ziel, den zentralen Platz vor dem Gericht. Die Demonstranten konnten den Platz mehrere Stunden halten - trotz hunderter Gasgranaten und Knüppelangriffen der Polizei. Millionen saßen vor den Fernsehern und sahen die Entschlossenheit und den Mut, mit dem sich die Demonstranten für Chaudhrys Wiedereinsetzung verprügeln ließen. Am Ende des Tages war ganz Pakistan in Empörung über die Regierung vereint, führende Polizeioffiziere in Lahore traten zurück und schließlich musste Zardari nachgeben. Am Morgen des 16. März verkündete die Regierung die Rückkehr Chaudhrys auf den Posten des Obersten Richter. Dies war ein Sieg gegen das korrupte politische System und den allmächtigen Staatsapparat, den bis dahin niemand für möglich gehalten hätte. Mit diesem Rückenwind versucht die pakistanische Linke jetzt den Protest gegen den Krieg im Nordwesten zu organisieren, um die Regierung zu zwingen, aus Obamas Krieg auszusteigen. Hier liegt die Hoffnung für eine neue Linke in Pakistan

Zum Autor:
Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.