Urbanisten versus Populisten

Die Pluralität oppositioneller Diskurse in Ungarn als Ausgangspunkt der Polarisierung des postsozialistischen Parteiensystems

Im Vergleich der postkommunistischen Demokratien hat sich das ungarische Mehrparteiensystem zügig etabliert (vgl. Kitschelt et al. 1999). Im Unterschied etwa zu Polen, Bulgarien und der Slowakei war die Parteienlandschaft hier schon zu Beginn der 1990er Jahre durch die aus Westeuropa bekannten Lager der Sozialdemokratie, der Christdemokratie und des Liberalismus gekennzeichnet. Parteien in postkommunistischen Demokratien werden gemeinhin als Produkte der neuen politischen Rahmenbedingungen - Freiheitsrechte, Öffentlichkeit und Offenheit - betrachtet (vgl. Rose-Ackerman 2005). Dabei wird oft übersehen, dass Keimformen der später zu Tage getretenen parteiideologischen Konfliktlinien oft schon vor dem Regimeumbruch von 1989/90 in den dissenten bzw. oppositionellen Milieus angelegt waren. Entsprechende Formen eines vorpolitischen Pluralismus lassen sich aus den regimekritischen Diskursen der Samizdat-Öffentlichkeit rekonstruieren. In diesen Diskursen wurden Positionen und Gegenpositionen entwickelt, die schon seit längerem in oppositionellen politischen Kulturen tradiert waren und im Zuge der Öffnung des politischen Raums erneut bzw. erstmals öffentlich artikuliert wurden.

Die Forschung zur Entwicklung der postsozialistischen Parteiensysteme hat sich weitgehend unabhängig von der Forschung zu Dissidenz und Opposition im Staatssozialismus entwickelt und diese kaum reflektiert (Beyme 1994). Die historischen Untersuchungen zu Dissenz und Opposition in Ostmitteleuropa sind auf den Zeitraum der Existenz der staatsozialistischen Systeme beschränkt, d.h. die Zeit von 1945 bis 1990. Die Forschung zu postsozialistischen Parteiensystemen setzt in aller Regel bei den ersten freien Wahlen um 1990/91 an und bezieht sich im Weiteren auf die Konsolidierung der neuen Demokratien in der EU. Doch die beiden Themenbereiche, die bislang mit unterschiedlichen Methoden und Theorien untersucht werden, haben eine Reihe von von Anknüpfungspunkten, die bisher nicht genügend oder gar nicht berücksichtigt wurden.

Die oppositionellen Diskurse waren Sammelbecken neuer institutioneller Modelle, die in Kritik an den existierenden Institutionen des Staatssozialismus entworfen wurden. Ideen der Führungsfiguren der Opposition wurden dann zu Leitideen in der Gründungsphase der neuen Parteiensysteme. Sogar einzelne Bewegungsorganisationen oppositioneller Subkulturen konnten zum Ausgangspunkt für die Entstehung neuer Parteien werden. So ist zwischen den intellektuellen Subkulturen der staatsozialistischen Ära und den intellektuellen Milieus der neuen postsozialistischen Parteien und Bewegungen eine beachtliche personelle Kontinuität zu verzeichnen (Schöpflin 1993). Die Ausgangspunkte der politischen Gesellschaft und der Zivilgesellschaft in den postsozialistischen Demokratien waren die sozialen und politischen Netzwerke der Opposition, die in den neuen politischen Systemen in Folge der Parteiengründung in Machtpositionen gelangt sind (Fehr 1996). Die deutsche Forschung hat sich bisher sich weitgehend auf Ostdeutschland konzentriert, wo diese Zusammenhänge wegen der Rolle der Bundesrepublik und des Untergangs der DDR weit weniger ausgeprägt sind als in den „Visegrad-Staaten" Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei. Der Fokus auf Ungarn im folgenden Beitrag soll die Berechtigung eines vergleichenden Untersuchungsansatzes keineswegs in Frage stellen. Vielmehr geht es darum, die These von der historischen Verankerung postsozialistischer parteipolitischer Konfliktlinien durch eine Fallstudie zu untermauern, die mittels der Analyse der oppositionellen Diskurse im Staatssozialismus die historischen Wurzeln der Polarisierung zwischen Rechts und Links im heutigen ungarischen Parteienwettbewerb aufzeigen soll.

Das politische Denken der ungarischen Oppositionellen hat sich im Laufe der staatsozialistischen Ära in eine säkularisierte Richtung entwickelt, in der Kategorien, Begriffe und Argumentationsweisen aus Philosophie, Recht, Ökonomie, Politik- und Sozialwissenschaften im Vordergrund standen. Ein Spezifikum gegenüber der DDR und der ČSSR war der hohe Stellenwert der nationalen Problematik, die innerhalb der oppositionellen Diskurse und Orientierungen eine autonome Richtung begründete - den ungarischen Populismus (Borbándi 1989). Die nationale Problematik war in Ungarn ähnlich wichtig wie in Polen, hatte jedoch andere Akzente. Ungarn ist nach dem ersten Weltkrieg als autonomer Staat aus der Habsburger Monarchie entstanden, hatte dabei aber großen Gebiets- und Bevölkerungsverluste an andere neue Nationalstaaten wie die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien hinzunehmen. Die unter der Vorherrschaft des Dritten Reichs hinzugekommenen Gebiete sind nach dem zweiten Weltkrieg wieder verloren gegangen. Und nach der kommunistischen Machtübernahme war die ganze nationale Problematik als solche weitgehend Tabu; ihre Thematisierung wurde unterdrückt und verfolgt. Eine Folge dieser Tabuisierung war die Stärkung des Nationalismus bzw. Populismus in der ungarischen Emigration und in gewissen Bereichen der Kultur und Literatur. Die Literatur war eines der wichtigsten Medien für die Erhaltung des ungarischen Populismus während der kommunistischen Herrschaft. Literaten, Schriftsteller, Dichter und Dramatiker wie Sándor Csoóri, István Csurka oder Dénes Csengey wurden zu den Führungsfiguren der populistischen Opposition. Mit der politischen Liberalisierung in den 1980er Jahren ist der Populismus dann aus Kunst und Literatur in das öffentliche Leben und die Politik zurückgekehrt.

Ähnlich wie in anderen Ostblockländern haben sich auch in Ungarn aufgrund der Zensur und der Kontrolle der Kirche und der Populisten in den 1950er Jahren Dissenz und Opposition bzw. Systemkritik zunächst innerhalb marxistischer Milieus artikuliert. Hier wurde Kritik als eine Aufgabe des Marxismus an den „Verhältnissen" verstanden, die nun nicht mehr bürgerliche Gesellschaft und Politik, sondern die sozialistische Gesellschaft und Politik darstellten. Der Charakter des neuen Regimes, dessen mangelnder Bezug zu den ursprünglichen ideologisch-utopischen Zielvorstellungen bzw. die Krise und die Verstümmelung des „real existierenden" Sozialismus waren die Hauptrichtungen der Kritik. So haben sich kritische und dogmatische, offizielle und inoffizielle Marxisten und ihre Richtungen entwickelt, und für längere Zeit fast eine Monopolstellung in den kritischen Diskursen behaupteten. Diese Dominanz ist vor allem mit der Enttäuschung jüngerer wie auch älterer marxistisch orientierter kritischer Denker und Schulen aufgrund von Repressionen und der Wiederkehr von stalinistischen -sowjetischen Methoden im In- und Ausland zu erklären, deren paradigmatisches Beispiel der Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in Prag 1968 darstellte. Danach setzte ein „langer Marsch" der Abkehr vom Marxismus zum Liberalismus ein (Faragó 1986), in dessen Folge letzterer neben dem Populismus zur neuen Hauptrichtung des kritischen oppositionellen Denkens wurde, während der Marxismus selbst für die Reformer in der Partei belanglos wurde.

Liberaldemokratische Systemkritik - die „Urbanisten"

Im Kontext des hier behandelten Themas ist zwischen Liberalismus im engeren Sinne und der liberal-demokratischen Strömung innerhalb der ungarischen Dissidentendiskurse der 1970er und 1980er Jahre zu unterscheiden. Liberalismus im engeren Sinne hat in Ungarn wie in Europa generell als Mitglied der Familie von europäischen politischen Denkrichtungen eine klare ideengeschichtliche Perspektive im Bezugssystem von Sozialismus, Konservativismus, Nationalismus usw. In den ungarischen oppositionellen Diskursen der 1970er und 1980er Jahre hingegen dominierte die Gegenüberstellung zwischen „Urbanisten"(urbánus) - liberaldemokratisch bzw. sozialistisch orientierten Intellektuellen - und Populisten (népiek),  d.h., national-ungarisch gesinnten Intellektuellen. Diese Konfliktlinie kennzeichnet bis heute auch die Forschung und die öffentliche Wahrnehmung der Opposition in Ungarn. Den Populisten galten Marxisten, Sozialisten, Liberale und Sozialwissenschaftler mit „westlichen Konzepten" allesamt als „Urbanisten", die sie vor allem als „Liberale" verstanden. „Liberal" fungiert hier als ein politischer „Kampfbegriff" mit einer Schwarz-Weiß-Logik; er bezeichnet die „nicht ungarisch Denkenden" - im Unterschied zu „uns", den „wahren Ungaren". Man will natürlich diese Unterscheidung keineswegs als analytischen Begriff reproduzieren, aber da sie gewissermaßen zu einer Fremd- wie Selbstbeschreibungskategorie geworden ist, ist darauf hinzuweisen, dass dem „liberal-demokratischen" Lager alle sich auf „westliche" Ideologien beziehende Kritiker einschließlich der aus dem Marxismus hervorgegangenen liberalen und demokratischen intellektuellen Milieus zugeschlagen werden.

Diese Rivalität zwischen „Populisten" und „Urbanisten" erinnert am ehesten vielleicht an die aus der russischen Ideengeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts bekannten Auseinandersetzungen zwischen den Narodniki (Volkstümlern) und den Zapadniki (Westlern). Ähnlich wie im zaristischen Russland entstanden in Ungarn schon unter der Habsburger Monarchie oppositionelle Gruppierungen mit unterschiedlichen Zielorientierungen und Wertemustern, die sich an Begriffen wie Nation, Identität, Gemeinschaft (Populisten, Narodniki) bzw. Fortschritt, Demokratie, bürgerliche Gesellschaft (Urbanisten, Zapadniki) fest machten. Die Populisten (das ungarische Wort „népi" bzw. „népies" kommt dem deutschen „völkisch" ziemlich nahe) verfochten die Idee eines nationalen Sonderwegs zwischen Ost und West, einer „organischen" Alternative jenseits der westlichen Modelle von Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie. Für die Urbanisten, die sich in der Zwischenkriegszeit in verschiedene Gruppen aufspalteten, markierten die westlichen Traditionen von Marktwirtschaft und Parlamentarismus die maßgeblichen Orientierungswerte. Aber beide Gruppierungen gehörten zur Opposition gegen das Horthy-Regime. Da aber Kommunisten und Faschisten - mit je eigenen Begründungen - gegen die Wertorientierungen der Urbanisten standen, zeigten sich die Populisten der Zwischenkriegszeit diesen beiden geistig-politisch Richtungen und Bewegungen gegenüber anfällig.

Wenngleich die Themen der Urbanisten, der sog. „demokratischen Opposition" („demokratikus ellenzék"), denen der Populisten mitunter ähnlich waren, folgten deren Diskurse und Problemdeutungen doch grundsätzlich anderen kulturellen Mustern und Wertorientierungen. Von den Urbanisten der Zwischenkriegszeit, den Zapadniki, hatte sich niemand in die kommunistische Elite hinüber gerettet. In den 1960er Jahren bildete sich jedoch eine neue Urbanisten-Generation heraus, die ihren Ausgangspunkt im kommunistischen Milieu selbst hatte. Wichtige Vertreter des Revisionismus, die nach den Enttäuschungen der 1950er Jahre zu Liberalismus, Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie konvertierten, waren früher selbst Mitglieder oder Funktionäre der kommunistischen Partei gewesen, hatten mit späteren Führungskadern zusammen an ungarischen oder sowjetischen Universitäten studiert und verfügten daher ebenfalls über enge Kontakte in die Staatselite. Ihre Schirmherren waren jedoch andere als die der Populisten, und ihre Einflusskanäle im „System" waren anders organisiert. Die Urbanisten entstammten in der Regel auch anderen Berufsgruppen, sie kamen aus der Philosophie und den Sozialwissenschaften, der Ökonomie, Psychologie usw. Ihre Themen waren Wirtschaftsreform, Menschenrechte, politische Reformen, Mehrparteiensystem, Toleranz, Pressefreiheit, Parlamentarismus. Insbesondere in der Ökonomie zeigte sich ein starker Einfluss oppositioneller Ideen, oder anders formuliert: die experimentierfreudige Wirtschaftspolitik des Kádár-Regimes hat Generationen von sog. „Reformökonomen" hervorgebracht, die schon in den 1960er Jahren die marktsozialistischen Reformen als Übergangsphasen zu Marktwirtschaft und Demokratie, als Schritte in Richtung EG und OECD ansahen und kommunistische Parteiherrschaft und Planwirtschaft als historische Überbleibsel betrachteten. Die Unterschiede zwischen den offiziellen und den inoffiziellen Diskursen waren in der Ökonomie viel geringer als in politischen Themenbereichen, insbesondere den Diskussionen zur Menschenrechtslage im Kádárismus. Auch Ökologie und Naturschutz wurden im Diskurs der Urbanisten thematisiert, allerdings eher vor dem Hintergrund der Neuen Linken als im wertkonservativen Horizont der Populisten. Diese Unterschiede hatten, wie oben angesprochen, ihre historischen Wurzeln in den frühen Orientierungskonflikten der sich herausbildenden ungarischen Nation. Bereits in den 1960er Jahren bildeten sie, eher als wiederkehrende Muster denn durch personelle Kontinuitäten zur Zwischenkriegszeit bedingt, das dominante und für außen stehende Beobachter deutlich wahrnehmbare Strukturierungsprinzip der ungarischen Opposition (Schöpflin 1979). In den folgenden Jahren hat sich dieser Konflikt weiter ausgeprägt, während der Krise und Demokratisierung des Kádár-Regimes wurde er schließlich auch für die breite Öffentlichkeit mehr und mehr manifest. Wie Ervin Csizmadia feststellt, hat selbst die kommunistische Parteiführung die oppositionellen Gruppen nach diesen beiden Lagern unterschieden: die einen bezeichnete sie als „Bürgerliche" („polgári"), die anderen als „radikale Nationalisten" („nemzeti radikális") (Csizmadia 2001: 71).

Zentrale Themen der liberal-demokratischen Kritik in der Kádár-Ära waren Planung in der Ökonomie und Gesellschaft, Zentralismus und Autoritarismus. Diskutiert wurden klassische (Mill, Rousseau, Constant) und neue Literatur des Liberalismus (Popper, Hayek, Rawls). Orwells Werke galten, wie überall im Ostblock, als Paradigma der Totalitarismuskritik. Menschenrechte, Marktwirtschaft und liberale Demokratie waren die innenpolitischen Eckwerte, Antimilitarismus, Neutralität und friedliche Konfliktlösungsstrategien die außenpolitischen. Besondere Aufmerksamkeit galt dem internationalen Kontext - dem KSZE-Prozess, der Menschenrechtspolitik der USA, den Gefahren des Sowjetimperialismus,  liberaldemokratischen Strömungen in der Opposition anderer Ostblockländer, einer europäischen Perspektive für Ungarn wie für Österreich bis zur Möglichkeit für einen Eintritt in die EU (Schlotter 1999; Thomas 2001).

Das Verhältnis der Liberalen zu den Populisten war sowohl durch Konflikt als auch punktuelle Kooperation gekennzeichnet. Dabei waren die Grenzen der Gemeinsamkeiten von vornherein klar, und mit der Zeit verschärften sich die Konflikte. Die wichtigsten Versuche einer Kooperation waren das Bibó-Gedenkbuch 1979 und das Treffen von Monor 1985. In beiden Fällen ging es darum, eine gemeinsame kritische Perspektive gegenüber dem Regime zu entwickeln. Der Politiker und Sozialwissenschaftler István Bibó (1911-1979) eignete sich für beide Strömungen als Bezugsperson (Bibó 1986). Politisch aktiv war er in der kurzen demokratischen Episode unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg sowie im Jahr 1956. Danach war er viele Jahre lang in Haft und wurde zu seinen Lebzeiten nie vollständig rehabilitiert. Seine wissenschaftlichen Arbeiten behandelten vorzugsweise die Entwicklung von Recht, Kultur und Politik in Ungarn und Ostmitteleuropa und boten damit einen guten geistigen Orientierungspunkt für den Übergang der jüngeren Mitglieder der Budapester Schule vom ökonomischen Zentrismus des Marxismus zu einem liberalen Weltbild. Zu Bibós Stärken gehörte, dass er sich bei der vergleichenden Analyse der europäischen Gesellschaften mehr auf die konkreten historischen und kulturellen Kontexte anstatt auf abstrakte Modelle bezog. Sein Engagement für Freiheit und Demokratie bzw. Menschenrechte und Zivilgesellschaft hat ihn sowohl im theoretischen als auch im praktischen Sinne zum Vordenker und Vorbild gemacht. Seine Identifizierung mit der Revolution von 1956 und seine Leidensgeschichte trugen dazu bei, dass sich dieses Ereignis für beide Richtungen der ungarischen Opposition zu einem zentralen Bezugspunkt verfestigte. Das voluminöse Bibó-Gedenkbuch (Réz 1991) ist damit zu einem Dokument der Gemeinsamkeiten und der Kommunikationsbereitschaft der beiden Hauptrichtungen der Opposition geworden und es dokumentiert, welche Entwicklung die früheren Mitglieder der Budapester Schule auf dem Weg von Marxismus zum Liberalismus durchlaufen hatten. Im Folgenden einige prominente Beispiele:

Mihály Vajda, der früher mit Ágnes Heller über neue Familienformen geforscht hatte, beteiligte sich am Bibó-Gedenkbuch mit der Studie „Zivilgesellschaft und Demokratie"(Civil társadalom és demokrácia), in der er sich der für die kontinentale liberale (und neomarxistische) Theorie zentralen Kategorie der Zivilgesellschaft zuwendet (Réz 1991, Bd. 2, 183-194). Ausgehend von Bibó, der in der europäischen Entwicklung einen Trend zu gewaltloser Konfliktlösung durch demokratische Mechanismen ausmachte, sieht Vajda sieht diese Tendenz durch den real existierenden Sozialismus gestoppt. Er versteht - in der Tradition von Bibó sowie des Neomarxismus - Demokratie als eine Lebensform, ein soziales Gefüge jenseits des puren Recht und politischer Institutionen. Er konzipiert Kleingruppen, in denen die Individuen wechselnde Identitäten und konstruktives Verhalten erfahren, als Vorbedingung der Demokratie, und begibt sich damit in die Tradition einer partizipatorischen Zivilgesellschaft im Sinne von W. von Humboldt, J. S. Mill und Tocqueville. In Ost- bzw. Ostmitteleuropa, so Vajda, sei diese zivilgesellschaftliche Entwicklung jedoch nicht oder  allenfalls ansatzweise ausgeprägt. Ohne die Differenzierung von Staat und Gesellschaft sei Demokratie aber nicht möglich. Die Perspektive auf Demokratie wird hier vom Produktionsprozess auf den Lebenszusammenhang und den rechtlich-politischen Bereich ausgeweitet, aber als im sozialen Leben verwurzelt verstanden. Die bürgerliche Entwicklung tritt als unentbehrliche Vorbedingung von Demokratisierung hervor. Soziale und politische Probleme einer dynamischen Gesellschaft seien praktisch zu lösen, aber - und hier werden Vajdas Abkehr von der sozialistischen Utopie wie auch seine Kritik am liberal-anarchistischen Utopismus von einem „Nachtwächterstaat" deutlich - nicht in dem Sinne, dass die Gesellschaft erlöst, gleichsam „geheilt" wird. Staat und Politik könnten nicht in eine „gesellschaftliche Funktion" aufgelöst werden, sondern müssten gesellschaftlich kontrolliert werden. Gleichwohl gibt Vajda die sozialistische Perspektive nicht völlig auf: „In dieser Perspektive ist moderner Sozialismus nichts anderes als die Vervollkommnung der Entscheidungsmechanismen der zivilen, bürgerlichen Gesellschaft, in der Richtung, dass alle aktuellen sozialen Konflikte rational gelöst werden können" (ebd., 192). Was, so fragt Vajda, kann man tun, um das Defizit an Demokratie in Ostmitteleuropa zu beseitigen? Seine Antwort: „trotz der unmöglichen Verhältnisse muss man versuchen, diese Verhaltensformen in den erreichbaren Milieus der Öffentlichkeit auszuüben" (ebd., 193), d.h., sich oppositionellen Diskursen und Praktiken zuzuwenden.

Einen anderen, dem historischen Liberalismus näher stehenden Ansatz, formulieren György Bence und János Kis in ihrer Studie „Begrenzte Revolution, beschränktes Mehrparteiensystem, bedingte Souveränität" (Határolt forradalom, megszorított többpártrendszer, feltételes szuverenitás) (Réz 1991, Bd.1., 386-403). Jenseits des herkömmlichen Untersuchungsrahmen von Markt, Sozialismus und Produzentendemokratie werden hier die Grundkategorien der Politik- und Rechtswissenschaften in Anlehnung an Bibó in einem sozialliberalen Bezugsrahmen thematisiert, in dem Politik auch als ein gesellschaftliches Unternehmen betrachtet wird. So wird die ungarische Revolution von 1956 - wie dann auch in späteren Arbeiten der Autoren - als ein Experimentierfeld für Arbeiterselbstverwaltung und politische Demokratie interpretiert. Demokratie, politischer Pluralismus und nationale Unabhängigkeit sind die Schlüsselkategorien ihrer Analyse, die deren Mangel in den sozialistischen Systemen konstatiert.

Nach Beendigung der Zusammenarbeit mit Bence hat sich Kis in kritischer Auseinandersetzung mit John Rawls und anderen geistig-politisch in Richtung eines modernen Liberalismus entwickelt. In seiner Monographie „ Ob wir Menschenrechte haben?" (Vannak e emberi jogaink? ) (Kis 1987) thematisiert er die Grenzen der individuellen Autonomie gegenüber dem Staat: „Die Bürger sind formal dem Staat nicht untergeordnet, wie auch die Wirtschaftseinheiten nicht. Aber weder die Bürger noch die Unternehmen haben gegenüber dem Staat irgendwelche festgeschriebenen Rechte. In einigen Rechtsgebieten gibt es gar keine Regelungen, (...) wie hinsichtlich Streiks oder psychiatrischer Zwangsbehandlungen. (...) In anderen Gebieten gibt es nur sehr allgemeine Gesetze und ministeriale Verordnungen (...), wie z.B. in Bezug auf Auslandsreisen. (....) In manchen Gebieten gelten nur solche Verwaltungsverordnungen (...). Notfalls werden die bürgerlichen Freiheiten durch ministeriale Verordnungen zunichte gemacht (...).Oder es gibt Punkte in den Gesetzen, die gegen jegliche Verfassungslogik stehen (...),  wie im Falle der Pressefreiheit (...). Verordnungen herrschen über Gesetze und Verfassungen" (ebd., 137f.). „Diese Rechtstruktur ähnelt sehr dem System des frühen Totalitarismus, und es ist durch zwei Charakteristika gekennzeichnet. Zum einen werden die Zwangs- und Verfolgungsmechanismen zu Ordnungsmächten mit eigenen Mitteln, um wirtschaftliche und soziale Veränderungen zu verwirklichen. Massive staatliche Gewalt enteignet Privateigentümer, entfernt alte Eliten aus ihren Positionen, sichert die nötige Arbeitskraft für die Arbeitslager. Zum anderen war der frühe Totalitarismus dadurch charakterisiert, dass eine Atmosphäre allgemeiner Furcht und Angst die Alltagsroutinen vernichtete. Neue und außerordentliche Mobilisierungskampagnen wurden gestartet, haben die Menschen ihrer gesetzlich geregelten Freizeit beraubt, ihre intimsten Beziehungen und Gedanken beeinflusst. (...) Im späteren totalitären System sind die Behörden einigermaßen kalkulierbar, und es wächst der Bereich des Alltagslebens, in dem die Staatsmacht nicht mehr alles direkt kontinuierlich kontrolliert und beeinflusst. Es gibt einen größeren Anpassungsfreiraum, aber die Menschen haben keine Grundrechte gegenüber der Macht (...). Nicht mehr kontinuierlich ausgeübte Gewalt, sondern ein allgegenwärtiges Gefühl von Ausgeliefertsein erhält die Konformität gegenüber dem Regime" (ebd., 140f.). Kis baut seine Kritik an Recht, Politik und Wirtschaft des Staatsozialismus in eine neue Synthese von Liberalismus und Sozialismus, „eine sozialliberale Auffassung" (ebd., 175): „Es lohnt sich, eine dritte Alternative zwischen demokratischem Sozialismus und egalitärem Liberalismus zu unterscheiden", eine Position, die sich ungeachtet der Ablehnung der staatssozialistischen Lösungen „verpflichtet fühlt, die Suche nach bestehenden Alternativen jenseits des institutionellen Gefüges von Marktwirtschaft, Verfassungsrecht, Gewaltenteilung, repräsentativer Verfassung nicht aufzugeben. (...) diese Zwischenposition nenne ich Radikalismus. (...) und ich sehe mich in dieser Tradition" (ebd., 176/ Hervorhebung im Original).

Nachdem Kis im Abschlusskapitel „Von der Philosophie zur Politik" in Auseinandersetzung mit Kant, Rawls, Robert Nozick und anderen seine Position zur Theorie der Menschenrechte entwickelt hat, schließt er mit dem Fazit: „Die Staaten im Sowjetsystem erkennen die Menschenrechte nicht an, oder verletzen sie ständig, und berufen sich dabei auf schwer zu verteidigende Interessen. Sie rechfertigen, dass hier die klassische Menschen- und Bürgerrechte weniger gesichert sind, damit, dass dem Bürger umfassende wirtschaftliche und soziale Rechte zustehen. Aber auch diese sind hier nicht in dem Maße gesichert wie in den westlichen Demokratien. Und das, was gesichert ist, wie z.B. die Sicherheit des Arbeitsplatzes, geht nicht auf den Mangel an garantierten Menschen- und Bürgerrechten zurück, sondern ist durch andere wirtschaftliche und soziale Probleme bedingt. Wir können auch die anderen Argumente für die Beschränkung der Menschen- und Bürgerrechte nicht akzeptieren, wie z. B. das, dass die Öffentlichkeit erst noch dazu erzogen werden muss, das allgemeine Interesse an der Verteidigung des Staates gegenüber oppositioneller Kritik und Auflehnung zu erkennen, ehe Meinungsfreiheit gewährt werden kann. Der Staat darf nicht die Rolle des Erziehers mündiger Bürger einnehmen. (...) Wenn der Staat Gewalt gegen die Bürger anwendet, Gewalt im weiten Sinne und massenhaft, dann ist gewaltsamer Widerstand berechtigt, und Zensur über oppositionelle Stimmen ungerecht. ... Zensur im Sowjetsystem ist beliebig. (...) der Staat selektiert nach seinen Präferenzen unter den Ideen und Publikationen. Dies ist nicht zu unterstützen, mit keinem Argument (...). Die offizielle Propaganda spricht über Pressefreiheit in den sozialistischen Ländern (...) als etwas, was aufgrund der Interessen der sozialistischen Gesellschaft, der öffentliche Interessen, begrenzt ist (...). Die Kritik dieses Standpunktes lautet, dass die erwähnten gemeinsamen Interessen in Wirklichkeit die Interessen der herrschenden Gruppierungen, die persönlichen und institutionellen Interessen der herrschenden Institutionen sind. Für die Meinungsfreiheit können wir mit den allgemeinen Interessen der Gesellschaft argumentieren; Vielfalt der Kultur bereichert das Gemeinwesen, Freiheit der Kritik als Gegenmacht zur Geheimnistuerei des Staates verbessert die Chancen der gesellschaftlichen Kontrolle über den Staat" (ebd., 194f.). Zur Rolle von Opposition und Dissens schreibt Kis: „Die Menschenrechtsbewegungen fordern nicht nur die Rechte der Gesellschaft, sondern praktizieren sie sogar in einer provozierenden Weise, d.h., sie betreiben eine Art von gewaltlosem zivilem Ungehorsam (polgári elégedetlenség). Allerdings gibt es für die Opposition keine generelle Vollmacht, Gesetze zu verletzen; der Ungehorsam muss in jedem Einzelfall spezifisch begründet werden" (ebd., 196f.). Seine Schlussfolgerung: „Wir müssen protestieren, weil unsere eigene Menschenwürde dadurch beschränkt wird, dass wir etwas tun könnten, es aber nicht tun, und wir dulden, was nicht zu tolerieren ist. Wir müssen protestieren, damit Rechtsbruch als Rechtsbruch anerkannt wird. Es muss ausgesprochen werden: Die Bürger haben ihre Grundrechte nicht vom Staat zu erhalten - sie haben Menschenrechte" („vannak emberi jogaik") (ebd., 209/ Hervorhebung im Original).

Kis erörtert in seinem Menschenrechtsbuch die Probleme von Zensur und Samizdat und denkt über Möglichkeiten und Alternativen von Pressefreiheit im Sozialismus nach (ebd., 204ff.). Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Zensur, Samizdat waren die wichtigsten Menschenrechtsthemen in den Diskursen der ungarischen und osteuropäischen Oppositionsbewegungen, die klassische und moderne liberale Fragestellungen mit der Praxis der sozialistischen Gesellschaften konfrontierten. Die darin enthaltenen Implikationen hinsichtlich der Freiheit der Künste und der Wissenschaften waren insofern bedeutsam, als viele Künstler und in Falle Ungarns viele Sozialwissenschaftler (in der UdSSR und der DDR auch Naturwissenschaftler) maßgeblich an regimekritischen Diskursen beteiligt waren.

Der Freiheit der Künste und der Wissenschaften hat sich vor allem György Konrád in vielfältigen Aktivitäten gewidmet. Konrád steht für eine lange Reihe von ungarischen Dissidenten, die kreatives Schaffen in Kunst und Wissenschaft mit originellem politischen Denken kombiniert haben, wie z.B. auch Miklós Haraszti oder György Dalos, die hier aus Platzgründen nicht weiter berücksichtigt werden können. Zu den bekanntesten Werken, die seine führende Rolle in den oppositionellen Diskursen nicht nur in Ungarn, sondern in Ostmitteleuropa generell begründeten, zählen die international anerkannte, gemeinsam mit Iván Szelényi verfasste sozialwissenschaftliche Studie „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht" (Konrád/ Szelényi 1978), und der Essay-Band „Antipolitik" (Konrád 1989). „Versuchungen der Autonomie" - der Untertitel des Essay-Bandes, spielt darauf an, dass der sozialistische Staat eine permanente Versuchung für die persönliche Autonomie darstellt; statt dessen solle, so Konrád, die Autonomie des Individuums eine Versuchung für den Staat bedeuten: „Unter den Spielregeln der konstitutionellen Demokratie ist es nicht so schwer für die Partner, miteinander auszukommen" (Konrád 1989, 86). „Staatskultur" ist systemstabilisierender als „Staatspolizei", ein vorpolitischer Konsens stabilisiert die autoritären Systeme, und für diesen Konsens ist jede intellektuelle Autonomie eine Herausforderung, auch eine Attitüde von „Antipolitik". Staatskultur, zentrale Bürokratie, ideologische Homogenität, Planwirtschaft, Zensur usw. sind die Institutionen, die das sozialistische System zu seiner Aufrechterhaltung und Legitimation braucht. „In der Politik des Sozialismus gibt es keinen Rechtschutz. Kontrolle des Individuums über den Staatsapparat ist unsicher. Verfassung, Rechtspraxis, Institutionen der Öffentlichkeit und Moralprinzipien geben keine Sicherheit gegenüber den Behörden und der Willkür der Führer" (ebd., 95). Konrád, studierter Jurist, kritisiert detailliert das sozialistische Staatsrecht in Ungarn und im Ostblock allgemein als ein antidemokratisches System. Insbesondere die Verletzung der Verfassungsprinzipien der Meinungs- und Pressefreiheit werden unter die Lupe genommen und anhand zahlreicher Beispiele konkret kritisiert. „Gedanken Sind Nicht ZU BESTRAFEN" (ebd., 101/ Hervorhebung im Original) - so der Anfang und das Ende seiner Ausführungen.

Das „Dritte Kapitel der Geschichte des Sozialismus" (A szocializmus harmadik korszaka) (Konrád 1989, 103-124) fasst Konráds Sozialismuskritik zusammen. Es liefert einen Überblick über die antidemokratischen Verformungen der verschiedenen Typen sozialistischer Systeme in Ostmitteleuropa. Die Arbeiterklasse erscheint hier noch als politischer Hoffnungsträger, aber ohnmächtig gegenüber dem hierarchisch eingerichteten System, Personenkult als Charakterzug des zentralistischen Apparats, dem gegenüber die Opposition eine Nische bildet. Nur sehr langfristige, kulturell und gesellschaftlich eingebettete Strategien des Veränderns, die einen längeren Atem haben als die Menschenrechtskampagnen des Westens, hätten hier Aussicht auf Erfolg. „Einparteiensystem und die von Marx hypostasierte freie Kooperation von Produzenten sind gegensätzliche Prinzipien" (ebd., 111) - so ein Topos der neomarxistischen Kritik, der hier bei Konrád wieder auftaucht. „Marx war auch ein Gegner der Zensur", sagt er richtig, aber er argumentiert nicht mehr mit der Klassenanalyse, sondern mit dem liberalen Gegensatz von Staat und Individuum, welches mit grundlegenden Freiheiten ausgestattet ist.

Die Demokratisierung der sozialistischen Systeme wird hier von Anfang an in ihren internationalen Bezügen gedacht: „Eine der schönsten Alternativen für Europa wäre Sozialdemokratie im Westen und sozialistische Demokratie im Osten" (ebd., 112), meint Konrád, aber unter „Demokratie" versteht er hier schon Gewaltenteilung und Pluralismus (ebd., 113) und nicht mehr die Selbstverwaltung der Produzenten. Könnte das „dritte Kapitel der Geschichte des Sozialismus" ein Sozialismus mit Demokratie und Mehrparteiensystem sein? so seine Frage: „Eine sorgfältig vorbereitete Verfassungsreform in Ostmitteleuropa könnte ein Stabilisierungsfaktor werden, und die darauf folgenden Regierungswechsel wären keine Systemwechsel" (ebd., 121). Demokratie versteht Konrád als eine Strategie für friedliche Konfliktlösung in Europa, und die Demokratisierung der autoritären Systeme könnte zu einem friedlichen Europa beitragen, wie in Kants Konzept vom Ewigen Frieden. Beide Parteien des Kalten Krieges sollten Verfassung, Gewaltenteilung, Republikanismus und Öffentlichkeit als geschichtsphilosophische Notwendigkeiten für den Frieden in Europa akzeptieren - eine konsequent liberaldemokratische Vorstellung, in der sich Konrád auf Montesquieu bezieht, aber auch auf Bibó selbst berufen könnte. Zugleich ist es eine sozialliberale Position, die, ähnlich wie die von Kis, eine evolutionäre Alternative für Sozialismus in Ostmitteleuropa offen hält, und die schon lange vor Perestroika und Glasnost in der UdSSR unter ungarischen und polnischen Dissidenten verbreitet war.

Die liberaldemokratische/ sozialliberale Kritik der ungarischen Oppositionellen am Sozialismus stieß im Osten und im Westen auf beachtliche Resonanz. Westliche Beobachter haben mitunter „die demokratische Opposition" schlechthin mit den Urbanisten identifiziert und die Populisten als „couleur locale" vernachlässigt. Und die zahlreichen Anknüpfungspunkte der politischen und sozialen Programmatik der Sozialliberalen zu den Sozialwissenschaften und der Kultur im offiziellen Bereich haben die innenpolitische Wirkung zweifellos befördert. So lassen sich in den offiziellen sowjetischen und ungarischen Reformdiskursen der 1980er Jahre deutliche Bezüge zur Sozialismuskritik der liberaldemokratischen Intellektuellen erkennen. Im Laufe der praktischen Reformen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahren entwickelte die liberale Opposition dann in expliziter Kritik an den bestehenden Institutionen Reformkonzepte, die dann 1989/90 zur Grundlage für parteipolitische Programmatik wurden. In dieser Zeit trat namentlich János Kis mehr und mehr als Vordenker radikaler ökonomischer und politischer Reformen in den Vordergrund der liberaldemokratischen Opposition. Um 1985 schrieb er: „Wir brauchen Reformen im Verfassungsbereich. Die Führungsrolle der Partei muss geklärt, das Verhältnis zwischen Zentralkomitee und Parlament definiert, die Rechte der Nomenklatura müssen veröffentlicht, die Kompetenzen lokaler Parteiorgane definiert werden. (...) Verordnungsregierung ist zu beenden, (...) lokale Selbstverwaltung zu entwickeln" (Kis 2005, 70). Die unmittelbar zur „Wende" führenden Reformen waren weitgehend in der liberaldemokratischen Kritik begründet, marxistische Kritik war zu dieser Zeit nicht mehr zu vernehmen. Das liberale Element bildete die dominante Denk- und Reformrichtung während des Systemwechsels; mit den Konzepten der Liberalisierung, Demokratisierung und Europäisierung wurden - in Zusammenarbeit mit progressiven Reformkommunisten und einigen Populisten - vor allem liberale Grundwerte implementiert.

Populistisch-nationalistische Systemkritik - die „Populisten"

Der ungarische Populismus hat starke Traditionen in der Zwischenkriegszeit und - im Unterschied zum Marxismus und Liberalismus - eine erhebliche Kontinuität von Akteuren und Denkrichtungen aufzuweisen. Innerhalb dieser Bewegung gab es zunächst sowohl rechte als auch linke Varianten. Führende Vertreter der hauptsächlich aus Schriftstellern, Ethnographen, Publizisten und Historikern bestehenden Bewegung waren Antisemiten, die den Kapitalismus als ein Werk des Judentums interpretierten, welches das ungarische Volk und seine Kultur zu zerstören drohe, und geistige wie politische Beziehungen zu den ungarischen Faschisten unterhielten. Linke Populisten standen dagegen dem illegalen kommunistischen Widerstand nahe und unterstützten nach dem sowjetischen Einmarsch die Machtübernahme der Kommunisten, insbesondere, weil sie sich davon eine gerechtere Bodenverteilung und die Auflösung des ungarischen Latifundien-Systems versprachen. Auf diese Weise sind nach der kommunistischen Machtübernahme einige führende Repräsentanten der linken Populisten, Schriftsteller wie Politiker, in die neuen politischen und kulturellen Eliten aufgestiegen, während andere die Ideen und die Tradition des rechten Populismus in der antikommunistischen Opposition zu bewahren suchten. Diese Zwiespältigkeit, die Gleichzeitigkeit von Nähe und kritischer Distanz zum Kommunismus, hat das Dasein der Populisten in der Opposition charakteristisch geprägt. Den oppositionellen Populisten gelang es immer wieder, innerhalb der Eliten Ansprechpartner und Fürsprecher zu gewinnen, die ihnen einen gewissen Schutz boten und Wirkungsmöglichkeiten verschafften. Die Schriftsteller Sándor Csoóri und István Csurka beispielsweise, oder die Historiker József Antall, Csaba Kiss, György Szabad und Lajos Für, die später in der postkommunistischen Ära allesamt zu wichtigen Politikern wurden, agierten politisch und kulturell sowohl auf offiziellen als auch inoffiziellen Wegen, um die populistische Untergrundbewegung, ihre informellen Gruppen und Netzwerke über die Zeit der kommunistischen Herrschaft zu retten. Sie kritisierten den Kosmopolitismus des Kádár-Regimes, prangerten die Vernachlässigung der nationalen Interessen an und beklagten insbesondere das Versäumnis, die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern zu unterstützen. In einem gewissen Maße ist es den Populisten in den 1980er Jahren gelungen, das offizielle Tabu über die Minderheitenfrage zu durchbrechen, alternative Diskurse über ungarische Identität in Gang zu setzen, Kontakte zu Intellektuellen der ungarischen Minderheiten in anderen Ländern zu knüpfen und dadurch Unterstützungsleistungen und Ressourcen für die Erhaltung des Ungarntums im Ausland zu mobilisieren. Darüber hinaus thematisierten sie eine Reihe weiterer innenpolitischer Probleme, so etwa die Verwestlichung bzw. Amerikanisierung der ungarischen Sprache und Kultur, den Umgang mit den Opfern des Stalinismus, die Neubewertung des Volksaufstandes von 1956, den Rückgang der ungarischen Bevölkerung, Landschafts- bzw. Denkmalschutz, und, nicht zuletzt, Naturschutz und Ökologie.

Über lange Zeit hat sich der Populismus sich in der Kultur „versteckt", d.h., dass angesichts der starken Unterdrückung eigenständige politische Positionen im engeren Sinne gar nicht artikuliert wurden. Vielmehr dominierten kultur- und gesellschaftspolitische Themen der oben beschriebenen Art die Diskurse. Gelegentlich haben Populisten und Urbanisten bei  Unterschriftaktionen kooperiert oder gemeinsame Diskussionen veranstaltet, wie das oben bereits angesprochene Treffen von Monor vom 14.-16. Juni 1985.

Bei diesem Treffen hat István Csurka, ein damals bereits erfolgreicher Schriftsteller und Dramatiker, der nach der Wende zu einer Symbolfigur der radikalen Rechten avancierte, die populistische Kritik am Sozialismus ausführlich und explizit formuliert. Die ungarische Gesellschaft, so Csurka in seinem Vortrag „Der ungarische Neuaufbau" (Csurka 2005), leide im Sozialismus aufgrund des „Mangels an Unabhängigkeit und Freiheit" unter Selbstausbeutung und Verformung der Kultur (ebd., 4). Diese Diagnose ermöglichte in der Tat eine vorübergehende Kooperation mit den Urbanisten, die den Vortrag teils kritisch, teils aber auch affirmativ aufnahmen. Die Basis des Kádárismus, so Csurka, sei ein Zwangsvertrag, der die „fröhlichste Baracke des Lagers" mit relativen Freiheiten ausstatte, aber eine Absage an wahre Freiheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen bedeute. Dies erinnert zunächst durchaus an Konrád. Freiheit wird hier als die Freiheit des Mitglieds einer Nation in der Wahl seiner Identität, als Freiheit des Denkens und der Artikulation, der Künste und der Wissenschaften verstanden. Aber sie wird weniger als politische und ökonomische Freiheit interpretiert: „Die Zensur ist ein großes Problem, aber sie ist nur eine Kleinigkeit im Vergleich zum Nihilismus und zur Krise der Kultur und Gesellschaft" (Csurka 1991, 105). Csurka räumt hier einer allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Krise, die er gleichermaßen im Osten wie im Westen ausmacht, schwerer wiegende Bedeutung ein als der Beschränkung von Grundrechten wie Meinungs- und Pressefreiheit. Die Akzeptanz des Regimes nach 1956, so Csurka, habe vor allem zu Akkulturation, Nihilismus und der Aufgabe der eigenen Identität geführt. Es sei ein „verrottetes" System, das durch äußere Einflüsse leicht zur Explosion gebracht werden könne.

Die Krisendiagnose wird hier in Begriffen der Kulturkritik, Individual- und Sozialpsychologie formuliert, wobei, im Unterschied zu den Urbanisten, Fragen der Ökonomie und des Verfassungsrechts eher unterbelichtet bleiben. Das traditionelle Thema der Populisten ist die Integration der Bauerngesellschaft in die Nation, die für Csurka nach wie vor ein ungelöstes Problem darstellt. Der Kommunismus habe die alte Gemeinschaft zerstört, aber für die Unterschichten keine neue entwickelt. Millionen von Menschen seien ohne Kultur und Identität geblieben und zu Lohnsklaven geworden. Bedingt durch Modernisierung, Massenkommunikation und die Auflösung ihrer klassischen Funktion als Produktionseinheit sei auch die Familie in die Krise geraten. Im Unterschied zu Heller und Vajda sieht Csurka jedoch nicht, dass die Modernisierung neue Gemeinschaftsformen hervorbringen würde.

Weder die Kunst, noch Kultur und Erziehung, so Csurka, könnten in diesem System als innovative Triebkräfte der ungarischen Gesellschaft fungieren, denn es sei ein System der  „Kontra-Selektion", in welchem anpassungsfähige Individuen und Gruppen in die Elite aufsteigen, die nicht über die entsprechenden Werte und die erforderliche Führungskraft verfügten. Dies habe zu Dysfunktionen auf allen Gebieten geführt, die insbesondere in der Zeit des Stalinismus zu Tage traten. Nach 1956 sei dann in Folge der Akzeptanz von Leistungsfähigkeit und Wissen als Aufstiegsbedingungen eine neue, anpassungsbereite Technokratie in die Machtstrukturen integriert worden. So hätte sich im System eine Art „Liberalismus" entwickelt, der die Herrschaft von wirtschaftlichem und sozialem Kapital partiell restauriert habe. In dieser Interpretation erscheinen „Liberalismus" und „Sozialismus" als miteinander verwoben, die späteren Auseinandersetzungen zwischen Populisten und Liberalen sind hier schon latent angelegt. Akkulturation, Bevölkerungsrückgang und „Kontra-Selektion" machten Veränderungen notwendig, so Csurka, aber die alten Eliten seien nicht mehr vorhanden, die alten Werte nicht mehr akzeptiert, die Gemeinschaften aufgelöst.

Was könne man dagegen tun? Ein neues Denken sei gefragt, jenseits von Macht und Geld, das sich auf Kultur und Ökologie gründet. „Grüne" Ideen fanden vor der „Wende" unter den Populisten beachtlichen Anklang - in Form von Vorstellungen einer Rückkehr zu bäuerlicher Lebensweise und Kultur, welche die ungarischen Traditionen und die Harmonie zwischen Kultur und Natur wieder herstellen würde.

Da die Reformen „von oben" ebenso wenig Erfolg verhießen wie gewaltsame Aufstände (Csurka 2005, 16), könne nur die kulturelle Entwicklung, ein neuer „Ungarischer Aufbau" die Möglichkeit der Rückkehr zur Freiheit begründen. „Freiheit" wird von Csurka oft als ein Orientierungswert zitiert, aber ohne jeglichen Bezug zu Demokratie. Csurka sucht nach neuen Formen von Demokratie in der Arbeiter- und der lokalen Selbstverwaltung, die die Probleme der Demokratie beilegen könnten (Csurka 1991, 189f.). „Der Aufbau ist die ultima ratio der Erhaltung. Das Programm des Aufbaus muss grundlegend und ein betont ungarisches Programm sein. Der ungarische Charakter ... ist eine Bedingung des Erfolgs. Im Donau-Raum kann kein Programm ohne nationalen Charakter gewinnen" (Csurka 2005, 40). Der nationale Charakter, nationale Unabhängigkeit und nationale Gemeinschaft - Themen, die für die Urbanisten zweitrangig waren - dominieren die Sichtweise der Populisten. In Csurkas Verständnis ist die Massenkultur der Konsumgesellschaft der Demokratie abträglich, d.h., auch die westlichen Gesellschaften hält er für unfähig, Demokratie zu entwickeln (Csurka 1991, 84).

Zwar gab es in Bezug auf die ungarischen Minderheiten im Ausland einige gemeinsame Aktionen von Urbanisten und Populisten. Doch blieben solche Aktionen ebenso wie die Kooperationsversuche nach Art des Treffens von Monor eher episodischer Natur. In dem Maße, wie der gemeinsame Gegner, das kádársche System, in die Krise geriet, verschärften sich die Konflikte zwischen den beiden Strömungen. Für die Populisten war die Kritik am Sozialismus weniger zentral, denn für sie hatte die Tragödie der ungarischen Nation schon viel früher eingesetzt - mit dem Trianon-Vertrag von 1920, der Ungarn eines großen Teils seines Territoriums und seiner Bevölkerung beraubt und - so die populistische Sicht - die Grundlagen seiner nationalen Entwicklung zerstört habe: „Die Krankheit ist nicht von heute. Der Patient ist schon am Beginn des Jahrhundertes ins Krankenhaus eingeliefert und in die Zwangsjacke gesteckt worden" (Csurka 1991, 79). Der Internationalismus habe sich als ein unfruchtbares Element kommunistischer Ideologie und Politik erwiesen (ebd., 128), nach dem Abgang der sozialistischen Systeme müsse dem Nationalismus wieder seine wahre Bedeutung und Rolle zuerkannt werden (ebd., 181): „Die Erfahrung der Bewegungen unserer Tage ist, dass es weder Reformen, noch Aufbau, oder Überleben noch Erneuerung ohne die Sogkraft der nationalen Renaissance gibt" (Csurka 1991, 182/ Hervorhebung im Original). Csurkas Verhältnis zum Sozialismus ist nicht gänzlich ablehnend: „Was für ein Verhältnis habe ich zum Sozialismus? Es ist ein ambivalentes Verhältnis. 1956 war ich davon überzeugt, dass ich für meine Nation eine ähnliche Gesellschaftsform wählen würde, ergänzt um die Ideen von István Bibó und László Németh, aber die freie Wahl gab es nicht" (ebd., 100).

Für nationalistische Orientierungen waren durchaus auch Gruppen in der kommunistischen Staatspartei empfänglich. So ergaben sich gewisse Kooperationsmöglichkeiten zwischen populistischen Dissidenten und Nationalkommunisten in der ungarischen Führung, insbesondere mit Imre Pozsgay, der auch an der Gründungsveranstaltung des Ungarischen Demokratischen Forums ((Magyar Demokrate Fórum/ MDF) am 27. September 1987 in Lakitelek teilnahm dort eine Rede hielt. Auf dieser Veranstaltung hat Csurka sein Programm des „ungarischen Neuaufbaus" und seine Kritik an den bestehenden Verhältnissen noch einmal zugespitzt (Csurka 1991b). So bemühte er das unter ostmitteleuropäischen Nationalisten beliebte Bild einer kommenden nationalen Katastrophe; seit Trianon sei Ungarn dem Tode geweiht, die Ungarn seien zu Dienern in ihrem eigenen Haus geworden, Dienern der Kommunisten, Russen, fremder Mächte usw. Dem müsse man die Stärkung des ungarischen Nationalbewusstseins und der ungarischen Identität, die Wahrnehmung der nationalen Interessen entgegensetzen. Das Volk solle seine wahre Kultur wiedererhalten: „Ich hoffe, es ist klar, dass der ungarische Aufbau nur zum Teil ein wirtschaftliches Programm, und nur zum Teil ein politisches Programm ist, er ist zuerst ein geistiges, kulturelles, erzieherisches und vor allem moralisches Programm" (ebd., 32). Csurka spricht über die Nation, Europa dagegen wird nur am Rande erwähnt, als eine „inakzeptable Realität" (elfogadhaltlan realitás), denn Europa sei „krank", der Westen lebe „in der Versuchung des Geldes und des Konsums" und sei nicht imstande, ein neues Programm für den vom Kommunismus beherrschten Osten zu entwickeln (Csurka 1991, 73ff.).

Wie die hier zitierten Ausführungen belegen, hat sich die populistische Bewegung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erkennbar politisiert. Mit den für diese Zeit konstatierbaren Ansätzen zu einer Zusammenarbeit mit Urbanisten und Reformkommunisten versuchten die Populisten, eine Art neue „Volksfront" für ihren „Dritten Weg", die Wiederbelebung der ungarischen Nation und Kultur, zu etablieren. Nachdem dieses Unterfangen gescheitert war, gründeten sich aus dem populistischen Milieu heraus eigenständige politische Parteien und Organisationen, die dann 1990 im Ergebnis der ersten freien Wahlen die Regierungsmehrheit erwerben konnten.

Resümee

Wie allgemein bekannt, war die Entwicklung des staatsozialistischen Regimes in Ungarn seit 1956 durch teils verdeckte, teils sichtbare Konkurrenz zwischen konservativen und reformorientierten Flügeln innerhalb der Parteiführung gekennzeichnet (Tőkés 1998). Die Spannungen und Konflikte begünstigten die Entwicklung eines gewissen politischen Pluralismus innerhalb wie außerhalb der Staatspartei und die Herausbildung von (begrenzten) Freiräumen für oppositionelles Denken und die Artikulation von Kritik. So entwickelte sich in der ersten reformoffenen Periode zwischen 1956 und 1968 unter dem maßgeblichen Einfluss der Lukács-Schule zunächst eine marxistisch-sozialistische Regimekritik. Nachdem auf sowjetischen Druck hin die Reformpolitik 1973 beendet wurde, war unter den Intellektuellen dieses Milieus eine klare Abkehr von marxistischen hinzu liberalen Orientierungen zu verzeichnen, die in den folgenden Jahren die oppositionellen politischen Diskurse dominierten. Mit den erneuten Liberalisierungstendenzen der 1980er Jahre setzte dann eine erkennbare Politisierung der populistischen Diskurse ein, deren Themen bis dato tabuisiert und in den kulturellen Bereich abgedrängt worden waren. Damit wurden in den späten 1980er Jahren, also noch vor der „Wende", Konturen einer pluralistischen politischen Öffentlichkeit deutlich, die eine gewisse Kommunikation zwischen Reformkommunisten, Liberalen und Populisten zuließ und in der die Liberalen Themen aus Politik und Wirtschaft, die Populisten Kultur und Nation in den Vordergrund stellen. Verschiedene Gesetze, die seit Mitte der 1980er Jahre unter dem wachsenden Einfluss der Reformer innerhalb der Parteiführung auf den Weg gebracht worden waren, wie das Stiftungsgesetz (1985), die Vereins- und Versammlungsgesetze (1989) und die Entwicklung von Konzepten für eine umfassende Verfassungsrevision in Richtung Rechtsstaat (1987-1989) sowie die zunehmende kulturelle und wirtschaftliche Öffnung gegenüber dem Westen haben die Herausbildung dieses „spätsozialistischen" Pluralismus zusätzlich gefördert. Ungarns Opposition gegenüber dem Kádár-Regime ist damit zur Avantgarde des politischen „Vorwende"-Pluralismus in Ostmitteleuropa sowie der postsozialistischen Parteienentwicklung geworden. Einige der führenden Intellektuellen beider Strömungen des Samizdat haben dann auch während und nach der „Wende" eine maßgebliche politische Rolle gespielt; von den Populisten sei hier István Csurka, von den Urbanisten János Kis hervorgehoben.

Wie oben beschrieben, waren die Interaktionen zwischen den beiden großen Strömungen der Opposition bis zur „Wende" durch ein Wechselspiel von gegenseitiger Kritik, Konflikt und Kooperation gekennzeichnet. Mit der Ausdifferenzierung der oppositionellen Milieus in verschiedene Parteien, der Einführung von kompetitiven Wahlen und eines parlamentarischen Systems setzte jedoch ein Polarisierungsprozess ein, der die Entwicklung des postsozialistischen Parteiensystems in Ungarn bis heute maßgeblich prägt und die Gesellschaft weit über die Parteien hinaus erfasst hat.

1987 gründeten, wie bereits erwähnt, führende Vertreter des populistischen Lagers das Ungarische Demokratische Forum, das aus den ersten freien Wahlen 1990 als stärkste Partei hervorging und mit József Antall den Ministerpräsidenten der dann formierten Mitte-Rechts-Regierung stellte. Nach dem Tod von Antall im Jahr 1993 verlor das MDF jedoch erheblich an öffentlicher Unterstützung. Im selben Jahr spaltete sich unter Führung von István Csurka ein radikaler Flügel ab und gründete die Partei Ungarisches Leben und Wahrheit (Magyar Igazság és Élet Pártja/ MIÉP), die sich eine Zeitlang als Hauptrepräsentant des radikalen Nationalpopulismus behaupten konnte. Bei den Wahlen von 1998 gelang es der MIÉP, die 5-Prozent-Sperrklausel zu überwinden und für vier Jahre mit einer eigenen Fraktion in das Parlament einzuziehen. Während die im MDF verbliebenen gemäßigten Populisten die Grundprinzipien von Marktwirtschaft und liberaler Demokratie inzwischen akzeptierten, geißelte die MIÉP Parlamentarismus und marktwirtschaftliche Reformpolitik als Verrat am „Ungarischen Dritten Weg". Radikale US-, Israel- und Globalisierungskritik sowie deutliche antisemitische Tendenzen kennzeichneten ihr öffentliches Wirken. Zwar ist die MIÉP 2002 wieder aus dem Parlament ausgeschieden, sie aber weiterhin außerparlamentarisch bzw. auf regionaler und kommunaler Ebene präsent. Der Bedeutungsverlust der MIÉP zeigt jedoch keineswegs einen Rückgang der öffentlichen Resonanz für populistische Orientierungen an. Vielmehr wurde sie erfolgreich verdrängt vom Bund der Jungen Demokraten (Fidesz), der 1988 von Vertretern jugendlicher Protestmilieus gegründet wurde und zunächst den Liberalen nahe stand, sich später aber zur führenden Kraft des konservativ-populistischen Lagers im ungarischen Parteiensystem entwickelt hat. Zudem haben in den letzten Jahren neue politische Unternehmer der radikalen Rechten an Bedeutung gewonnen.

Repräsentanten der ehemaligen „demokratischen Opposition", der Urbanisten, gründeten 1989 den Bund der Freien Demokraten (Szabad Demokraták Szövetsége/ SZDSZ), der gleichfalls eine bedeutende Rolle im Systemwechsel spielte. Der SZDSZ hat sich insbesondere in Fragen der Verfassungs-, Wirtschafts-, Bildungs- und Gesundheitsreform, für die Abschaffung der Wehrpflicht und bei der Auflösung der kommunistischen Geheimdienste engagiert, die öffentliche Auseinandersetzung um den Überwachungsapparat, Militarismus und die Unterdrückung ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten während der Kádár-Ära vorangetrieben und sich für die Menschenrechte stark gemacht. Im Jahr 1990 waren das MDF und der SZDSZ noch in der Lage, auf der Basis eines „Paktes" gemeinsam grundsätzliche mehrheitsdemokratische Änderungen der reformkommunistischen Verfassung von 1989 durchzusetzen. 1991 waren Kooperationen dieser Art schon nicht mehr möglich. Öffentliche Vorwürfe seitens des SZDSZ, die Populisten und Nationalisten stünden in der autoritären Tradition des Horthy-Regimes der Zwischenkriegszeit und der mit Hitler verbündeten  Faschisten Szálasis, die während des zweiten Weltkriegs mit der deutschen Besatzungsarmee kollaboriert hatten, haben das Verhältnis zwischen den beiden Richtungen der früheren Opposition nachhaltig vergiftet.

In gewissem Sinne ist dem SZDSZ ein ähnliches Schicksal wie seinen liberalen Schwesterparteien in Westeuropa zuteil geworden: Liberale Forderungen sind zu grundlegenden Verfassungsprinzipien geworden und die Ökonomie funktioniert heute nach marktwirtschaftlichen Prinzipien, doch die Liberalen haben an Wählerstimmen und sozialem Rückhalt verloren. Seit 2002 ist der SZDSZ, wie schon von 1994 bis 1998, als Juniorpartner der Nachfolgepartei der alten Staatspartei USAP an der Regierung beteiligt; die frühere radikale Opposition verbündet sich mit den Nachfolgern der Kommunisten, den heutigen Sozialdemokraten, gegen die Parteien der früheren national-populistischen Opposition - Verfolgte und Verfolger Hand in Hand, Versöhnung der Gegensätze auf ungarische Art. Die historische Analogie zur Entwicklung nach der Revolution von 1848 und zum Ausgleich zwischen den Habsburgern und den ungarischen Nationalisten im Jahr 1871 liegt auf der Hand, nur dass die Unterdrückung nicht aus Wien, sondern aus Moskau kam, und die Nationalisten das Nachsehen hatten.

In den politischen Kämpfen um das ungarische Königreich unter der k.u.k.-Monarchie ging es um das Erbe der Revolution von 1848. In den politischen Auseinandersetzungen von heute scheint das Erbe der Revolution von 1989 kaum weniger strittig - ein schöner Denkzettel für das Jubiläumsjahr 2009! Im letzten Jahr hat man in Westdeutschland des Jahres 1968 gründlich gedacht. In diesem Jahr gerieten die ostdeutschen Bundesländer zusammen mit den anderen postkommunistischen Demokratien Ostmitteleuropas ins Zentrum der „Gedenkfront". Die ungarische Entwicklung ist, wie hier gezeigt wurde, anders verlaufen als die ostdeutsche. Aber sie könnte die in Deutschland so gut funktionierende „Gedächtnisindustrie" dazu anregen, tiefgründiger über die Zusammenhänge zwischen politischer Kultur vor dem Systemwechsel und der Entwicklung von Politik und Parteien danach nachzudenken.

 

Redaktionell bearbeitet von Jan Wielgohs

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Prof. Dr. Máté Szabó, Politikwissenschaftler, Eötvös-Loránd-Universität Budapest; Menschenrechtsbeauftragter des ungarischen Parlaments

 

aus: Berliner Debatte INITIAL 20 (2009) 3, S. 74-87