Unabhängigkeit von oben

Eine vorläufige Bilanz der postsowjetischen Systemtransformation in Zentralasien (in iz3w 314 - Sept./Okt. 2009)

Der Begriff Zentralasien ist alles andere als eindeutig. In unterschiedlichen Kontexten und Epochen beinhaltet der Begriff auch die chinesischen Provinzen Xinjiang und Tibet, die Mongolei und Nordafghanistan, während Kasachstan nicht immer einbezogen wird. Heute werden als Zentralasien zumeist Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan bezeichnet. Diese fünf Länder zeichnen sich durch die gemeinsame Geschichte als russische Kolonien und Nachfolgestaaten der Sowjetunion aus. Sie unterscheiden sich darin deutlich von ihren Nachbarregionen.

Neben den historisch gewachsenen Gemeinsamkeiten gibt es jedoch gravierende Unterschiede. Keines der Länder hatte einen Vorgänger im Sinne eines Nationalstaats. Ein historisches Usbekistan oder Kasachstan hat es nie gegeben. Bis zur Erschließung des Seewegs aus Europa nach Indien war die Seidenstraße eine der wichtigsten Handelsrouten der Welt. Die Oasen Zentralasiens waren ein wichtiger kultureller Umschlagplatz und eines der Zentren der islamischen Welt. Mit dem Verschwinden der Karawanen erlebte die Region für einige Jahrhunderte relativen Stillstand. Erst mit der Eroberung der Region durch das Zarenreich – große Teile des heutigen Kasachstans im Laufe des 18. Jahrhunderts, die südlichen Gebiete Zentralasiens bis Ende des 19. Jahrhunderts – kam es über die Anbindung an Russland zu einer Öffnung. Handel und vor allem der Austausch mit den anderen muslimischen Bevölkerungen des Russischen Reiches führten Ende des 19. Jahrhunderts zum Aufkommen einer Modernisierungsbewegung.

Die feudalstaatlichen Khanate Buchara, Kokand und Khiva, die von den zaristischen Truppen nach und nach erobert wurden, waren nach außen und innen schwach. Die Khane und Emire hatten kaum eigene Macht und waren auf starke regionale Machthaber in den Städten sowie auf Führer nomadischer Stammesverbände angewiesen. Die Grenzen der Khanate waren weder fest noch beständig; sie entsprachen nicht dem heutigen Grenzverlauf.

 

Die Schaffung ethnischer Identitäten

Die Bevölkerung Zentralasiens war sehr heterogen: Die sesshafte Bevölkerung der Oasen entlang der Flüsse Amudarja, Syrdarja und Serafschan lebte von Landwirtschaft oder ging städtischen Berufen nach. Große Bevölkerungsteile waren bilingual, verbreitet waren verschiedene Turksprachen ebenso wie Persisch. Hinzu kamen zahlreiche Nomadengruppen: Die Wüsten im Südwesten waren von turkmenischen Stämmen besiedelt, die weiten flachen Steppen nördlich der Oasen und des Tian-Shan-Gebirges von kasachischen Gruppen, und in den Hochgebirgen züchteten kirgisische Stämme Vieh. Die Identität der Nomaden war tribal geprägt. Die sesshafte Bevölkerung identifizierte sich über ihren Wohnort, nationale oder ethnische Identitäten gab es kaum. Die wesentliche überregionale Identität all dieser Gruppen war die als Muslime Zentralasiens.

Die von den russischen Eroberern entsandten Ethnologen versuchten, die Bevölkerung Zentralasiens nach ihren mitgebrachten ethnischen Kriterien zu kategorisieren und schufen so erstmals einen Ansatz für eine ethnische Einteilung der Bevölkerung. Gleichzeitig orientierten lokale Reformer, die ihre Region als extrem rückständig empfanden, ihre Modernisierungsbestrebungen an europäischen und türkischen Nationalisten, wodurch auch von dieser Seite der Nationsbegriff nach Zentralasien kam.

Nach der Oktoberrevolution bemühten sich die Bolschewiki um eine begrenzte Dekolonialisierung, auch wenn sie Zentralasien durchaus nicht hergeben wollten. Die Politik der korenizacija (russ.: Indigenisierung) sah vor, die Macht zur Schaffung des homo sovieticus nach und nach in die Hände einer ethnisch definierten lokalen Bevölkerung zu übergeben. Auch aus Angst vor einem Panturkismus der Muslime Zentralasiens und der Tataren wurde die Region 1924 aufgeteilt. Bis 1936 wurden die heutigen Staaten als Sowjetrepubliken mit Unionsstatus etabliert. Die kasachischen, kirgisischen und turkmenischen Stammesverbände bekamen jeweils eine Republik zugeordnet. Die sesshafte turksprachige Bevölkerung wurde unter dem Ethnonym Usbeken, die persischsprachige als Tadschiken zusammengefasst.

Der Prozess der Staatsbildung war angesichts der Heterogenität der Bevölkerung und der historischen Migration extrem schwierig und in jahrelanger Arbeit entsprechender Kommissionen vorbereitet worden. So entstand eine Grenzziehung am Reißbrett, bei der z.B. die beiden wichtigsten Zentren persischer Kultur, Buchara und Samarkand, der Usbekischen SSR zugeschlagen wurden. Die zahlreichen, untereinander verständlichen Dialekte der Turksprache wurden zu den vier Nationalsprachen Kasachisch, Kirgisisch, Turkmenisch und Usbekisch ausdifferenziert. Die gemeinsame Schriftsprache aller Turkdialekte, Turki, wurde damit obsolet.

Mit den nationalen Institutionen und Eliten in den Sowjetrepubliken wurden auch die neu geschaffenen nationalen Identitäten mehr und mehr gefestigt. Die HistorikerInnen der fünf Republiken konkurrierten um die Geschichte der Region. Ganz im Sinne der sowjetischen Nationalitätenideologie, in der dasjenige Volk das größte sei, das die längste Geschichte aufweist, wurden die neuen Ethnien um tausende Jahre zurückprojiziert. Der Kampf darum, wer sich welche Herrscherdynastie und welchen Führer für die eigene glorreiche Geschichte aneignen darf, tobt noch heute zwischen den HistorikerInnen. Diese nationalen Narrative sind zudem ein wichtiges Legitimationsinstrument der autokratischen Regimes.

 

Vom Zerfall bedroht

Die Politik der korenizacija hatte dazu geführt, dass seit den 1960er Jahren in allen Republiken die Mehrheit der Parteiführung in der Hand der jeweiligen Titularnation lag. Die lokalen Kader verteilten die Ressourcen aus Moskau in ihren jeweiligen Republiken und verfügten über entsprechend große Macht. Insbesondere die Führung der Usbekischen SSR, die in den 80er Jahren mit massiven Korruptionsermittlungen aus Moskau konfrontiert war, war aber immer weniger bereit, Macht und Wohlstand mit Moskau zu teilen. Sie nutzte die Schwäche der Moskauer Zentrale während der Perestroika, um deren Einfluss zurückzudrängen und jegliche Lockerungen zu verhindern. Die Unabhängigkeitsbestrebungen kamen in Zentralasien zu einem großen Teil von oben und basierten nicht wie in den anderen Sowjetrepubliken auf breiten gesellschaftlichen Bewegungen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die staatliche Unabhängigkeit stürzten die fünf zentralasiatischen Staaten in die ökonomische Katastrophe. Für die SU war Zentralasien ein gigantisches Entwicklungsprojekt, es wurde massiv in die Infrastruktur und die Verbesserung der Lebensbedingungen investiert. Ohne die Mittel aus Moskau aber fehlte den Staaten eine wichtige Einnahmequelle. Noch gravierender wog, dass die Republiken ökonomisch und industriell Teil der sowjetischen arbeitsteiligen Produktion waren, in der fast alle industriellen Produktionsprozesse über verschiedene Republiken verteilt waren. Ohne die sowjetische Flugzeugproduktion war die Flugzeugteilefabrik in den Bergen Kirgistans ihre Lieferanten und Abnehmer los, und so erging es vielen zentralasiatischen Industriebetrieben. Es begann eine Zeit von Absturz, Hyperinflation und Deindustrialisierung, von der sich die Region bis heute nicht erholt hat.

Zwanzig Jahre nach Ende der SU ist – bis auf die punktuell mit westlicher Hilfe erneuerte Infrastruktur – vieles vom Zerfall bedroht. Straßen, Kraftwerke, Stromnetze und Wasserversorgung sind marode. Die Gesundheitssysteme sind in erbärmlichem Zustand, behandelt wird nur, wer zahlt. Die Regierungen der fünf Republiken sind unwillig und unfähig zur Kooperation, so dass selbst regionale Wirtschaftsbeziehungen zusammengebrochen sind. Die Ränder des Ferganabeckens etwa, einer eng verflochtenen, dicht besiedelten Region im Herzen Zentralasiens, gehören zu Kirgistan, das Zentrum zu Usbekistan und der Ausgang zu Tadschikistan. Usbekistan hat jedoch die Grenzen immer weiter geschlossen, so dass selbst der Besuch von Verwandten ein paar Kilometer weiter oder der Basarbesuch kompliziert oder unmöglich sind.

Durch den wirtschaftlichen Einbruch fanden sich die leidlich wohlhabenden SowjetbürgerInnen Zentralasiens innerhalb weniger Jahre in Gesellschaften mit großer sozialer Ungleichheit wieder. Viele Menschen beziehen sich daher auf die Sowjetzeit als eine Phase, in der vielleicht nicht alles optimal war, in der es ihnen aber zumindest ökonomisch so gut wie nie zuvor und seither nie mehr ging. Heute gibt es neben einer winzigen, extrem reichen Oberschicht, die vor allem in den Städten wohnt, eine schmale Schicht von Menschen, die einigermaßen auskömmlich leben können, und eine große Masse von Armen. Seit dem Zerfall der SU hat Zentralasien mehrere große Migrationswellen erlebt, in denen zunächst große Teile der slawischen Minderheiten und Hochqualifizierte ihre Länder vor allem Richtung Russland verließen, während zurzeit vor allem ungelernte Kräfte Arbeit in Russland und Kasachstan suchen.

 

Extrem autokratische Politik

Eine Gemeinsamkeit der fünf Staaten ist, dass sie sich nicht auf eine traditionelle Staatsordnung berufen können. Sie alle sind ein Produkt sowjetischer Politik, ihre Eliten stammen ebenso wie die staatlichen Institutionen zum großen Teil aus der Sowjetzeit. Diese Eliten haben sich alle für teils extrem autokratische Regierungsformen entschieden. Keines der Länder hat eine geordnete Nachfolge für den ersten Präsidenten erlebt. In Usbekistan, Kasachstan und Tadschikistan sind die Präsidenten spätestens seit Anfang der 1990er Jahre im Amt. In Turkmenistan wurde nach dem unerwarteten Tod von Saparmurat Niyazov der bis dahin unbekannte Gurbanguly Berdimuhamedov eingesetzt. Die Vertreibung von Kirgistans Präsident Askar Akaev im März 2005, der bei wütenden Protesten der Bevölkerung von ehemaligen führenden Politikern um Kurmanbek Bakiev gestürzt wurde, war für alle Regimes ein Schock.

Einzig in Kirgistan gibt es eine nennenswerte Opposition und eine ausgeprägte Protestkultur. Die Opposition setzt sich aber vorwiegend aus ehemaligen Regierungsmitgliedern zusammen und stellt kaum eine wirkliche Alternative dar.

Hier haben die Repressionen in den letzten Jahren massiv zugenommen. Turkmenistan und Usbekistan dagegen lassen nicht einmal rudimentäre Ansätze von politischer Kritik zu, während Kasachstan mit den Ölmilliarden seiner städtischen Bevölkerung bis vor kurzem ausreichend Wohlstand gewähren konnte, um eine gewisse Zufriedenheit herzustellen.

Alle Länder waren Gegenstand westlicher Demokratisierungspolitik. In allen Ländern gibt es deshalb formal alle Institutionen eines demokratischen Staats, Parlamente, Wahlen, Präsidenten, Regierungen, eine unabhängige Justiz etc.. Es blieb jedoch bei Imitationen demokratischer Institutionen, die innen nach anderen Prinzipien wie Klientelismus funktionieren. Insbesondere Usbekistan und Turkmenistan waren strikt gegen jegliche Demokratisierungsbemühungen, während sich Kirgistan und Kasachstan zunächst offen zeigten. In der Realität gibt es jedoch auch in diesen Ländern nur die Imitation demokratischer Gesellschaften, die Grundstruktur zeigt sich immer offener autoritär.

 

Mit Geld geht alles

Dramatisch ist die Lage im Bildungssystem: Zwar hat Bildung noch immer einen hohen sozialen Stellenwert, und die Alphabetisierungsrate liegt dank der sowjetischen Bildungspolitik noch immer weit über 95 Prozent. Doch insbesondere auf dem Land zerfallen Schulen so sehr, dass viele Eltern in Kirgistan ihre Kinder auf kostenlose Koranschulen oder andere Privatinstitutionen schicken. Die Bildungssysteme sind hoffnungslos unterfinanziert, wodurch es zu einem Mangel an qualifizierten Lehrkräften an Schulen wie an Hochschulen kommt. Das Bildungssystem ist durch und durch korrupt: Jede Note, jeden Abschluss kann man kaufen, und das entwertet alle Abschlüsse, auch die ehrlich erworbenen.

Korruption ist in den Gesellschaften tief verankert und ihr Ausmaß in allen Ländern extrem. Grund ist eine – teils aus der Sowjetunion geerbte – fehlende Transparenz in allen Belangen öffentlichen Handelns. Inoffizielle Zahlungen werden in allen Lebensbereichen getätigt: für den Arzt, für einen neuen Pass, für Dokumente, auch für ein Gerichtsurteil. Dabei reicht die Korruption von ganz unten bis an die politische Spitze. Jeder erwartet, für Geld alles zu bekommen und sich von jeder Tat freikaufen zu können oder für jede Amtsleistung Geld nehmen zu können. Dies wird ganz offen und ohne Scham eingefordert, und wer nicht mitmachen will, hat gute Chancen, schikaniert zu werden.

 

Literatur

- Everett-Heath, Tom (2003): Central Asia. Aspects of Transition. London, New York: Routledge Curzon

- Heinritz, Katrin (2007): »Defekte Demokratisierung« – ein Weg zur Diktatur? Turkmenistan und die Republik Sacha (Jakutien) in der Russischen Föderation nach dem Ende der Sowjetunion. Studien des Instituts für Ostrecht München 58

- Herbers, Hiltrud (2006): Postsowjetische Transformation in Tadschikistan: die Handlungsmacht der Akteure im Kontext von Landreform und Existenzsicherung. Erlangen - International Crisis Group (2009): Tajikistan: on the road to failure. ICG Asia Report 162 - International Crisis Group (2003): Youth in Central Asia: Losing the New Generation. ICG Asia Report No. 66 - Rumer, Boris, ed. (2005): Central Asia at the end of the transition. Armonk, NY [u.a.]: Sharpe

- Khalid, Adeeb (2007): Islam after communism. Religion and politics in Central Asia. Berkeley Calif.: Univ. of California Press

- Sapper, Manfred; Weichsel, Volker; Huterer, Andrea: Machtmosaik Zentralasien, Osteuropa, Heft 8-9/2007 (erhältlich bei der Bundeszentrale für politische Bildung)

Tobias Kraudzun promoviert zu Transformationsprozessen in der Peripherie des postsowjetischen Tadschikistan. Ellen Nötzel ist Medizinerin in Berlin. Yulia Schulte beschäftigt sich in ihrer Promotion mit Demokratisierungsprozessen in Kirgistan und organisiert mit Michael Schulte beim Internationalen Arbeitskreis e.V. (www.politisch-reisen.org) politische Reisen nach Kirgistan.