Globale Sozialpolitik(en)

PERIPHERIE-Stichwort

in (09.09.2009)

Sozialpolitik ist Ausdruck öffentlicher Verantwortung zur Absicherung der Lebensbedingungen, aber auch zur Angleichung der Lebenschancen angesichts sozialer Ungleichheit, die Armen1 die Grundvoraussetzungen für die Beteiligung am gesellschaftlichen Leben verweigert. Ihre moderne Form ist eng mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft verbunden. Ältere Formen waren Armenfürsorge im Mittelalter und Getreidelieferungen an die „Proletarier" im Alten Rom, eine andere Form sind mildtätige Stiftungen in islamischen Ländern. Sozialpolitik steht im Spannungsfeld zwischen ethisch-moralischen Verpflichtungen zur Unterstützung von Menschen „in Not", politischen Kompromissen zwischen organisierten Interessen einer Gesellschaft sowie dem Ziel der Wohlhabenden, ihre eigenen Privilegien durch soziale Integration abzusichern.

Zentral ist die Frage, inwieweit Sozialpolitik durch den Staat oder durch private Akteure finanziert und/oder umgesetzt wird. Im „Rheinischen Kapitalismus" (vor allem: Deutschland, Frankreich) setzte sich die Vorstellung durch, dass es Aufgabe des Staates sei, durch geeignete Regeln und Leistungen ein bestimmtes Niveau von Wohlstand zu garantieren, wobei Sozialversicherungen, meist gebunden an Erwerbsarbeit, eine zentrale Rolle zukommt. In den skandinavischen Ländern organisiert der Staat diese Leistungen weitgehend selbst, während in den angelsächsischen Modellen der privaten Absicherung sowie der Philanthropie gegenüber einer nur subsidiären Rolle des Staates eine größere Bedeutung zukommt.

Nach Ansätzen im philanthropischen Bereich sowie im Rahmen des Völkerbunds (ILO, LNHO2) erhielt internationale Sozialpolitik mit der Gründung der Vereinten Nationen (1945), der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) und dem Entstehen von Entwicklungspolitik (Gründung der Weltbank:1944, Trumans Inaugurationsrede 1949) umfassendere Bedeutung. Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ratifiziert 1969) war der erste internationale Menschenrechtsvertrag. Mit dem Inkrafttreten der Menschenrechtspakte im Jahre 1976 sind globale sozialpolitische Normen internationales Recht. Hinzu kommen Menschenrechtskonventionen mit wichtigen sozialpolitischen Komponenten: Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, 1980; Übereinkommen über die Rechte des Kindes, 1990; Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, 2003, sowie zahlreiche Konventionen im Rahmen der ILO.

Diese Verträge binden souveräne Staaten mit sehr unterschiedlichem ökonomischem Potential und ebenfalls sehr unterschiedlichem (und wechselndem) politischem Willen zu ihrer Umsetzung. Zum einen verlangt die extreme ökonomische Ungleichheit zwischen Ländern erhebliche Transferleistungen, um den armen Ländern die Erfüllung ihrer eingegangenen Verpflichtungen zu ermöglichen. Von reicheren Ländern lässt sich dies freilich nicht erzwingen. Weiterhin haben sozialpolitische Ziele nicht für jede Regierung Priorität; dies ist ein häufiger Vorwurf aus dem Norden an korrupte Regime im Süden, trifft aber auch auf neoliberale Regime in wohlhabenderen Länder zu.

Zwischen Mitte der 1960er und Ende der 1970er Jahre gab es im Rahmen der Verhandlungen um eine „Neue Weltwirtschaftsordnung" die prinzipielle Bereitschaft, diese Transferleistungen zu erhöhen, sei es zur unmittelbaren Unterstützung einer Politik der Grundbedürfnisbefriedigung, sei es zur Stärkung der ökonomischen Basis der armen Länder (1969 forderte die Pearson Commission on International Development 0,7 % des BSP der Industrieländer als öffentliche Entwicklungshilfe, zu erreichen bis 1975). Die neoliberale Hegemonie der 1980er Jahre legte das Hauptgewicht der Entwicklungskooperation auf die makroökonomische Stabilisierung. Im folgenden Jahrzehnt war dann eine Serie von Weltkonferenzen Ausdruck einer erneuten Verschiebung der entwicklungspolitischen Prioritäten. Besonders die Erklärung der Millennium Development Goals markiert ein größeres Gewicht von Zielen einer globalen Sozialpolitik in den internationalen Beziehungen.

In diesem Zusammenhang führt die zunehmende Verdichtung transnationaler sozialer Beziehungen dazu, dass sich internationale Sozialpolitik als Normsetzung und bescheidener Ressourcentransfer hin zu Ansätzen einer globalen Sozialpolitik weiterentwickelt. Einerseits hat der Globalisierungsprozess vor allem durch internationalen Standortwettbewerb Druck auf die traditionellen Systeme sozialer Sicherheit in den Industrieländern ausgeübt und den Aufbau solcher Systeme in Entwicklungsländern erschwert, wenn nicht gar zurückgeworfen. Andererseits gewinnt die wachsende globale Zivilgesellschaft eine wichtige advokative Rolle in der globalen Politik, und schließlich können wir eine zunehmende Beunruhigung der wohlhabenderen Teile der Weltgesellschaft feststellen - angesichts verschiedener Bedrohungen, die von nicht-beherrschten Räumen vor allem in den armen Ländern bereits vor dem 11. September 2001 ausgingen. Die „Reichen" sehen sich zunehmend unter Druck, auf Armut und soziale Ungleichheit zu reagieren.

Diese globalen Handlungszusammenhänge setzten einen Prozess der Transformation internationaler Politik aus einem System zwischenstaatlicher Beziehungen in ein System globaler Politik in Gang, das zunehmend durch komplexe Strukturen der Interaktionen vielfältiger Akteure geprägt wird. Zivilgesellschaftliche Organisationen gewannen an Gewicht bei der Durchsetzung der sozialen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte, die in den Hochzeiten des Neoliberalismus fast in Vergessenheit geraten waren. Transnational orientierte Stiftungen finanzieren zunehmend sozialpolitische Aufgaben (etwa im Gesundheitsbereich), public-private partnerships und neue Formen internationaler Organisationen mit vollem Stimmrecht für nicht-staatliche Akteure (wie der Global Fund to fight AIDS, Tuberculosis and Malaria) reduzieren das Gewicht intergouvernementaler Organisationen. Andererseits hat die Bedeutung transnationaler Konzerne in der globalen Politik zugenommen. Gleichzeitig haben Regierungen der stärksten Schwellenländer an Einfluss gewonnen und agieren z.T. in Aktionsbündnissen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Diese neuen Strukturen sind im Politikfeld von global health governance am stärksten ausgeprägt, spielen jedoch auch in der globalen Umweltpolitik eine wichtige, in der Bildungspolitik (Umsetzung von „Education for all") eine wachsende Rolle.

Globale Sozialpolitik „konstituiert sich aus globalen redistributiven Mechanismen, globalen regulativen Mechanismen und Elementen der Erbringung von Leistungen und des Empowerments auf globaler Ebene" (Deacon 2007: 109). Angesichts des Fehlens globaler staatlicher Strukturen gibt es keine klaren Verantwortlichkeiten für eine nachhaltige Konzipierung und Umsetzung globaler Sozialpolitik. Sie wird daher von keiner Institution zentral definiert, sondern ist das Ergebnis „von Beiträgen einer Vielzahl von nationalen und internationalen Akteuren, gouvernementalen ebenso wie nicht-gouvernementalen, zu den Diskursen und den Praktiken sozialer Entwicklung" (Homepage der Zeitschrift Global Social Policy). So ist eine Dynamik entstanden, die als ein Prozess chaotischer weltgesellschaftlicher Selbstorganisation verstanden werden kann. Es gibt keinen Grund, diese Entwicklung nur optimistisch zu sehen: Abgesehen von neuen Konfliktfeldern und den zweifellos weiterhin zentralen Machtpositionen der großen Nationalstaaten, sind die ungesteuerten Aktivitäten vieler Akteure nicht unbedingt einem effektiven Einsatz der mobilisierten Mittel förderlich - andererseits entstehen Spielräume für Diskurse und empowerment-Prozesse, die die Interessen marginalisierter Gruppen stärken, welche in den formalen Prozessen politischer Interessenaggregation in Nationalstaaten kaum Gehör finden. Globale Sozialpolitik stellt ein neues Politik‑ und Konfliktfeld dar, das verstanden und, so gut es geht, von emanzipatorischen Kräften genutzt werden muss.

Wolfgang Hein

Anmerkungen

1   „Arm" und „reich" wird sowohl in Bezug auf Menschen als auch auf Länder zur Bezeichnung der beiden Enden eines Kontinuums gebraucht, da eine differenzierte Behandlung der Charakteristika sozialer Ungleichheit hier nicht möglich ist; vgl. dazu das Stichwort „Armut" in Peripherie, Nr. 107/2007.

2   ILO: International Labour Organization; LNHO: League of Nations Health Organization

Literatur

Deacon, Bob (2007): Global Social Policy & Governance. London.

Hein, Wolfgang, & Lars Kohlmorgen (2008): „Global Health Governance: Conflicts on Global Social Rights". In: Global Social Policy, 8. Jg., Heft 1, S. 80-108.

Peripherie Nr. 114/115, 29. Jg. 2009, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 325-328
Bezug: info@zeitschrift-peripherie.de