Das nukleare Menetekel

Am 5. Dezember 2009 endet mit dem 1994 in Kraft getretenen START-IVertrag
das erste Abkommen zur Abrüstung strategischer Nuklearwaffen mit
Reichweiten über 5 000 Kilometer und zugleich das letzte Rüstungskontrollabkommen,
das die USA und Rußland unter Dach und Fach gebracht, vertragskonform realisiert und dessen Verwirklichung sie auch im notwendigen
Umfang verifiziert haben.
START II, unterzeichnet am 3. Januar 1993, wurde von Rußland nicht
rechtskräftig ratifiziert und nach dem einseitigen Ausstieg der USA aus dem
ABM-Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme im Juni 2002 offiziell
aufgegeben, um unter anderem nicht an das darin enthaltenen Verbot von
landgestützten Interkontinentalraketen (ICBMs) mit Mehrfachsprengköpfen gebunden
zu sein. Die vereinbarten Verhandlungen über ein START-III-Abkommen
kamen gar nicht mehr zustande.
Und das sogenannte SORT-Abkommen (Strategic Offensive Reduction
Treaty) vom Mai 2002 schließlich haben zwar beide Seite ratifiziert und damit
eine Reduzierung ihrer strategischen Arsenale auf je 1700 bis 2 200 stationierte
Sprengköpfe bis Ende 2012 vereinbart. Das Abkommen enthält aber
keinerlei technologische Beschränkungen – etwa ICBM mit Mehrfachsprengköpfen
betreffend –, klammert Reservegefechtsköpfe aus, und es wurde keine
Einigung über die Verifikation nach Ablauf von START I erzielt.
Vor dem Hintergrund dieser und anderer internationalen Entwicklungen beschrieb
der amerikanische Präsident Barack Obama das nukleare Menetekel
über den Häuptern unserer und nachfolgender Generationen in seiner Rede in
Prag am 5. April zutreffend folgendermaßen: »Der Kalte Krieg ist zu Ende
gegangen. Und Tausende dieser (nuklearen – W. S.) Waffen existieren weiter.
Es ist eine seltsame Wendung der Geschichte: Die Gefahr eines weltweiten
Atomkrieges hat sich verringert, das Risiko eines atomaren Angriffs ist gestiegen.
Mehrere Nationen haben solche Waffen entwickelt, die Tests gehen
weiter, der Handel mit spaltbarem Material auf dem Schwarzmarkt blüht.«
Die Hauptverantwortlichen für diese Sachlage hat Obama in Prag allerdings
nicht benannt: die USA und Rußland, die zusammen über etwa 95 Prozent
aller Kernsprengköpfe verfügen, und die anderen Nuklearmächte der ersten
Generation – Großbritannien, Frankreich und China. Drei dieser Mächte
(USA, Sowjetunion, Großbritannien) haben der Welt zwar den Atomwaffensperrvertrag
von 1968 beschert, der das Aufkommen weiterer Nuklearmächte
verhindern sollte, und die beiden anderen sind diesem Vertrag später beigetreten,
aber alle zusammen haben sie sich viel zu inkonsequent (USA, Rußland)
oder gar nicht (die drei anderen) an die in Artikel VI verankerte, zuvorderst
für die Atommächte geltende Verpflichtung gehalten, »in redlicher Absicht
Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen
Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über
einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger
und wirksamer internationaler Kontrolle«.
Hinzu kamen laxe, wenn nicht wohlwollend ignorierende oder wirkungslose,
weil nicht gemeinsame Reaktionen des Atomclubs auf die nuklearen Ambitionen
solcher Länder wie Israel, Indien und Pakistan. Im Falle Israels hat Frankreich
– vor seinem Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag – sogar entscheidende
nukleartechnische Anlagen geliefert. Und im Falle Indiens haben die USA
praktisch die Adelung von der illegalen zur offiziellen Atommacht vollzogen.
Unter Experten ist kaum umstritten, daß all dies die nuklearen Bestrebungen
Nordkoreas und Irans zusätzlich befeuert und das internationale Atomwaffensperrvertragsregime an den Rand des Scheiterns, wenn nicht de facto
bereits darüber hinaus gebracht hat. Schon die turnusmäßige Überprüfungskonferenz
aller mittlerweile über 180 Mitgliedsstaaten im Jahre 2005 war ohne
Ergebnis zu Ende gegangen, und auch die Aussichten für die nächste Konferenz
im Frühjahr 2010 geben zur Zeit keinen Anlaß zu Optimismus.
Insofern kam Obamas Bereitschaftserklärung in Prag, »den Frieden und die
Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen anzustreben« – diesen Gedanken
hatte er im Grundsatz bereits als Präsidentschaftskandidat in seiner Berliner
Rede vom 7. Juli 2008 formuliert – im Hinblick auf das NPT-Regime eher
fünf nach als fünf vor zwölf.
Daß Obama bereit scheint, den Worten Taten folgen zu lassen, und Rußland
einem Nachfolgevertrag für START I ebenfalls grundlegend positiv gegenüber
steht, legen zumindest die zwischenzeitlich dazu begonnenen bilateralen Gespräche
nahe. Deren Ausgangspunkt ist der Status quo, der sich nach Angaben
des US-Außenministeriums – mit Stand vom 1. Januar 2009 – folgendermaßen
darstellt: Rußland verfügt noch über 814 strategische Trägerraketen
und 3 909 Gefechtsköpfe. Dem stehen auf amerikanischer Seite 1198 Raketen
und 5 576 Gefechtsköpfe gegenüber. Unter Berücksichtigung der größeren
Startmasse des russischen Arsenals betrachten Experten dieses Größenverhältnis
als gleichgewichtig, als strategische Parität.

Die Strategische Parität ist der Schlüsselbegriff aller bisherigen russischamerikanischen
Abrüstungsansätze im nuklear-strategischen Bereich. Dahinter
steht die traditionelle, symmetrieverhaftete Abschreckungslogik: Beide Seiten
verfügen über vergleichbar große beziehungsweise schlagkräftige Arsenale,
was deren Einsatz gegeneinander verhindert, ergo Krieg verhütet, solange die
Akteure rational handeln – denn unter diesen Bedingungen stirbt als zweiter,
wer als erster schießt. Der vernichtende Gegenschlag ist nicht zu verhindern.
Diese Logik war zugleich auch einer der Motoren des Wettrüstens, weil in irgendeinem
Teilbereich immer einer von beiden die Nase vorn hatte und der
andere dann »nachrüstete« – im Namen der Parität. (Teile des politisch-militärischen
Establishments der USA und der ihnen nahestehenden Think Tanks
glauben allerdings offenbar bis zum heutigen Tage, daß diese Patt-Situation
durch eine technologisch herbeizurüstende sogenannte Erstschlagskapazität –
die Fähigkeit, Rußland überraschend angreifen und sein nukleares Vergeltungspotential
komplett ausschalten zu können –, überwindbar wäre. Siehe dazu
Wolfgang Schwarz: Raketenabwehrschach, Das Blättchen, 4/2009)
Ein Paradigmenwechsel hin zu einer asymmetrischen Kriegsverhütungsabschreckung
würde völlig neue Spielräume selbst für weitreichende einseitige
Abrüstungsschritte eröffnen. Nehmen wir Rußland: 50 – und diese Zahl ist
willkürlich hoch angesetzt – landgestützte Interkontinentalraketen (ICBMs),
programmiert auf die 50 größten amerikanischen Städte, würden jede amerikanische
Regierung davon abhalten, Rußland nuklear anzugreifen. Mit weiteren
50 ICBMs gegenüber China und je zehn gegenüber Großbritannien und
Frankreich wäre eine vergleichbare Abschreckungswirkung zu erzielen. Diese
Quantitäten könnte man vorsichtshalber verdoppeln, etwa um Sicherheitsneurotikern
im eigenen Land Wind aus den Segeln zu nehmen. Fazit: Mit nicht
mehr als 240 ICBMs könnte Rußland den gesamten Club der alten Atommächte
in Schach halten, solange man dies für nötig hält. Auf den übergroßen
Rest seiner landgestützten Langstreckenraketen sowie auf sämtliche Raketen-
U-Boote und Langstreckenbomber könnte Rußland ohne Einbußen hinsichtlich
einer wirksamen Kriegsverhütungsabschreckung verzichten.
Leider ist in Moskau noch niemand auf diese Idee gekommen, obwohl der
damalige Präsident Wladimir Putin Ende der neunziger Jahre gegenüber der
Duma mit dem Argument für die Ratifizierung von SALT II geworben hatte,
Rußland könne sich die Aufrechterhaltung der strategischen Nuklearwaffenauf SALT-I-Niveau wirtschaftlich nicht leisten. Und auch von seiten der USA
ist ein derart radikaler Paradigmenwechsel nicht zu erwarten. Zwar hat Obama
in Prag zugleich auf die Notwendigkeit verwiesen, »eine Reduzierung der
Rolle der Nuklearwaffen in unserer eigenen nationalen Sicherheitsstrategie«
herbeizuführen, aber bisher gibt es keine Anhaltspunkte dafür, daß dies zu einer
Revolution im militärstrategischen Denken in den USA führen könnte.
Um so wichtiger ist es, daß beide Seiten ihre Vorstellungen über Eckpunkte
eines Start-I-Nachfolgeabkommens inzwischen präzisiert haben. Beim Besuch
Obamas in Moskau Anfang Juli kam man überein, die Anzahl der strategischen
Atomsprengköpfe in den kommenden sieben Jahren auf maximal 1675, vielleicht
sogar auf 1500 abzusenken. Bei den Trägersystemen wird eine Obergrenze
zwischen 500 und 1100 Raketen anvisiert. Die abschließende Festlegung
der Zahlen wurde an die verhandelnden Experten verwiesen. Beiden
Seiten, das hatte Obama bereits in Prag unterstrichen, sind bestrebt, zu einer
rechtsverbindlichen Übereinkunft noch in diesem Jahr zu gelangen.
Ob sich diese Eckpunkte in der bis zum 5. Dezember verbleibenden Zeit
tatsächlich bis zu einem unterschriftsreifen Abkommen ausverhandeln lassen,
wird von manchen Beobachtern, und zwar auf beiden Seiten, bezweifelt, weil
in den Details der Materie mehr als nur ein Teufel lauert. So könnte die russische
Forderung, daß die USA bindend auf die Pläne zur einseitigen Errichtung
neuer Raketenabwehrkapazitäten verzichten, zum Stolperstein werden. Sollte
Rußland diese Frage in der jetzigen Phase jedoch tatsächlich zum Junktim
aufbauen, würde dies grundsätzliche Zweifel am tatsächlichen Interesse des
Landes an weiterer strategischer Abrüstung und an einer Beibehaltung und
Stärkung des Atomwaffensperrvertrages provozieren. Mit den jetzt anvisierten
Obergrenzen nämlich wäre noch auf Jahrzehnte jedes denkbare neue Raketenabwehrsystem
eines potentiellen Angreifers überfordert, einen russischen Gegenschlag
mit Sicherheit auszuschließen. Ein Junktim ließe sich daher, wenn
überhaupt, erst in einem späteren Abrüstungsstadium rechtfertigen – und auch
dann nur, wenn die USA an ihren Plänen festhielten und die in dieser Hinsicht
von Obama während seines Besuches in Moskau erklärte Kooperationsbereitschaft
nicht praktisch einzulösen bereit wären. In Moskau hatte Obama gesagt:
»Ich will zusammen mit Rußland an einer neuen Architektur, einer neuen Konfiguration
des Raketenabwehrsystems arbeiten.«
Sollte die Zeit bis zum 5. Dezember aus anderen Gründen zu knapp werden,
bestünde immer noch die Möglichkeit, zunächst SALT I nach Artikel
XVII des Abkommens um fünf Jahre zu verlängern. Im Hinblick auf die für
2010 anstehende Atomwaffensperrvertrags-Überprüfungskonferenz wäre das
jedoch, so steht zu befürchten, nicht einmal die zweitbeste Lösung.