Propaganda der Ungleichheit

Sarrazin, Sloterdijk und die neue „bürgerliche Koalition“

Die neue Bundesregierung hat ihre holprigen ersten Wochen hinter sich. Doch was Schwarz-Gelb ersichtlich fehlt, ist ein geistiger Überbau, eine konsistente Idee ihrer zukünftigen Aufgabe. Von einer „geistig-moralischen Wende“, wie von Helmut Kohl Anfang der 80er Jahre propagiert, kann jedenfalls keine Rede sein. Der von Angela Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung erhobene Anspruch, mit einer „Politik für Freiheit in Verantwortung […] die Weichen für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts [zu] stellen“, hängt programmatisch merkwürdig in der Luft.

Diese ideelle Leere könnte sich als echtes Problem erweisen, da sie in deutlichem Kontrast steht zu dem gewaltigen ökonomischen Versprechen von Koalitionsvertrag und Regierungserklärung. Die Merkelsche Politik ist eine äußerst riskante Wette auf die Zukunft: Schwarz-Gelb verspricht, in Zeiten der Krise mit Hilfe von Steuersenkungen zugunsten der angeblichen Leistungsträger gewaltiges neues Wachstum zu generieren. Bleibt, wie bereits heute vorhersehbar, die Finanzierung auf Pump ohne den propagierten Erfolg, werden Kürzungen bei den sozial Schwachen die notwendige Folge sein.

Umso mehr wird in Zeiten knapper Kassen die Ideologie leisten müssen, was die Wirtschaft allein nicht zu leisten vermag: die Legitimierung einer Politik der sozialen Grausamkeiten. Die kulturelle Sphäre, der Kampf um die kulturelle Deutungsmacht in der Republik, dürfte damit zum Hauptschlachtfeld werden. Da trifft es sich gut, dass sich Schwarz-Gelb im Kreise der Meinungsführer und Deutungsexperten längst auf beflissene Intellektuelle verlassen kann, die bereitwillig einspringen, um für den fehlenden geistigen Überbau zu sorgen. Es ist gewiss kein Zufall, dass just zu dem Zeitpunkt, wo wir in eine neue Phase der Republik eintreten und die neue Regierung hochgradig sinnstiftungsbedürftig ist, sich zahlreiche „Geistesschaffende“ anheischig machen, sich zu Stichwortgebern der neuen „bürgerlichen Koalition“ aufzuschwingen. Damit stoßen sie dezidiert in jenes ideelle Vakuum, das nach dem Ende von Rot-Grün als dem vorerst letzten koalitionspolitischen Projekt in diesem Lande entstanden ist.

An die Spitze dieser „Bewegung“ setzten sich, in bemerkenswertem Gleichklang, vor allem zwei: Thilo Sarrazin und Peter Sloterdijk. Während Thilo Sarrazin mit seinem neoliberalen „Eliten-Rassismus“ (Gerd Wiegel), gespickt mit explizit NPD-kompatiblen Sätzen,1 die vulgären Ressentiments all derer anspricht, die schon lange mit ihrer Meinung zu den „ständig neuen kleinen Kopftuchmädchen“ (O-Ton Sarrazin) nicht mehr hinter dem Berg halten wollen, gibt Sloterdijk den Sarrazin des Bildungsbürgers.

In der November-Ausgabe des Politik-Magazins „Cicero“ veröffentlichte er ein „Bürgerliches Manifest“, in dem er sich ausdrücklich auf Sarrazin bezieht und dessen Kritikern Opportunismus vorwirft.2 „Unter dem Deckmantel der Redefreiheit und der unbehinderten Meinungsäußerung“ habe man sich „in einem System der Unterwürfigkeit, besser gesagt: der organisierten sprachlichen und gedanklichen Feigheit eingerichtet, das praktisch das ganze soziale Feld von oben bis unten paralysiert.“ Auf das Aussprechen der Wahrheit, dass nämlich Sarrazin lediglich „Integrationsschwierigkeiten von türkischen und arabischen Teilen der Bevölkerung angemerkt“ habe, stünde „die Höchststrafe: Existenzvernichtung“. Er könne sich des Eindrucks nicht erwehren, schreibt Sloterdijk, dass fast alle, die öffentlich das Wort ergreifen, „geradewegs aus dem Desinfektionsbad“ kämen. Man möchte meinen, „die deutsche Meinungs-Besitzer-Szene“ habe „sich in einen Käfig voller Feiglinge verwandelt, die gegen jede Abweichung von den Käfigstandards keifen und hetzen“.

Anders natürlich Sloterdijk selbst: Indem er für Sarrazin in die Bresche springt, macht er sich selbst anschlussfähig für dessen Diskurs – ohne auch nur ansatzweise auf die menschenverachtenden Äußerungen Thilo Sarrazins einzugehen. Im Gegenteil: Sarrazin sei so unvorsichtig gewesen, auf die „unleugbar vorhandene Integrationsscheu gewisser türkischer und arabischer Milieus in Berlin hinzuweisen“, minimiert Sloterdijk dessen Äußerungen. Allein deshalb gebärdeten sich die Berufsempörer, „als gelte es, einen Wettbewerb in Empörungsdarstellung zu gewinnen: Wer schafft es, seine Konkurrenten an Würdelosigkeit beim Eifern und Geifern zu überbieten?“ Diese „Epidemie des Opportunismus“, „die allgemein erwartete Sklavensprache“ und die völlig „entkernte Haltung“ seien die eigentliche Gefahr für das Land.

Der reaktionäre Geist der „Mitte“

Hätte man es in diesem Fall nur mit zwei sich radikal gerierenden Kathederkapitalisten zu tun, könnte man sich getrost zurücklehnen. Doch offenbar spiegeln die Ausbrüche des Ressentiments von oben den zunehmend regressiven Geist in der Mitte der Gesellschaft wider. Deutlich wurde das an der enormen Resonanz auf die Äußerungen Sarrazins in den Leserbriefspalten „bürgerlicher“ Leitmedien. Zu beobachten ist, wie Franz Sommerfeld durchaus mit Genugtuung feststellt,3 ein „grundlegender Umschwung des geistigen Klimas im Lande“ – und in den Führungsetagen einflussreicher Redaktionen.

So jubilierte Berthold Kohler, Mitherausgeber der FAZ: „Aus der sogenannten Mehrheitsgesellschaft schlägt [Sarrazin] eine Welle der Dankbarkeit dafür entgegen, dass endlich einmal einer ihr seine Stimme geliehen hat. Sarrazin kommt der Sehnsucht nach Politikern entgegen, die noch etwas zu sagen haben und dazu stehen.“ Von Rechtsradikalismus könne bei ihm und bei seinen Befürwortern nicht die Rede sein, im Gegenteil: „Es schreibt vielmehr die politische Mitte, die es satt hat, als fremdenfeindlich beschimpft zu werden, nur weil sie nicht länger mit den Dogmen eines gescheiterten Multikulturalismus traktiert werden will, für den jeder geschächtete Hammel eine kulturelle Bereicherung ist.“4

Ganz im selben Duktus der Chefredakteur von Springers „Welt“, Thomas Schmid: Unter der Überschrift „Frischluft oder Wärmestube?“ applaudiert er Sarrazin für seinen „Mut, auch Dinge auszusprechen, die ihm Schelte einbringen“. Sarrazin spreche „ohne die üblichen Floskeln des guten und korrekten Willens über das Leben der Einwanderer in Berlin“. Lese man dessen Interview genau und im Zusammenhang, erkenne man schnell, dass Sarrazin „keineswegs ein populistischer Scharfmacher“ sei, sondern eine offenkundige Wahrheit ausspreche.5 Und damit ist Schmid bei seinem eigentlichen Punkt: „Nicht, dass sie [die Wahrheit] ausgesprochen wird, schürt rassistische Vorurteile. Es gilt umgekehrt: Wenn derlei nicht ausgesprochen werden darf, schürt es die Verbitterung derer, die aus täglicher Anschauung ganz genau wissen, dass zutrifft, was Sarrazin da gesagt hat.“ Kurzum, die eigentliche Schuld an der politischen Radikalisierung im Lande haben für Schmid und Kohler all jene, die der verbalen Radikalisierung Sarrazins etwas entgegensetzen. Man muss die großen Integrationsprobleme nicht leugnen, vor denen die Republik sowohl in der Unterschichten- als auch in der Migrantenfrage steht, um doch zu erkennen, dass eine derartige Exkulpation, die Sarrazin jeglicher Verantwortung für seine menschenfeindliche Wortwahl enthebt, zukünftiger Diffamierung von Minderheiten Tür und Tor öffnet.

Agitation gegen „Semisozialismus“ und „Staatskleptokratie“

Die enorme Resonanz bringt jedoch zum Ausdruck, wie sehr sich das, was bei Berthold Kohler unter „Mitte“ firmiert, in den letzten Jahren bereits verschoben hat. Noch bis zur Mitte des Jahrzehnts, in den Fällen Martin Hohmanns und Jürgen Möllemanns, waren Gesellschaft und Medien zur Abwehr rechtspopulistischer Angriffe bereit (wenn auch die damalige Oppositionsführerin Angela Merkel gegen ihren Parteifreund Hohmann erst recht spät intervenierte).6 Doch dieser Konsens scheint mehr und mehr brüchig zu werden. Weit über den Kreis der üblichen Verdächtigen (von Henryk M. Broder über Arnulf Baring bis Hans-Olaf Henkel und Ralph Giordano, die sich umgehend mit Thilo Sarrazin solidarisierten) hinaus, bricht sich heute dezidiert in der Mitte der Gesellschaft ein tief sitzendes Ressentiment gegen ethnische Minderheiten und sozial Schwache Bahn, werden durch selbst ernannte Eliten und „Leistungsträger“ Diskurse möglich, die man noch vor Kurzem nicht für möglich erachtet hätte. Letztlich zielen alle diese Positionen auf eines: die Relativierung des Gleichheits- und Gerechtigkeitsgebots, das im europäischen steuerfinanzierten Sozialstaat seine wohl bedeutendste Ausprägung gefunden hat und als solches im Grundgesetz garantiert wird.7

Am vielleicht deutlichsten brachte diese Stoßrichtung ein anderer Artikel von Peter Sloterdijk zum Ausdruck, der den eigentlichen Auftakt der Debatte markierte, nämlich dessen FAZ-Beitrag „Die Revolution der gebenden Hand“.8 Darin behauptet der Autor die Umkehrung der Ausbeutungsverhältnisse: „Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmissverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne dahin kommen, dass die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben – und dies zudem auf missverständliche Weise, nämlich so, dass sie gesagt bekommen und glauben, man tue ihnen Unrecht, und man schulde ihnen mehr.“ Heute hätten wir es in der Bundesrepublik mit einer Form des „Semisozialismus“, mit „Staatskleptokratie“ zu tun. Der Staat fungiere als kaltes Ungeheuer der Umverteilung zu Lasten der Produktiven. Das neue Phänomen der Zeit sei somit nicht die Ausbeutung der Armen durch die Reichen, sondern der Produktiven durch die Unproduktiven.

Sloterdijk bleibt jedoch nicht bei dieser waghalsigen Behauptung9 stehen, sondern leitet daraus dezidiert politische Forderungen ab. Die Leistungsträger müssten sich der Ausbeutung durch den Steuerstaat widersetzen; die normale, angebrachte Reaktion wäre daher der „fiskalische Bürgerkrieg“. Damit die gesellschaftlich unbedingt notwendigen sozialen Leistungen dennoch erbracht werden können, sollten die Unternehmenden zukünftig stattdessen freiwillig von ihrem Reichtum abgeben.

Wie Sloterdijk als angeblich skeptischer Denker zu diesem positiven Menschenbild gelangt, wonach die Besserverdienenden aus reinem Mitgefühl freigiebig würden, sei an dieser Stelle dahingestellt. Betrachtet man nur die Phänomene der jüngsten Vergangenheit – etwa die Fälle Middelhoff oder Zumwinkel –, dann weiß man, dass diese Umstellung auf Mildtätigkeit nicht funktionieren kann. Die Folge der Sloterdijkschen „Revolution“ wäre ein dem Wohlverhalten der Gutsituierten überlassener Staat in Schrumpfform.

Dass Sloterdijks aberwitzige Vorstellungen einer „Neuerfindung der ‚Gesellschaft‘“ durch „Abschaffung der Zwangssteuern und […] deren Umwandlung in Geschenke an die Allgemeinheit“ auch ökonomisch nicht aufgehen, wurde inzwischen vielfach von kundigerer Seite bestätigt. So stellte etwa der Steuerrechtler und ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof fest: „Ein Staat, der Freiheit im Wirtschaftlichen garantiert, muss sich durch Steuern finanzieren. Dabei kann er nicht auf die freiwillige Zahlung setzen, solange er nicht nur das Scherflein der Witwe empfangen, sondern auch den Geldsack des Geizkragens belasten will.“10

Für eine „politisch-psychologische Reformation“ gegen die herrschende „Lethargokratie“

Doch ein „freier Geist“ wie Sloterdijk hält sich mit derartigen Kleinigkeiten nicht weiter auf. Sein eigentlicher Anspruch geht weit darüber hinaus. In seinem nach der Bundestagswahl für „Cicero“ geschriebenen „Bürgerlichen Manifest“ liefert er den geistigen Überbau für das schwarz-gelbe Projekt: Darin fordert er nichts weniger als eine „politisch-psychologische Reformation“. Nach Sloterdijk leben wir seit der Ära Helmut Kohls in einer „Lethargokratie“, einem zunehmend verfettenden, unbeweglich werdenden Gemeinwesen. Analog zur „Ausbeutung der Produktiven durch die Unproduktiven“ würden „Steueraktive“ bzw. „Transfermassengeber“ durch bloße „Transfermassennehmer“ ausgebeutet. Deshalb gelte es nun, zum Zeitpunkt der neuen Koalition von Schwarz und Gelb, ein neues „Manifest der Leistungsträger“ zu begründen, das dem Begriff der Freiheit einen ganz neuen Stellenwert beimisst. Zu diesem Zweck wird explizit die FDP mit der Bekämpfung der „Leistungsträgerverleumdung“ beauftragt: „Es ist ihre objektive Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Leistungsträgerkern der deutschen Population sich in Zukunft nicht nur fiskalisch stark mitgenommen fühlt, sondern sich endlich auch politisch, sozial und kulturell gewürdigt weiß.“ Diese Aufgabe sei das Gebot der Stunde. Denn, so Sloterdijk: „Der Geist der Zeit sendet neue Signale. Es wäre fatal, sie nicht empfangen zu wollen.“

Tatsächlich sendet hier natürlich kein Geist (schon gar nicht der Hegelsche Weltgeist, als dessen einziger Empfänger sich der Professor aus Karlsruhe allzu gern geriert), hier sendet Sloterdijk höchstselbst. Und doch findet er damit allzu bereitwillige Empfänger in einem neu-bürgerlichen Milieu, dass sich seit geraumer Zeit mit Schaudern vom Sozialstaat abwendet: „In diesem Milieu“, schreibt der Philosoph Axel Honneth in seiner scharfen Replik auf Sloterdijk, in „den Redaktionsstuben der Feuilletons, den Kasinos der Banken, den Architekturbüros und Werbeagenturen“, die stark in den postmodernen Jahrzehnten des späten letzten Jahrhunderts sozialisiert wurden, herrsche Einigkeit nur darüber, „dass der Wohlfahrtsmentalität des sozialdemokratischen Zeitalters unbedingt ein Ende zu bereiten sei; zu abhängig schienen die Massen, zu sehr nur auf die gebende Hand des Staates erpicht, als dass aus dem Schoß einer derartigen Kultur noch irgendein kraftvoller Gedanke oder Lebensstil hervorgehen könnte.“11 Deshalb stößt in dem von Honneth skizzierten Umfeld der eigentliche Kerngedanke Sloterdijks, der seit Jahrzehnten der immergleiche ist, in starkem Maße auf Gegenliebe, nämlich der Nietzscheanische Urgedanke der Unterscheidung zwischen der Herrenmoral der Mächtigen aus eigenem Recht und der Sklaven- oder Herdenmoral der Schwachen, die mit ihren Gerechtigkeits- und Gleichheitsansprüchen die Starken zu sich herunterziehen. Mit dieser These hat Sloterdijk, der „Leistungsheld mit Transfereinkommen“ (Sighart Neckel), seit geraumer Zeit eine treue Anhängerschaft gefunden – am stärksten im Umfeld der ihrem eigenen Anspruch nach elitären Monatsmagazine „Merkur“ und „Cicero“. Bereits in ihrem Sonderheft 2007 mit dem beredten Titel „Dekadenz. Kein Wille zur Macht“ beklagten die „Merkur“-Autoren fast unisono den Triumph der „Unterschichtenmentalität“. In den postheroischen westlichen Gesellschaften sei allerorten der „Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen“ zu beobachten, nämlich ein „Verlust des Willens zur Selbstdarstellung.“ Zum Vorschein komme, so Herausgeber Karl Heinz Bohrer unter Vorwegnahme der Sarrazinschen Ausbrüche, das „Panorama einer neuen Unterschicht, die nichts außer Nahrungsaufnahme will und deren analphabetisches Bewusstsein und deren Sich-gehen-lassen zu einer allgemeinen Norm zu werden droht, weil es keine Eliten und Institutionen mehr gibt, die über ihre Funktion hinaus so etwas wie eine kulturelle Alternative setzen.“12 Fast schon resignativ muss der „Merkur“-Herausgeber feststellen: „Das Sich-gehen-lassen, die öffentliche Formlosigkeit breitet sich inzwischen überall aus, selbst in sozial höheren Quartieren.“ Gegen das Fellachentum dieser Welt von „Schlafanzügen“ gelte es einen neuen „Willen zur Macht“ herauszubilden.13

Angewandt auf die aktuelle Debatte bedeutet das für Bohrer als Denker der Ungleichheit: Gegen das verzwergte Hochschulphilosophieren der Frankfurter Schule zählt allein das gefährliche Denken des neuen Meisterdenkers und „freien Geistes“ Sloterdijk, dem der „Merkur“-Herausgeber denn auch umgehend beisprang.14 In Anbetracht der propagierten Sehnsucht nach dem freien Denken „ohne Geländer“ ist es von besonderer Ironie, dass unsere gefährlichen Denker, wenn ihnen ernste Kritik entgegenschlägt, in aller Regel umgehend zu ihrer eigenen Selbstverniedlichung schreiten und sich als verfolgte Unschuld gerieren. So verteidigte Bohrer Sloterdijk in grotesk hysterischer Weise gegen den „Totschlagsversuch“ mit „Tötungsabsicht“ der vermeintlichen Mini-Jakobiner aus der Habermas-Tradition. Und auch der Sarrazin-Sekundant Kohler bejammert das herrschende Klima der Unfreiheit: „Es schrumpft vielmehr der Raum, in dem noch etwas ohne Gefahr für Ruf und Existenz geäußert werden kann.“ Während derart suggeriert wird, dass Sarrazin sich nicht habe artikulieren dürfen, nutzte in Wirklichkeit der geübte Provokateur höchst gekonnt die Medienmechanismen aus. Sowohl bei Sarrazin als auch bei Sloterdijk funktioniert die dahinterstehende Methode sei Jahren. Man wähle die steile These – was 1999 Sloterdijks „Regeln für den Menschenpark“ waren, ist heute seine Aufforderung zum „antifiskalischen Bürgerkrieg“ –, um anschließend, nachdem der mutige „Tabubruch“ mit medialer Aufmerksamkeit belohnt wurde, die eigenen Aussagen zu verharmlosen, getreu dem Motto: Es war doch alles gar nicht so gemeint. Das führt letztlich dazu, dass am Ende stets der „freie Geist“ als das Opfer dieser Gesellschaft und ihrer infamen political correctness dasteht.15 Deshalb geht es entschieden an der Sache vorbei, wenn diese Debatte, wie in einigen Beiträgen geschehen, zu einer bloßen Stildebatte verharmlost wird. Wenn etwa der Zeitgeistphilosoph Richard David Precht für eine neue Philosophie jenseits der „vertrauten Rechts-Links-Klischees“ plädiert, verkennt er, dass es letztlich genau um die alten Fragen von links und rechts geht, nämlich um die Grundentscheidung: Wie verhalten sich die beiden Grundwerte, Freiheit und Gleichheit, zueinander?

Denker der Ungleichheit: Der Gründungsdiskurs einer anderen Republik?

Die Stoßrichtung der Sarrazins und Sloterdijks ist dabei seit Jahren dieselbe: gegen den Egalitarismus und die angeblich verweichlichende Gleichmacherei durch den Sozialstaat. „Kapitalismus oder Barbarei“ hieß denn auch folgerichtig vor wenigen Jahren die Überschrift eines „Merkur“-Sonderheftes. Seit Jahren geht es den Neo-Nietzscheanern darum, generelle Akzeptanz für ein höheres Maß an Ungleichheit in der Gesellschaft zu schaffen. Offensichtlich mit Erfolg, wie die jüngste Debatte zeigt. Gerade in Zeiten der Krise verbindet sich die Haltung der elitären Meinungsmacher, die in Sloterdijk ihr Sprachrohr gefunden haben, mehr und mehr mit einer immer ausgeprägteren Disposition der von Abstiegsängsten gepeinigten Mittelschichten, die begierig die Sarrazinschen Ressentiments aufgreifen.

Beide Fraktionen treffen auf eine „bürgerliche“ Regierung, die sich in ihren Konzeptionen bewusst jeder weiter gehenden Forderung nach Gerechtigkeit enthält. „Wachstum, Bildung, Zusammenhalt“ lautet die Überschrift des Koalitionsvertrags. Während der einstige Anspruch auf Chancengerechtigkeit (von Verteilungsgerechtigkeit gar nicht zu reden) in den neoliberalen Jahren längst zu Fairness verkümmert ist, schrumpfen einstige emphatische Begriffe wie Brüderlichkeit und Solidarität zu bloßem Zusammenhalt. Ganz offensichtlich soll der Gleichheitsanspruch keine Rolle mehr spielen – sowohl im Sarrazin/Sloterdijk-Diskurs als auch in den Konzeptionen der Bundesregierung. Damit wäre auch die Frage beantwortet, wie Schwarz-Gelb auf die zu erwartenden Einnahmeverluste reagieren wird: Eine – und nicht die unwahrscheinlichste – Antwort darauf könnte darin bestehen, die Gesellschaft sukzessive wieder an eine (noch) größere Spreizung der Reichtumsverhältnisse zu gewöhnen. Die Art, wie Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung die Bevölkerung auf harte Zeiten vorbereitete, verheißt in dieser Hinsicht nichts Gutes.

Insofern könnte es sich, im schlimmsten Fall, gegenwärtig um den Gründungsdiskurs einer anderen Republik handeln, der die alten Parameter erheblich verschiebt. Einige derer, die an einem neuen „Projekt Bürgerlichkeit“ (Mariam Lau) arbeiten, gehen sogar so weit, Schwarz-Gelb bereits zu einer neuen „sozialliberalen Koalition“ umzudeklarieren (Franz Sommerfeld).

Damit wird die Sozialdemokratie (wie auch die Linkspartei) implizit als überflüssig erklärt: „Die deutsche Sozialdemokratie hat alles verwirklicht, was am Sozialismus vernünftig war. Das Jahrhundertexperiment des Sozialismus ist gescheitert, und gleichzeitig sind alle seine vernünftigen Forderungen vom Kapitalismus selbst erfüllt worden. Die Arbeiter sind als Bürger anerkannt, die Konservativen akzeptieren den Wohlfahrtsstaat, und die meisten Linken sind Reformer geworden.“16 Kurzum: Schwarz-Gelb wird in dieser Definition zum Ende der deutschen Geschichte. Die alte linke Aufgabe, Hüter des Sozialen zu sein, würden Union und Liberale gleich mit übernehmen.

Gleichzeitig wird damit mutwillig suggeriert, Schwarz-Gelb als neue „sozialliberale“ Koalition habe etwas mit der alten gemein. Dabei bestand der Anspruch sozialliberaler Vordenker wie Karl-Hermann Flach, Werner Maihofer und Ralf Dahrendorf gerade darin, eine Verbindung zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse herzustellen, die weit über das Spektrum von Union und FDP hinausgehen sollte.17 Ihr Ziel war es, die verheerende deutsche Tradition der Trennung von bürgerlicher Freiheitsbewegung und sozial orientierter Arbeiterbewegung aufzuheben. Auf diesem Boden erwuchsen die legendären Freiburger Thesen der FDP von 1971 mit ihrer Vorstellung einer politischen Parität von Arbeit und Kapital. Heute mag vielleicht noch die Maihofer-Schülerin und neue Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Politik in diesem Sinne denken, ansonsten jedoch wird man nach derartigen Ansätzen in der FDP vergeblich suchen. Im Gegenteil ist dort der Wunsch nach verstärkter Ungleichheit besonders stark vertreten, auch wenn Schwarz-Gelb bisher eine geschickte „Sozialcamouflage“ betreibt.18

Faktisch hätte die Verengung sozialliberaler Politik auf die Politik von Schwarz-Gelb verheerende Implikationen: Die oberen zwei Drittel verblieben im Zuständigkeitsbereich einer Regierungspolitik von Union und FDP – und perspektivisch auch der Grünen –, während das untere Drittel, um das sich SPD und Linkspartei balgen dürfen, mehr und mehr aus dem Fokus geriete.

Schon deshalb bleibt die Forderung nach rechtlicher und sozialer Gleichstellung hochaktuell – und zwar gerade dann, wenn die Forderungen nach Freisetzung etwa brachliegender Potentiale der „Leistungseliten“ erfüllt werden. Denn wer wie Sloterdijk „den Einzelnen zur permanenten kreativen Selbstmobilisierung verpflichtet [...], produziert […] notwendig die Gegen- oder Unterklasse der Immobilen, Nichtkreativen, Unfähigen, denen ihr Scheitern als Versagen vorgehalten werden kann“, stellt der Philosoph Christoph Menke zu Recht fest.19

In dem Maße jedoch, in dem die sozialen Unterschiede in dieser Gesellschaft zunehmen, wächst die Distanz zwischen den Klassen. Damit wird die urdemokratische Aufgabe, Solidarität in der Gesellschaft zu gewährleisten, weiter erschwert. Offensichtlich bedarf es dafür nach wie vor einer gewissen sozialen wie politischen Gleichheit unter den Bürgern, die zumindest in der gemeinsamen Bereitschaft besteht, dem gleichen Gemeinwohl zu dienen, was sich in der europäischen Tradition nicht zuletzt in der staatsbürgerlichen Pflicht zur allgemeinen Steuerleistung ausdrückte.

Der „Bürger“ als Begriff der Linken

Letztlich geht es bei den gegenwärtigen Debatten um die Frage, ob die gesellschaftlichen Abwehrkräfte reichen, eine solidarische Gesellschaft weiter zu gewährleisten: „Deutschland ist, gemessen an den meisten seiner westlichen Nachbarn, eine junge Demokratie – eine, in der als Folge einer Geschichte permanenter Krisen und militärischer Niederlagen das Nationalbewusstsein nach wie vor von Fragilität gekennzeichnet ist“, stellte unlängst Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, fest. „Die im Raum stehende Frage lautet daher: Wie wird sich angesichts dieses immer noch ungefestigten Nationalbewusstseins die Mehrzahl der Deutschen gegenüber religiösen, ethnischen und nationalen Minderheiten verhalten, wenn in Zukunft die Wirtschafts- und Finanzkrise bedrohlicher werden sollte? Wird dann eine wachsende wirtschaftliche Instabilität Auswirkungen auf die mentale Stabilität der Deutschen und auf ihr bisheriges Demokratiebewusstsein haben? Lassen die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl nicht auf erste Anzeichen von Gleichgültigkeit und politischem Verdruss schließen, wenn es darum geht, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten demokratische Mündigkeit und Verantwortung für das Gemeinwesen zu zeigen?“20

In der Tat. Umso mehr wird es deshalb darauf ankommen zu verhindern, dass große Teile der Gesellschaft desintegriert und ausgegrenzt werden. Um sich als Staatsbürger selbst ernst und gegenseitig respektieren zu können, ist jedoch stets ein bestimmtes Maß an politischer Gleichheit und sozialer Partizipation an der Gesellschaft nötig. Zu diesem Zweck gilt es, gegen den wieder aufkommenden vor-staatsbürgerlichen Bürgerbegriff des privatistischen bourgeois den politischen Bürger als citoyen zu stärken. Dieser ist – anders als Heinz Bude („Der Bürgerbegriff ist kein linker Begriff“) definitorisch erklärt – mit seiner Gründung auf das Gemeinwohl gerade ein originär linker Begriff in der Tradition von 1789.21

Die Vorstellungen der Sozialstaatsverächter vom Schlage Sloterdijks laufen hingegen darauf hinaus, den Staatsbürger durch Minimierung des Staates faktisch abzuschaffen. Am Ende bliebe, anstelle utopischer Phantasien von der gebenden Hand, die altbekannte Parole: „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“ Gerade die aber hat, neoliberal auf die Spitze getrieben, Deutschland und die Welt in den letzten Monaten an den Rand der Katastrophe gebracht. Das allein ist Grund genug, gegen sozialtheoretische Vabanque-Spieler vom Schlage Sloterdijks und Sarrazins die bewährte sozialstaatliche Basis der Bundesrepublik energisch zu verteidigen.

 

1 Thilo Sarrazin, Klasse statt Masse, in: „lettre international“, 86 (2009); vgl. den Beitrag von Gerd Wiegel in diesem Heft.
2 Peter Sloterdijk, Aufbruch der Leistungsträger. Ein exklusives Manifest zum Zeitgeist, in: „Cicero“, 11/2009, S. 94-107.
3 Franz Sommerfeld, Die neuen Sozialliberalen, in: „Frankfurter Rundschau“, 5.11.2009.
4 Berthold Kohler, Außerhalb des Korridors, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 8.10.2009
5 Vgl. Thomas Schmid, Frischluft oder Wärmestube, in: „Die Welt“, 2.10.2009.
6 Vgl. Albrecht von Lucke, Deutsches Lehrstück, in: „Blätter“, 1/2004, S. 9-12.
7 Wie groß diese Errungenschaft ist, sieht man derzeit nirgends deutlicher als bei Obamas hartem Kampf um die Einführung einer nur minimalen allgemeinen Krankenversicherung.
8 Peter Sloterdijk, Die Revolution der gebenden Hand, in: FAZ, 13.6.2009.
9 Vgl. dazu Rudolf Walther, Sloterdijk macht den Westerwelle, in: „Blätter“, 7/2009, S. 22-23.
10 Vgl. Paul Kirchhof, Die Steuer ist ein Preis der Freiheit, in: FAZ, 7.11.2009.
11 Vgl. Axel Honneth, Fataler Tiefsinn aus Karlsruhe, in: „Die Zeit“, 25.9.2009.
12 Karl Heinz Bohrer, Politisches Feuilleton im Deutschlandfunk, 6.8.2007.
13 Ders., Kein Wille zur Macht, in: „Merkur“, 8-9/2007, S. 664.
14 Ders., Lobhudeleien der Gleichheit, in: FAZ, 21.10.2009.
15 In eklatantem Widerspruch zu seiner eigenen Argumentation stellte sich Sloterdijk später selbst als „halbsozialistischen“ Denker dar: „Seit Jahren werde ich nicht müde, auf einschlägigen Konferenzen meine Überzeugung zu bekennen, dass die progressive Einkommensteuer die maßgeblichste moralische Errungenschaft seit den zehn Geboten darstellt.“ (FAZ vom 26.9.2009); zu den Mechanismen des Tabubruchs vgl. Albrecht von Lucke, Der hilflose Antipopulismus, in: „Blätter“, 7/2002, S. 775-778.
16 Vgl. Norbert Bolz, Herrschaft des Leistungsprinzips, in: „Frankfurter Rundschau“, 12.11.2009.
17 Vgl. die für die liberale Position des jüngst verstorbenen Werner Maihofer exemplarischen Beiträge nach der „Spiegel“-Affäre (etwa: Pressefreiheit und Landesverrat, in: „Blätter“, 1+2/1963).
18 Vgl. dazu den Beitrag von Annett Mängel in diesem Heft.
19 Christoph Menke, Wahrheit. Nicht Stil, in: „Die Zeit“, 15.10.2009.
20 Salomon Korn, Sieben Jahrzehnte danach. Spuren der „Reichskristallnacht“, in: FAZ, 10.11.2009.
21 Vgl. Heinz Bude, Wie klug ist die FDP? In: „Die Zeit“, 8.10.2009; zum Bürgerbegriff Albrecht von Lucke, 68 oder Neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht, Berlin 2008, S. 59 f. und S. 72ff.
Analysen und Alternativen - Ausgabe 12/2009 - Seite 55 bis 63