20 Jahre Mauerfall: »Revolution!«

Binnen weniger Wochen fiel 1989/90 ein Regime, das über Jahrzehnte unangreifbar schien. Millionen Menschen nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Olaf Klenke und Win Windisch erinnern an die letzten Tage der DDR.

Elfter September 1989: Ungarn öffnet die Grenze zu Österreich. In drei Tagen flüchten 15.000 DDR-Bürger gen Westen. In Prag und Warschau besetzen tausende Flüchtlinge die westdeutsche Botschaft und erzwingen ihre Ausreise. Es sind vor allem junge Arbeiter, die dem »Arbeiter- und Bauernstaat« DDR keine Chance mehr geben.

_____________________________________________________________________________________

marx21 Heft 13 hat die Schwerpunkte »Die Linke unter Schwarz-Gelb« und »Dresden 2010: Nazis stoppen« In dieser Ausgabe unter anderem:

  • Interview: »Zur Zeit sind wir viel zu defensiv«. Es ist absehbar, dass die neue Regierung Arbeitnehmer und Arme für die Krise zahlen lassen wird. Bernd Riexinger sprach mit Yaak Pabst über drohende Kürzungen, die Aufgaben der Gewerkschaften und den Widerstand gegen Sozialabbau
  • Interview mit Toralf Staud: »Die NPD arbeitet an der Faschisierung der Provinz«
  • »Von Tätern und Opfern«: Nazis versuchen, das Gedenken an die Bombardierung von Dresden für ihre Zwecke zu missbrauchen. Welche Antwort sollte die Linke geben? Ein Beitrag zur Debatte von Stefan Bornost
  • Elmar Altvater & Dagmar Vinz mit Teil 10 seiner Serie »Marx neu entdecken«
  • Interview: »Ich bin kein Reformer«. In Michael Moores neuen Film geht es um das große Ganze: den Kapitalismus. Warum, erzählt der Filmemacher im Gespräch mit Amy Goodman
  • Die Mauer ist weg. Was bleibt? Debatte mit Gabriele Engelhardt und Stefan Bollinger
  • Marcel Bois über 50 Jahre Asterix
  • Die Geschichte hinter dem Song: Mercedes Sosa - »Solo le pide a Dios«

_______________________________________________________________________________

 

Die Ausreisebewegung erschüttert das SED-Regime in seinen Grundfesten. Stacheldraht und Mauer werden durchlässig. Jeder Ostdeutsche hat Verwandte, Bekannte und Kollegen, die das Land verlassen. Die Parteiführung reagiert mit Lügen und Verachtung. Die staatlichen Zeitungen berichten von angeblichem Kidnapping. Der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker verkündet, er trauere den Geflohenen »keine Träne« nach. Immer mehr Menschen verlangen nach Freiheiten. Nachdem Anfang September 1000 an der Montagsdemonstration in Leipzig teilnahmen, sind es Ende des Monats bereits 8000. Neben der Forderung »Wir wollen raus« rufen immer mehr Demonstranten die trotzige Losung »Wir bleiben hier« und fordern, die neu gegründete Oppositionsgruppe »Neues Forum« zuzulassen.

In der Parteiführung werden Erinnerungen an den Arbeiteraufstand vom Juni 1953 wach, als das Regime nur noch durch sowjetische Panzer zu retten war. Die SED-Spitze reagiert auf die Bewegung mit Unterdrückung und lässt den Protest gewaltsam auflösen. Anfang Oktober liefern sich Demonstranten in Dresden und anderen Städten Straßenschlachten mit der Polizei. Gleichzeitig warnt die Stasi vor der brodelnden Stimmung in den Betrieben. Es gibt vereinzelte spontane Arbeitskämpfe im Süden der DDR: In Altenberg organisieren 600 Bergarbeiter einen Bummel-Streik um die Wiedereröffnung des Grenzverkehrs über die tschechoslowakische Grenze zu erzwingen.

Als am 7. Oktober, dem Staatsfeiertag der DDR, in 18 Städten protestiert wird, gehen Soldaten und Polizisten mit Gummiknüppeln und Massenverhaftungen gegen die Demonstranten und auch gegen unbeteiligte Personen vor. In Plauen, einer Stadt mit 80.000 Einwohnern nahe der Grenze zu Bayern, wird die Polizei jedoch vom Ausmaß der Demonstration überrumpelt. 15.000 Menschen - mobilisiert über wenige Flugblätter und Mundpropaganda - kommen im Stadtzentrum zusammen, ohne zu wissen, was sie genau erwartet. Auch der Einsatz von zwei als Wasserwerfer umfunktionierten Feuerwehrautos hält sie nicht auf. Sie marschieren durch die gesamte Innenstadt und verabreden sich wieder für den nächsten Samstag. Ihre Demonstration ist die erste, die nicht gewaltsam von Ordnungskräften zerschlagen wird. In den Tagen danach verurteilt die Freiwillige Feuerwehr den unsachgemäßen Einsatz ihrer Fahrzeuge. In einigen Geschäften werden Polizisten nicht mehr bedient.

Nach dieser Woche der Gewalt steht in Leipzig am 9. Oktober die nächste Montagsdemonstration bevor. Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Von dort war der Funke der Proteste ausgegangen. Hier will die SED sie ersticken. In Medien und Betrieben wird vor dem Einsatz der Armee gewarnt. Krankenhäuser stellen Blutkonserven bereit. Aber die Menschen lassen sich nicht mehr einschüchtern. Am Abend ziehen 80.000 Personen durch die Innenstadt und trotzen der Staatsgewalt. Soldaten verweigern wie bereits in den Tagen zuvor ihre Befehle. Die Parteiführung vor Ort schreckt vor dem Einsatz von Gewalt zurück. Die Bewegung feiert ihren ersten großen Sieg über das SED-Regime.

Nach dem Durchbruch in Leipzig ist die Bewegung nicht mehr aufzuhalten. In kleinen Städten prügelt die Polizei noch Proteste nieder. Aber vom Süden her breiten sich die Demonstrationen aus. In den Großstädten nehmen Hunderttausende an den Protesten teil. Anfang November gehen allein in Berlin und Leipzig zusammen eine Million Menschen auf die Straße. Nach jahrzehntelanger Unterdrückung wird mit den Massendemonstrationen das Gefühl der Machtlosigkeit überwunden. »Wir sind das Volk« wird zum Slogan einer Bewegung, die die Gesellschaft grundlegend verändern wird. Überall organisieren Aktivisten Diskussionen. Allein zwischen dem 30. Oktober und dem 5. November meldet die Staatssicherheit 230 »politisch geprägte Veranstaltungen mit fast 300.000 Teilnehmern«.

Bis zum Januar 1990 werden 250 verschiedene Initiativen anerkannt. Komitees zur Aufarbeitung der Stasi-Gewalt werden gegründet, Häuser besetzt, Galerien und Bars eröffnet, Studierende gründen unabhängige Vertretungen, Frauengruppen eröffnen Cafés und Inhaftierte fordern die Beteiligung an der Gefängnisverwaltung. In den Betrieben erheben Arbeiter die Forderung nach Demokratie und der Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. In einem Berliner Elektronikwerk erreicht eine Wandzeitung mit Diskussionsbeiträgen eine Länge von mehreren hundert Metern. In einigen Kasernen wählen Rekruten Soldatenräte.

Der Druck der Straße zwingt die SED zu Zugeständnissen. Das Staatsfernsehen beginnt, über die Demonstrationen zu berichten. Staats- und Parteichef Honecker tritt am 18. Oktober von allen Ämtern zurück. Doch die Menschen misstrauen auch der neuen Regierung und fordern mit dem Slogan »Die Mauer muss weg!« den freien Reiseverkehr.

Am Abend des 9. November kündigt der SED-Funktionär Günter Schabowski im Rahmen einer internationalen Pressekonferenz die vorgesehene Öffnung der Grenze an. Auf die Frage eines Journalisten, ab wann die neue Regelung gelte, antwortet Schabowski ohne Wissen über die Vorgabe: »Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich.«

Er beschleunigt damit, was sowieso nicht mehr zu verhindern war. Es versammeln sich Zehntausende an den Grenzübergängen in Berlin und drücken die Absperrungen buchstäblich ein. Mit dem Fall der Mauer verliert die SED die Kontrolle über die Bevölkerung. Enthüllungen über Privilegien der SED-Oberen und deren Versuche, den Machtapparat zu rechtfertigen und Reformen zu verschleppen, heizen die Unzufriedenheit weiter an. Anfang Dezember stürmen Demonstranten in Erfurt und anderen Bezirksstädten die Stasizentralen. Der Unterdrückungsapparat der SED ist angeschlagen.

In diesen Tagen liegt die Macht »auf der Straße«. Doch nun geht es auch um die Kontrolle der Betriebe. Auf den Demonstrationen wird gefordert: »SED - raus aus den Betrieben«. Am 3. Dezember tritt die komplette Parteiführung zurück. Am selben Tag treffen sich Vertreter des Neuen Forums, der einzigen landesweit einflussreichen Widerstandsgruppe, um zu diskutieren, wie sie mit den aufkommenden Forderungen nach einem Generalstreik umgehen. Schon in der Woche zuvor fand in der Tschechoslowakei ein zweistündiger Generalstreik statt, der in der DDR mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde. In vielen Betrieben wird nun diskutiert, warum man nicht das selbe macht. Die ersten Betriebsgruppen des Neuen Forums haben sich bereits gegründet.

Das Treffen des Neuen Forums erfährt von einem weiteren Streikaufruf, als eines der führenden Mitglieder verspätet eintrifft. Jochen Tschiche berichtet von einer Demonstration in Magdeburg mit 100.000 Teilnehmern, die alle von ihm wissen wollten, wie es weitergehen solle. Die Arbeiter des Großbetriebs Schwermaschinenbaukombinat »Ernst Thälmann« mit 12.000 Kollegen wären entschlossen, zu streiken und fragten ihn, welche Forderungen er vorschlagen würde. Er gibt die Frage an die Sitzung weiter: »Was sollte ich ihnen sagen, welche Forderungen sollen aufgestellt werden?«

Eine Streikbewegung wäre der nächste Schritt, um weitere Teile der Bevölkerung zu aktivieren. Wenn es zu Arbeitsniederlegungen in großen Betrieben im Süden und Berlin käme, dann hätte die Regierung dem nichts mehr entgegenzusetzen. Der Demoslogan »Neues Forum an die Macht« könnte zur Realität werden. Aber die Oppositionsgruppe schreckt davor zurück, die SED zu stürzen und eine Gegenregierung zu bilden. Führende Personen des Neuen Forums lehnen die Forderung als »verfrüht« ab und nehmen stattdessen am »Runden Tisch« mit den Vertretern der alten Macht Platz. Ihr gemeinsames Ziel: Die DDR erhalten. Die Bürgerrechtsgruppen hoffen auf einen »Dritten Weg« einer eigenständigen DDR. Damit stellen sie sich zunehmend ins Abseits. Die Mehrheit der Bewegung hat sich radikalisiert. Sie wollen keine Verhandlungen mit den alten Eliten. Sie wollen den Sturz des gesamten Machtapparates der SED. 

In den ersten Wochen des Jahres 1990 erreicht die Bewegung noch einmal einen Höhepunkt. In Dutzenden Betrieben legen Arbeiter gegen den drohenden Machterhalt der SED die Arbeit nieder. In Berlin stürmen am 15. Januar Demonstranten die Stasizentrale und rufen »Nieder mit der SED« und fordern den Rücktritt des neuen Regierungschefs Hans Modrow. Mit dem Rücken zur Wand lädt dieser die Bürgerrechtsgruppen zum Eintritt in eine Übergangsregierung ein. Die Bürgerrechtler nehmen das Angebot an, um den Sturz der Regierung zu verhindern.

Diejenigen im Neuen Forum, die den Regierungskurs kritisieren, oder auch die vielen neuen Aktivisten verfügen nicht über die Strukturen, die es bräuchte, um dem eine alternative Führung entgegenzusetzen. So entsteht ein Machtvakuum, das Helmut Kohl in den Folgemonaten ausnutzen kann.

Zu den Autoren:
Olaf Klenke wurde durch die Wendebewegung politisiert und beschäftigt sich seitdem mit der Geschichte der DDR. Seine Doktorarbeit hat er über Rationalisierung und soziale Konflikte in der DDR geschrieben. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Linksfraktion im Bundestag. Win Windisch wurde in Ost-Berlin geboren und war bis zur zweiten Klasse Jungpionier. Derzeit ist er bei Die Linke.SDS an der Humboldt Universität Berlin aktiv.