"Rechts, wo die Mitte ist"

Dresden: Von Opferdiskursen und Extremismusbegriffen

In dem Aufruf "Erinnern und Handel. Für mein Dresden" der Oberbürgermeisterin der Elbmetropole heißt es: "Wir erinnern an die Zerstörung des Dresdner Stadtzentrums zwischen dem 13. Und 15. Februar 1945 durch alliierte Luftangriffe, an den Tod mehrerer Zehntausender Menschen und das Leid der Überlebenden." In dem Mobilisierungsflyer "Gegen Krieg, Bombenterror und Vertreibung" der (gemäßigt) neofaschistischen Jungen Landsmannschaft Ostdeutschlands (JLO) wird zum Gedenken "der vielen Tausend Toten" aufgerufen, die durch die Bombenangriffe umkamen. 

Im Kern geht es also um dasselbe: der Erinnerung deutscher Opfer. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass an der offiziellen Kranzniederlegung der Dresdener bürgerlichen Elite am Samstag auch rund 60 Neonazis teilnahmen. Doch natürlich gibt es auch gewichtige Unterschiede in den beiden Aufrufen: Während der Aufruf der Neofaschisten sich des Duktus der Nazis bedient und die von Goebbels in die Welt gesetzten Mythen der Luftangriffe auf Dresden fortschreibt – etwa was die maßlose Übertreibung der Opferzahlen anbetrifft –, so soll laut Aufruf der Bürgermeisterin auch der Vorgeschichte des von Deutschland ausgegangenen Krieges sowie der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gedacht werden. Überdies hat die Stadt Dresden vergeblich versucht, den Nazi-Aufmarsch verbieten zu lassen. Allerdings werden die geschichtlich einordnenden Erläuterungen stets nachrangig angeführt und in der Pressemitteilung und der Medienberichterstattung fallen sie zumeist vollständig unten den Tisch. Zudem beschränken sie sich auf ein abstraktes Bekenntnis zur deutschen Täterschaft, die sogleich wieder im "Jahrhundert der Kriege, im allgemeinen Leid, hinter einer Clique von Naziverbrechern" verschwindet. Erinnern erscheint somit als unpolitisch und moralisch; Kategorien wie Schuld und Täterschaft sowie historische Kausalitäten werden in einem undifferenzierten Brei aus "Der Krieg macht alle zu Tätern und Opfern" aufgelöst.

Das 65. Jahrestag der Bombenangriffe auf die Elbmetropole rief bereits im Vorfeld eine beträchtlicher Aufmerksamkeit auf sich. Das lag in erster Linie an den Mobilisierungsversuchen der Nazis, die den größten Naziaufmarsch nach Ende des Zeiten Weltkrieges organisieren wollten. Glücklicherweise ist dies nicht gelungen – dank der Blockade, zu der antifaschistische Bündnisse aufgerufen hatten. Das größte von ihnen – "Dresden Nazifrei" – war im Vorfeld der Mobilisierung durch die Dresdener Staatsanwaltschaft mit Repressalien konfrontiert worden, weil ihr Aufruf zur Blockierung des Nazi-Aufmarsches angeblich ein Aufruf zur Gewalt darstelle. Diese indirekte Mobilisierungsunterstützung der Nazis und Kriminalisierung antifaschistischer und zivilgesellschaftlicher Kräfte steht in der unseligen Tradition der deutschen Justiz nach dem Motto "Auf dem rechten Auge sind wir blind". Nur am Rande sei erwähnt, dass ein Aufruf zur Blockade des von Nazis organisierten Antiislamisierungskongress in Köln keineswegs ein Strafbestand darstellte und, so das Komitee für Grundrechte und Demokratie, Blockaden vom Grundrecht auf Versammlung geschützt sind.

Die Dresdener Ereignisse veranschaulichen beispielhaft, inwieweit sich die bürgerliche Mitte mittels zweier Narrative bzw. Konzepte nach rechts verschoben hat, die seit einigen Jahren eine vorherrschende Stellung in der deutschen politischen Kultur einnehmen. Zum einen handelt es sich um den neuen deutschen Opferdiskurs und zum anderen um den so genannten Extremismusansatz.

Der neue Opferdiskurs setzte kurze Zeit nach Martin Walsers Paulskirchenrede von 1998 ein, in der dieser ein Ende der "Dauerpräsentation unserer Schande" gefordert hatte. Diese Art der Schlussstrichmentalität unter die Thematisierung der deutschen Verbrechen teilen Umfragen zufolge weit über die Hälfte der Befragten. Angestoßen wurde die Opferdebatte dann durch Günter Grass Novelle "Im Krebsgang", die ihre Fortsetzung in der bis heute geführte Debatte um Flucht und Vertreibung, die Bombardierung deutscher Großstädte sowie die Vergewaltigung deutscher Frauen durch die Rote Armee findet. Das Problematische an dieser Auseinandersetzung ist, dass sie auf eine Täter-Opfer-Umkehrung und damit auf eine Relativierung der deutschen Verbrechen – insbesondere der Vernichtung der europäischen Juden sowie der Sinti und Roma – hinausläuft. Der gesellschaftliche Kontext des deutschen Nazifaschismus verschwindet, sodass nicht klar ist, ob es ohne diesen auch deutsche Opfer gegeben habe. Die Neue Zürcher Zeitung bezeichnete dieses Narrativ als "mentalen Status quo der Berliner Republik im neuen Jahrhundert".

Darüber hinaus ist für den Opferdiskurs kennzeichnend, dass zumeist von einem Tabu der Erinnerung an die deutschen Opfer gesprochen wird, was nicht den Tatsachen entspricht. Das Thema war in den 1950er und 1960er Jahren sehr gegenwärtig. Bis in die 1950er Jahre gab es sogar ein Vertriebenenministerium, welches u.a. eine Historikerkommission mit der Erforschung von Flucht und Vertreibung aus den ehemals deutschen Gebieten beauftragte, und 1981 strahlte das öffentlich-rechtliche Fernsehen einen Dreiteiler aus, über den es auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung heißt: "Die dreiteilige Fernsehdokumentation aus dem Jahr 1981 schildert anschaulich das Leid der Betroffenen. Sie erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit – so wurde z. B. eine zum Verständnis der Zusammenhänge wichtige historische Voraussetzung, die vorangegangene Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten, nicht ausdrücklich einbezogen."

Neu an dem jetzigen Opferdiskurs ist, dass er – zumindest im offiziellen Elitendiskurs – mit einer Übernahme der deutschen Schuld einhergeht, die aber weniger an den konkret-historischen Ursachen interessiert ist, sondern das ritualisiert-moralische Schuldbekenntnis mit einem Lob der deutschen Vergangenheitsbewältigung kombiniert. Somit steht die "glücklich entsorgte nationale Geschichte der Idealisierung des Eigenen nicht länger im Weg", wie Jürgen Habermas es formulierte.

Das Extremismuskonzept ist in den offiziellen Aufrufen der Dresdener bürgerlichen CDU-Mitte nur indirekt vorhanden, in Interviewäußerungen und vor allem im Handeln der Dresdener Staatsanwaltschaft hingegen ganz offenkundig. Dies ist kein Wunder, ist Sachsen doch Vorreiter in der Gleichsetzung von links und rechts. Mittlerweile hat dieses Vorgehen aber durch den Koalitionsvertrag und durch die neue Familienmisterin Kristina Schröder geb. Köhler, die als Arbeitsschwerpunkt bislang den Kampf gegen den Extremismus geführt hat, eine bedeutende Aufwertung erfahren. Der Vertrag zwischen CDU und FDP sieht vor, dass die bislang nur für den Kampf gegen Rechtsextremismus eingeplanten Mittel nun auch für den Kampf gegen Linksextremismus und Islamismus eingesetzt werden sollen. Die Aufbauschung der Gewalt von links sichert dieses Vorgehen ab. Wie absurd diese Gleichsetzung ist, wird klar, wenn man sich folgendes in Erinnerung ruft: Durch neonazistische Gewalt sind seit 1990 ungefähr 140 Menschen gestorben und unzählige verletzt worden, während linke Gewalt sich vornehmlich gegen Sachen richtet.

Der Extremismusbegriff ist eine Ableitung des Totalitarismusbegriffs, der in der alten Bundesrepublik den Rang einer inoffiziellen Staatsideologie innehatte – die sozialliberale Ära mal ausgenommen. Anwendung findet der Ansatz primär beim Verfassungsschutz, während die Politologen Backes und Jesse für seinen theoretischen Überbau zuständig sind. Im Kern besagt der Extremismusansatz, dass Abweichungen von einer politischen Mitte – egal ob von rechts oder von links – extremistisch seien, die es somit strafrechtlich zu verfolgen gelte. Die politische Mitte wird definiert als freiheitlich-demokratische Grundordnung und (soziale) Marktwirtschaft, die die bürgerlichen Ideale von Gleichgewicht, Maß und Harmonie am besten gewährleisten. Der Extremismusbegriff zielt somit im Wesentlichen auf die Rechtfertigung des Status quo. Es ist des Weiteren inhaltsleer, weil eine Mitte – darauf hat der Verfasser des Buches "Rechts, wo die Mitte ist", Kurt Lenk, in seinem Aufsatz "Vom Mythos der politischen Mitte" hingewiesen – gänzlich von den Rändern her abhängt. Aus der Inhaltslosigkeit der Mitte-Bestimmung folge die Flexibilität des jeweiligen Mitte-Begriffs. Und gerade das ist das Gefährliche am Extremismusbegriff: Er gibt vor, die Demokratie zu schützen, erweist sich aber selbst als Demokratie gefährdend, wie es im Freitag mit Bezug auf die Ereignisse in Dresden heißt. Indem die herrschende Elite sich zur Mitte erklärt, die per Definition nicht rassistisch, antisemitisch, geschichtsrevisionistisch sein könne, und indem sie sich formal von den Rechtsextremisten distanziert, trägt sie zur Verharmlosung eben jener aus der Mitte der Gesellschaft kommenden Gefahren bei.

Wenn man also schon über Extremismus reden mag, dann bitte über den "Extremismus der Mitte". Dieses von Seymour Lipset in Bezug auf den Aufstieg und die Massenbasis der NSDAP eingeführte Theorem hat in der Gegenwart Anwendung auf die Rechtsextremismus- und Faschismusforschung gefunden. Wilhelm Heitmeyers Langzeituntersuchung "Deutsche Zustände" zum Beispiel zeigt auf, wie weit antidemokratisches Denken und "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" gerade in der Mitte der Gesellschaft verankert ist. Erinnert sei auch an Adornos Mahnung, dass das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potenziell bedrohlicher einzuschätzen ist als das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie. Und der Faschismusforscher Roger Griffin schätzt den "Extremismus der Mitte" als gefährlicher ein, da er sich im demokratischen Spektrum verortet, eben weil er "von vielen Bewohnern der westlichen Welt als Normalität und Gemeinsinn" erfahren werde.

Der gerne geäußerte Vorwurf, dass die Nazis die Erinnerung an die Dresdener Bombenopfer instrumentalisieren würden, läuft deshalb ins Leere, weil einerseits öffentliche Erinnerung von Geschichte immer eine Instrumentalisierung für gegenwärtige Zwecke darstellt und andererseits nicht befriedigend erklärt wird, warum sowohl bürgerliche Mitte als auch Nazis im Kern dasselbe praktizieren. Die Instrumentalisierung des staatsoffiziellen Diskurses besteht darin, ein Bekenntnis zur realexistierenden Demokratie abzulegen und jene, die ihr antifaschistisches Engagement und ihre Instrumentalisierung der Historie mit einer Demokratisierung weiterer gesellschaftlicher Verhältnisse – etwa das der Ökonomie – verbinden, als Extremisten den Neofaschisten gleichzusetzen und auszugrenzen.

Die Dresdener wie die deutsche Bevölkerung im Allgemeinen wären indes besser beraten, daran zu erinnern, warum in konkret-historischen sozialen Verhältnissen so viele ihrer Vorfahren zu braven Mitläufern und Tätern eines beispiellosen massenmörderischen Regimes wurden (was ein privates Gedenken an die eigenen Opfer ja nicht ausschließen muss).