Bolkestein im Anmarsch

Als die Europäische Kommission im Jahr 2004 die auch als „Bolkestein“ bekannte Dienstleistungsrichtlinie vorlegte, die dann später vom EuropaParlament mit großer Mehrheit verabschiedet wurde, hagelte es Kritik von Seiten der Gewerkschaften und Globalisierungskritiker. Die Proteste waren in der Folge europaweit so massiv, dass die Kommission Änderungen an der Richtlinie vornehmen musste. Insbesondere verzichtete sie auf das sogenannte Herkunftslandprinzip, demzufolge Dienstleistungsfirmen berechtigt gewesen wären, ihre Dienste gemäß dem Recht ihres Herkunftslandes EU-weit anzubieten – was einen Unterbietungswettbewerb nationaler arbeitsrechtlicher Standards zur Folge gehabt hätte. 1

Die Änderungen galten damals zu Recht als großer Erfolg der Protestbewegung. Seither ist die Bolkestein-Richtlinie weitgehend aus der politischen Öffentlichkeit verschwunden. Doch völlig zu Unrecht: Denn bis zum Ende dieses Jahres muss ihre Umsetzung in nationales Recht vollzogen sein. Und der Gesetzgeber ist seit 2005 keineswegs untätig geblieben. Dabei zeigt sich, dass die Gefahr der Lohndumping-Konkurrenz ebenso fortbesteht wie datenschutz- und arbeitnehmerrechtliche Probleme.

Herkunftslandprinzip durch die Hintertür?

Gegenwärtig arbeiten die nationalen Institutionen unter Hochdruck an der Beseitigung der letzten rechtlichen Hindernisse und der technischen Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie. Den Bürgerinnen und Bürgern wird diese als wichtigstes arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitisches Vorhaben in Europa präsentiert. Im Kern zielt sie indes nach wie vor auf eine weitgehende Liberalisierung nahezu des gesamten Dienstleistungssektors. Insofern ist die Richtlinie ein weiterer Schritt auf jenem Weg, der mit der Einheitlichen Europäischen Akte 1987 eingeleitet wurde und nahtlos in die sogenannte Lissabon-Strategie mündete. Deren erklärtes Ziel ist es, die EU bis zum Jahr 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen“.

Zwar wurde nach den Protesten der Begriff „Herkunftslandprinzip“ nominell aus der Dienstleistungsrichtlinie gestrichen. Mit der Formulierung in Art. 16, derzufolge ein Mitgliedstaat nicht daran gehindert ist, „im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht seine Bestimmungen über Beschäftigungsbedingungen, einschließlich derjenigen in Tarifverträgen, anzuwenden“, wird jedoch das Herkunftslandprinzip nur eingeschränkt, aber keineswegs abgeschafft. Denn die Regeln des Ziellandes müssen diesem Artikel zufolge nur dann eingehalten werden, wenn dessen öffentliche Ordnung, Sicherheit, Gesundheit oder Umweltschutz gefährdet sind. Die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern fallen somit eindeutig nicht unter den Schutz des Gesetzes. 2

Darüber hinaus hat zwar das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, auf dessen Grundlage in bestimmten Branchen Mindeststandards festgesetzt werden, Vorrang gegenüber dem Herkunftslandprinzip. Dieses Gesetz betrifft aber nur wenige Bereiche. Darüber hinausgehende Tarifverträge sind für ausländische Dienstleistungsunternehmen generell nur dann verpflichtend, wenn sie allgemeinverbindlich sind. Dies trifft jedoch lediglich für etwa zwei Prozent aller deutschen Tarifverträge zu. 3 Somit drohen arbeitsrechtliche Standards der meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weiter untergraben zu werden – nationale Mindestlöhne beispielsweise, wie es sie in den meisten EU-Staaten gibt, wären dann kaum aufrechtzuerhalten.

Schließlich dürfen aufgrund des Diskriminierungsverbots Originaldokumente, beglaubigte Kopien oder beglaubigte Übersetzungen von Zeugnissen oder anderen Dokumenten, die die Qualifikation eines Dienstleistungsunternehmens belegen, von den Zielländern nicht verlangt werden. Das gleiche Verbot gilt für Nachweise über die Staatsangehörigkeit von Dienstleistungserbringern, Beschäftigten, Gesellschaftern und Mitgliedern der Geschäftsführung oder Kontrollorgane (Art.14, 1a). Dieser Passus bietet Unternehmen unter anderem die Möglichkeit, billige Arbeitskräfte auch außerhalb der EU anzuwerben. Des Weiteren müssen Arbeitsunterlagen wie Arbeitsverträge oder Abrechnungen nicht am Arbeitsort zur Verfügung stehen. Damit sind eine effektive Kontrolle der Dienstleistungsanbieter und ihrer Beschäftigten sowie eine wirksame Wirtschaftsaufsicht im Dienstleistungssektor faktisch unmöglich.

Zwar behauptet die Kommission, die Mitgliedstaaten nicht länger auf die Liberalisierung und Privatisierung von Dienstleistungen verpflichten zu wollen. In ihren Entwürfen wird jedoch sehr wohl deutlich, dass sie weiterhin eine Privatisierung des Sozial- und Gesundheitssektors anstrebt. So werden Leistungen der Daseinsvorsorge in die Kategorie „wirtschaftliche Dienste“ eingeordnet, was die Kommission damit begründet, dass für ihre Erbringung Geld fließt. Zwischen öffentlicher und privater Hand wird hierbei nicht unterschieden. Demzufolge sei auch diese wirtschaftliche Tätigkeit der Marktkonkurrenz auszusetzen, einer Privatisierung dieses Sektors stehe nichts im Wege. 4 Durch die Dienstleistungsrichtlinie wird so die Liberalisierung insbesondere weiterer Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge wie Energie-, Wasser- und Abfallwirtschaft, Bildung und Sozialdienstleistungen vorangetrieben.

Darüber hinaus müssen auch Gesetze und Verordnungen, die auf den ersten Blick nicht unter die Dienstleistungsrichtlinie fallen, an diese angepasst werden. Städte, Gemeinden und Kommunen müssen sich darauf einstellen, dass sie zukünftig ihre Dienstleistungen für den freien Markt öffnen sollen. Betroffen davon könnten darüber hinaus auch beispielsweise Schul- und Hochschulgesetze, zahlreiche Weiterbildungs- und Prüfungsordnungen in Gesundheitsberufen sowie das ÖPNV-Gesetz sein. In der Energiewirtschaft stehen ebenfalls Änderungen an, wenn im kommenden Jahr die Stromkonzessionen bundesweit auslaufen und erstmals europaweit ausgeschrieben werden müssen.

Öffentlicher Dienst ohne Datenschutz

Auch mit Blick auf den öffentlichen Dienst ist mit einer Privatisierung neuer Art zu rechnen. Wie bereits seit 2007 etwa in Würzburg praktiziert, bieten private Dienstleistungsunternehmen wie Arvato den Kommunalverwaltungen Unterstützung bei der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie an. 5 Arvato AG und Arvato Government sind für den Bertelsmann-Konzern als Agenturen zur Markterschließung von Geschäftsfeldern in der öffentlichen Verwaltung tätig. Arvato verwaltet persönliche Daten der Bürgerinnen und Bürger unter anderem im Auftrag der Telekom, der Bahn und der Schufa. 6 Die Richtlinie zentralisiert und bündelt zudem wesentliche Verwaltungsaufgaben. Daraus ergeben sich an mehreren Stellen erhebliche datenschutzrechtliche Probleme (wie etwa die Gefahr der unbefugten Weitergabe).

Die Bolkestein-Richtlinie sieht vor, dass alle mit der Aufnahme einer Dienstleistungstätigkeit in einem anderen EU-Mitgliedstaat verbundenen Formalitäten elektronisch abzuwickeln sein müssen. Zentrale Anlaufstelle dafür sollen die sogenannten Einheitlichen Ansprechpartner (EAPs) sein, die es ab dem 29. Dezember 2009 in jeder Kommune geben muss. Sie fungieren als Kontaktstelle zwischen einem Dienstleistungsbetrieb aus einem europäischen Staat und den nationalen Behörden des Ziellandes und nehmen damit insgesamt typisch öffentlich-rechtliche Aufgaben wahr. Ungeklärt ist noch, ob die EAPs auch personenbezogene Daten speichern werden. Zweites zentrales Verwaltungselement der Dienstleistungsrichtlinie ist die Datenbank IMI, eine elektronische Plattform zur europaweiten Amtshilfe, mit der die Angaben aller Antragsteller überprüft werden sollen. IMI ist auf einem zentralen Server der EU-Kommission in Luxemburg implementiert, über den der gesamte Datenaustausch erfolgt.

Diese Entwicklungen bergen eine hohe datenschutzrechtliche Brisanz. Es wäre daher dringend geboten, bei Einführung der EAPs eine zuständigkeitsbezogene‚ informationelle Gewaltenteilung der daran angeschlossenen Behörden zu etablieren. Auch ist von Anfang an darauf zu achten, dass die EAPs keinen unbeschränkten Zugriff auf die bislang in den verschiedensten Behörden gespeicherten personenbezogenen Daten erhalten. Andernfalls könnte die effiziente Technisierung der Datenverarbeitung neue Begehrlichkeiten zur Überwachung von Mitarbeitern, Bürgern und Kunden wecken.

Liberalisierung oder Regulierung?

Insgesamt werden mit der Dienstleistungsrichtlinie solche nationalen Vorschriften und Sicherungen abgebaut, die europäische Unternehmer als Hindernisse für ihre wirtschaftliche Expansion betrachten. Eine wesentliche negative Folge ist, dass anstelle der bisherigen Qualitätssicherung der Dienstleistungsunternehmen zukünftig lediglich eine freiwillige Selbstverpflichtung ohne Sanktionsmöglichkeit gilt. 7

Bis heute nimmt die EU die Relevanz eines verlässlichen sozialen, ökologischen und rechtlichen Rahmens für eine funktionierende Marktwirtschaft nicht hinreichend wahr: In einem fairen Wettbewerb sollten hohe Qualität, Verbraucher-, Gesundheits- und Umweltschutz sowie sozialer Schutz zentrale Ziele sein. Indem die EU-Politik mit der Dienstleistungsrichtlinie das Recht selbst dem wirtschaftlichen Wettbewerb auf dem Markt unterwirft, verabschiedet sie sich vom Anspruch wirksamer wirtschaftlicher Regulation.

Dieses marktfundamentalistische Vorgehen übersieht völlig, dass gesetzliche Vorschriften gerade denjenigen Zielen dienen sollen, deren Verwirklichung der Markt allein nicht gewährleisten kann. Schließlich sind Gesetze zum Arbeits-, Verbraucher- oder Umweltschutz gerade deshalb erlassen worden, weil sich der Schutz von Arbeitskraft und Natur in der Marktwirtschaft nicht von selbst regeln. Doch anstatt in einem EU-weiten Binnenmarkt an den Schutzvorschriften für Mensch und Natur festzuhalten, werden sie nun pauschal auf dem Altar des Wettbewerbs geopfert. Das aber ist, gerade in Zeiten einer globalen ökonomischen Krise, ein verheerendes Signal.

 

1 Vgl. Thomas Fritz, Bolkesteins Hammer, in: „Blätter“, 2/2005, S. 143-146.
2 Vgl. Frank Lorenz, Christian Heidfeld und Marc Sasse, Die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie in Deutschland. Folgen für die Beschäftigten und politische Gestaltungsspielräume. Rechtsgutachten im Auftrag der HBS 2008.
3 Verdi, Öffentlicher Dienst und die bundesweite Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie, Berlin 2009.
4 Vgl. Jörg Huffschmid, Die Bedeutung der EU für die Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, in: Torsten Brandt u.a. (Hg.), Europa im Ausverkauf. Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und ihre Folgen für die Tarifpolitik, Hamburg 2008, S. 14-41.
5 In Würzburg wurde der Linkspartei die Einsicht in den Vertrag mit der Stadt verwehrt. Dieser schließt fatalerweise den öffentlichen Rechtsweg aus. Es entscheiden im Streitfall also nicht unabhängige Richter, sondern aller Erfahrung nach Wirtschaftsvertreter, und zwar nicht öffentlich.
6 Werner Rügemer, Heuschrecken im öffentlichen Raum, Public Private Partnership – Anatomie eines globalen Finanzinstruments, Bielefeld 2008.
7 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Handbuch zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie, 6.3.3. Anforderungen im Hinblick auf die Beteiligungen am Gesellschaftsvermögen.
Kommentare und Berichte - Ausgabe 10/2009 - Seite 18 bis 21