Von Führern und Fans

Thüringer Forum deutete in Jena den 70. Jahrestag der Nazi-„Machtergreifung“ und offenbarte Ost/West-Diskussionsunterschiede

„Unser einstiges Geschichtsbild hat sich als Wunsch- und Trugbild erwiesen“, konzedierte der Faschismusforscher Kurt Pätzold im Einleitungsvortrag zur Tagung des Thüringer Forums „Erfahrung 30. Januar 1933 - Gewalt, Terror und Krieg in der Sprache der Politik“. In den hochentwickelten kapitalistischen Staaten, die über den realen Sozialismus siegten, müsse man sich fragen, „ob das vielzitierte Brechtwort vom Schoß, der noch fruchtbar sei, seine Berechtigung verloren hat“. Durch die Straßen ziehende Neonazis seien ein Fall für die Polizei, aber sie hätten „keine Aussicht, an ein Staatsruder vorzudringen“. Das heutiges Produktivitätsniveau erlaube einst unvorstellbar gewesene Krisenabfederungen, so dass keine faschistische Gefahr in den reichen Industriestaaten drohe, wo „der Ruf ‚Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!’ so fern klingt wie Kampfesrufe aus Zeiten des Bauernkriegs“. Pätzold mahnte, bezüglich faschistischer Gefahren sich „nicht auf alte Bilder zu fixieren“, zu gewärtigen sei heutzutage „nicht das System, sondern seine Praktiken“.

Der Österreicher Franz Schandl nahm sich in seinem Vortrag über „Fan und Führer“ dieser andersartigen Gegenwart an: „Der Fanatiker von heute heißt Fan, und der Führer hat sich im Star personalisiert“. Walter Benjamin habe 1936 im Exil im Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ (ab 1955 in der BRD, in der DDR nur einmal 1984 erschienen) erstmals den „Star und Diktator als Sieger“ parallel behandelte.

Volkmar Wölk verwies auf Parallelen zwischen Weimarer Republik und Gegenwart in der Ästhetik faschistischer Männlichkeitsbilder. Aufgrund des mit vielen Vorträgen gefüllten Tagungsprogramms blieb undiskutiert, ob solche Klischees auch Nicht- oder gar Antifaschisten, wie im Musikvideo „Conquest of Paradise" von Vangelis für den Boxer Henry Maske zu besichtigen, produzieren. Wölk wandte sich dagegen, Faschismus mit Antimodernismus und Technikfeindschaft zu identifizieren. Wenngleich diese Tendenz im deutschen Nationalsozialismus mächtig war, so bedeute dies dennoch die „Ausnahme von der Regel, was europäischer Faschismus war“, meinte Wölk, der vor allem aktuelle rechte Positionen referierte, jedoch auch auf Historisches hätte verweisen können: Die italienische Futuristen-Avantgarde war ästhetischer Wegbereiter des Faschismus, und die von Nazis als „entartete Kunst“ denunzierten Werke wurden im faschistischen Italien ausgestellt und bewundert.

Die Literaturwissenschaftlerin Leonore Krenzlin warnte, bei jeder Verwendung der „Blut-und-Boden“-Metapher gleich einen Nazi-Vorläufer am Werke zu wittern. In gründlicher Untersuchung legte sie dar, daß 1902 in Michael Georg Konrads „Von Émile Zola bis Gerhard Hauptmann“ es mitnichten um die Verklärung einer konservativen Literaturströmung, vielmehr um ein Plädoyer für modernen Naturalismus ging. Auch 1922 in des Konservativen Oswald Spenglers zweiten Band über den „Untergang des Abendlandes“, der einen Abschnitt mit der Überschrift „Blut und Boden“ enthält, fehle noch der nationalistische, rassistische Bezug. Der sei erst, so Krenzlin, 1926 in der Schrift „Befreiung“ des Ex-Sozialdemokraten August Winnig, der „deutsches Blut fruchtbarer als deutschen Boden“ ersehnte, feststellbar. Auf der Tagung unerwähnt blieb, daß es von Links noch krasser zuging: 1934 erschien die Autobiographie Emil Unger-Winkelrieds „Von Bebel zu Hitler - Vom Zukunftstaat zum Dritten Reich“, in der dieser sich auch als Vortragshörer beim Anthroposophiegründer Rudolf Steiner outete. „Blut-und-Boden“ gehörte dann fest zu völkischem Denken: 1929 erschien die Zeitschrift der Artamanen-Bewegung „Blut und Boden" mit dem Untertitel „Monatsschrift für wurzelstarkes Bauerntum und deutsche Wesensart und nationale Freiheit“. Die Bewegung kreierte den Namen aus den althochdeutschen Vokabeln "art" (Ackerbau) und "manen" (Männer). Heutzutage erinnert man sich gern an Austeiger nach 1968 - jener frühere Antiurbanismus, jene Landfluchtbewegung zählte spätere prominente Nazis wie den Kommandaten des KZ Auschwitz Rudolf Höß, NS-Reichsbauernführer Walter Darré oder den Reichsführer SS Heinrich Himmler zu ihren Mitgliedern. „Im Grünen fings an und endete blutigrot“, schrieb Kurt Tucholsky 1919 prophetisch. Bei Darré tauchte dann der (nicht von ihm stammende) Buchtitel „Neuland aus Blut und Boden“ 1930 auf.

Unerwähnt ließ Krenzlin, obwohl sie nach juristischen Hintergründen von Blut-und-Boden fragte, worauf der linke Jurist Hermann Heller in seiner im Exil 1934 erschienenen „Staatslehre“ hinwies: daß als „natürlich-gemeinsame Motivationen“ Blut und Boden Begriffe des Abstammungs- bzw. Staatsangehörigkeitsrechts seit antiken Zeiten sind und „damit den nichtnormierten Unterbau der Staatsverfassung ausmachen“ - ius sanguinis et ius soli. Entgegen verbreiteter Ansicht, ist auch in der heutigen Staatenwelt die Staatsbürgerschaft-Definition gemäß „Blut“ statt „Boden“ keineswegs unmodern. Die Alternative „republikanisch-französisch“ oder „völkisch-deutsch“ ist eine Legende. Die Zufälligkeit des Geburtsorts wird auch in Frankreich nicht favorisiert, wo niemals das ius soli als solches, sondern immer nur ein bedingtes in Ergänzung des geltenden ius sanguinis vertreten wurde. Abgesehen davon, daß Akzentuierungen auch damit zu tun haben, ob Kolonialmächte Imperien eingemeinden wollen, folgen in der heutigen Welt mindestens 44 Staaten sogar dem reinen ius sanguinis, darunter Schweden, die Schweiz, Österreich, Polen sowie Spanien, und weitere 30 Staaten einem kaum eingeschränkten ius sanguinis (vgl. Rogers Brubaker: „Staats-Bürger“, Hamburg 1994).

Die Widerspiegelung des Machtantritts in bildender Kunst stellte Peter Arlt dar. Er referierte nachdenklich stimmende, unbekannte Details. Etwa, daß das 1. Mai-Abzeichen der NSDAP, die diesen Tag in Deutschland zum gesetzlichen Feiertag machte, Hammer und Sichel enthielt. Seine Frage zur Ikonographie des Hakenkreuzes, warum und wie dies mit Männlichkeitssymbolik rechtsdrehend, nicht wie das Vorbild Swastika linksdrehend, d.h. mit der Bedeutung „lebenspendend“ eingeführt und durchgesetzt wurde, blieb unbeantwortet. Arlt verwies auf die Widersprüchlichkeiten Carl Crodels, eines Nazi-Gegners, der SA-Mann wurde und von dem ein Eugène Delacroix zitierendes Bild aus dem Jahre 1926 über die Vertreibung der Türken immer noch in der Jenaer Universität zu besichtigen ist, da es alle Regime überdauerte. Den „Aufmarsch der Nullen" betitelte der Werner Heldt, der zur legendären „Ateliergemeinschaft Klosterstraße" unweit des Berliner Alexanderplatzes gehörte, in der sowohl Antifaschisten als auch Nazis arbeiteten, im Jahr 1935 eine Kohlezeichnung, die eine nur aus der Zahl Null kombinierte Menschenmenge zeigt.

Die Spurensuche Christel Bergers bei Anna Seghers nach einer literarischen Verarbeitung des 30. Januars 1933 ergab nur eine kurze Stelle in einem Vergleich der beiden „Führer“ Adolf Hitler und Ernst Thälmann. Über den Reichstagsbrand hingegen, so Berger, fände man eher literarische Zeugnisse als über den 30. Januar oder das Ermächtigungsgesetz. Ausnahmsweise findet man in Stephan Hermlins autobiographischen „Abendlicht“ (an dessen Authentizität Untersuchungen Karl Corinos allerdings Zweifel weckten) das Rauschhaften des 30. Januars 1933 dargestellt. Das Schweigen ansonsten ist kein Wunder bei Linken, die „Sowjet-Deutschland“ propagierten und der Weimarer Verfassung keine Träne nachweinten: Republik, das ist nicht viel - Sozialismus ist das Ziel!

Seghers’ Aufsatztitel zeigt, daß die „Volksmassen“ verehrende Sozialisten einem heimlichen Führerkult frönen, nicht nur wenn sie über den „Verrat rechter SPD-Führer“ wettern oder den Film „Thälmann - Führer seiner Klasse“ anschauen. Das problematisierte der aus der Westlinken kommende Wölk, der Heinz Niemanns Plädoyer für einen „linken Populismus“ widersprach. Niemann pries den Sozialdemokraten Julius Leber trotz dessen, von ihm nicht zitierten, Lobs für eine devote Arbeiterpartei am Ende der Weimarer Republik: „Nie hatte eine Führung eine ergebenere, eine treuere und selbstlosere Gefolgschaft hinter sich, als Wels, Müller und Breitscheid sie hatten“. „Nicht die Soldaten“, sondern „die Führer haben diese Schlacht verloren“, meinte ähnlich sein Kampfgefährte Carlo Mierendorff und schlußfolgerte: „Das Kernproblem der deutschen Sozialdemokratie, das Problem der Führung, reckt sich damit riesengroß vor uns auf.“ Niemann bedauerte, auch aktuell im Hinblick auf die PDS, daß eine Figur wie der als Mann des Widerstands vom 20. Juli 1944 hingerichtete Julius Leber eine „seltene positive Ausnahme“ innerhalb der Linken war, der es an einem, so Niemann, „linken Populismus, der stets seinen rationalen Hintergrund bewahrt“, fehlte. Die politische Potenz Lebers habe der ihn zum Tode verurteilende Richter Roland Freisler geahnt, als er im Prozeß vor dem Volksgerichtshof über Leber mutmaßte, er wäre der Lenin der deutschen Revolution geworden.

Bei Schandl und Wölk blitzte die Kluft zwischen Ost- und Westlinke-Debatten auf. Eher gelangten Ergebnisse der DDR-Wissenschaft über illegale Raubdrucke oder Lizenzausgaben in die Alt-BRD als daß Undogmatisch-Linkes den umgekehrten Weg fand. Wie Pätzold, erläuterte der im Westen viel gelesene Marxist Nicos Poulantzas schon 1975 vis-à-vis des Niedergangs rechter Regime in Portugal, Griechenland und Spanien „Die Krise der Diktaturen“, deren Entbehrlichkeit und die Möglichkeiten neuer Strategien politischer Einflußnahme. Als der in jenen Jahren noch als DKP-nah geltende Schriftsteller Martin Walser 1979 dasselbe behauptete, war dies untragbar als Geleitwort der neuen Zeitschrift „Sammlung“, ein in Frankfurt am Main mit DDR-Unterstützung erschienenes „Jahrbuch für antifaschistische Literatur und Kunst“. Walsers „überraschenden“ Thesen „sprachen jedoch dagegen“, wurde mitgeteilt. Er hatte geschrieben: „Daß der Hitlerfaschismus als solcher wieder entstehen kann, halte ich nicht für möglich (...) Was da und dort als Kostümnazi spukt, ist Spuk. Daß Film und Druck-Unternehmer unter dem Vorwand der Aufklärung Nostalgieprofite aus dem Nazikostüm schinden, ist ekelhaft genug“, es gäbe allerdings „einen heutigen faschistischen Stil“: „Der Faschismus, mit dem wir uns wirklich auseinandersetzen müssen, hat im Augenblick noch keine Uniform.“ Solche Einsicht kam damals zu früh und ist inzwischen vergessen oder verdrängt.

Ebenfalls unerwähnt blieben während der Jena Tagung: Schriften zur Massenpsychologie, die Hendrik de Man schrieb, dessen in der sozialistischen Bewegung heftig diskutierte Bücher zwischen 1926 bis 1933 in Jena erschienen; Ernst Blochs Abrechnung mit Arbeiterbewegungsdefiziten („Erbschaft dieser Zeit“, 1934); Kontroversen über Marxismus und Psychoanalyse wie Karl Teschitz’ Aufsatz 1934 „Zur Kritik der kommunistischen Politik in Deutschland“; Wilhelm Reichs Ende 1933 erschienene „Massenpsychologie des Faschismus“; Erkenntnisse der emigrierten Frankfurter Schule (z.B. Leo Löwenthals 1948/49er Untersuchungen faschistischer Agitation, Theodor W. Adornos Aufsatz 1951 zur Struktur faschistischer Propaganda); Klaus Theweleits „Männerphantasien“ sowie des Ex-Maoisten und heutigen Rostocker Literaturprofessor Helmut Lethens „Verhaltenslehren der Kälte“, um zwei neuere Klassiker zu nennen. All das keine exotischen Titel, sondern in der Westlinken massenhaft diskutierte. Das Desinteresse der in ihren regionalen Milieus verharrenden Ost- und Westlinken aneinander beruht auch auf solchen Ungleichzeitigkeiten und thematisch unterschiedlichen Ansätzen. Was die einen, spät - zu spät? - als Entdeckung feiern, die sie in Erregung versetzt, erscheint den anderen längst ausdiskutiert.

Manfred Weißbecker, Historiker und Vorsitzender des gastgebenden Thüringer Forums, der Parteienverdrossenheit und Nazipropaganda erörtert hatte, hielt fest, dass „alle Thesen versagen, die allein sozialökonomische Faktoren und krisenerschüttertem Machtstreben bourgeois-großagrarischer Kreise geschichtliche Wirksamkeit zuschreiben“. Er kritisierte, „daß die Wirkungskraft politischer Sprache noch weitgehend unterschätzt wird“. Dem habe man versucht entgegenzuwirken, „hier in Jena, wo einst Georg Klaus sich mit dem Zusammenhang von Sprache und Politik befaßte und Viktor Klemperer allen ein Begriff ist“. Wenn das Tagungsprotokoll vorliegt, kann überall nachgelesen werden, wie in Jena der Brückenschlag zwischen verschiedenen Disziplinen und zwischen Ost und West versucht wurde.

Verfaßt für jW/ND/rls