Die Türkei ist eine Demokratur

Militarismus und Nationalismus contra Zivilgesellschaft und Aussöhnung

In der grünnahen tageszeitung vom 22. Januar 2010 singt Zafer Senocak ein Loblied auf den türkischen Staat, der „inzwischen als Erfolgsmodell" in die Region ausstrahle: „Die Botschaft lautet: Demokratie zahlt sich aus, anständiges Regieren bringt ökonomischen Aufschwung, Meinungsfreiheit und Menschenrechte helfen, das geistige Potenzial eines Landes auszuschöpfen."

Die Pläne der türkischen Regierung sind nach Ansicht des taz-Schreibers ambitioniert. Es gehe um die innere Transformation der Türkei zu einem demokratischen Rechtsstaat. „Eine Aussöhnung mit den jahrzehntelang unterdrückten Kurden steht bevor."

Wie ernst es dem türkischen Staat tatsächlich mit dieser „Aussöhnung" ist, hat er vor wenigen Wochen eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Die sozialdemokratische kurdische Partei DTP (De­mokratik Toplum Partisi/Partei der demokratischen Gesellschaft) wurde am 11. Dezember 2009 durch das türkische Verfassungsgericht verboten. Die politisch mit der deutschen Linkspartei vergleichbare DTP war bis dahin die viertgrößte Partei im türkischen Parlament. Sie verstand sich als sozialdemokratisches Sprachrohr der etwa 15 Millionen KurdInnen in der Türkei. 20 Prozent der 75 Millionen Men­schen in der Türkei gehören der kurdischen Bevölkerungsgruppe an. Als größte ethnische Minderheit fordert sie keinen eigenen Staat, sondern Autonomie, Föderalismus, Menschenrechte und die An­erkennung der kurdischen Sprache und Kul­tur.

Das ist nicht das erste Parteienverbot

Sozialistische oder sozialdemokratische kurdische Parteien wurden in der Türkei immer wieder verboten und formierten sich bald darauf unter neuem Namen neu. Bei den türkischen Parlamentswahlen 1991 kandidierten auf der Liste der türkischen Sozialdemokratischen Partei (SHP) 18 kurdische Abgeordnete, die sich in Türkisch-Kurdistan um die Stimmen der WählerInnen bewarben. Ihre Ergebnisse lagen - wie später auch bei den Nachfolgeparteien - oft bei 50 bis 80%. Die 18 schlossen sich 1991 zur Partei der Arbeit der Bevölkerung (HEP - Halkin Emek Partisi) zusammen. Die HEP wurde verboten, wie die Nachfolger DEP (Demokrasi Parti/Demokratie-Partei) und HADEP (Halkin Demokrasi Partisi/Demokratie-Partei der Bevölkerung, 1994 bis 2003). In den 1990er Jahren befand sich der Krieg zwischen dem türkischen Militär und der poststa­linistischen Abdullah Öcalan-Partei PKK auf einem blutigen Höhepunkt. Mehr als 35.000 Menschen wurden getötet und 4.000 kurdische Dörfer von der türkischen Armee zerstört. Damals waren die kurdischen Abgeordneten, die auf der SHP-Liste ins Parlament gekommen waren, wegen Unterstützung der PKK (Partiya Kar­kerên Kurdistan/Kurdische Arbeiterpartei) verurteilt und aus dem Parlament heraus direkt ins Gefängnis geworfen worden.1  Unter ihnen Leyla Zana, die bis heute populärste kurdische Poli­tikerin. Sie ist zwar kein Mitglied der DTP, gehört aber trotzdem zu den 37 Personen, die das Ver­fassungsgericht im Dezember 2009 neben dem Parteiverbot noch mit einem persönlichen Politikverbot für fünf Jahre belegte. In deutschen Medien wird das Verbot der KurdIn­nenpartei bis heute kaum thematisiert. Human Rights Watch dagegen kritisierte das DTP-Verbot vehement. Die Menschenrechtsorganisation forderte die türkische Regierung dazu auf, ihre Verfassung in Einklang mit „internationalen Standards der Menschenrechte" zu bringen.

Ein weiteres Beispiel für den Zustand der türkischen Zivilgesellschaft ist der Umgang des Staates mit den Kriegsdienstverweigerern.

Es gibt in der Türkischen Republik nach wie vor kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung.  Kriegsdienstverweigerer wie Mehmet Bal (siehe Artikel auf Seite 4 dieser GWR) und Osman Murat Ülke müssen jahrelang, ohne gültigen Pass und immer mit der Angst im Nacken, entdeckt und inhaftiert zu werden, illegalisiert leben. Und wenn sie verhaftet werden, dann drohen ihnen Folter und ein nicht enden wollender Teufelskreis von Inhaftierungen und Schikanen. Nein, Herr Senocak, die Türkei ist noch lange kein „Erfolgsmodell". Sie ist nach wie vor eine Demokratur, ein von Militärs, Nationalisten und Islamisten dominiertes Land, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Wer will, dass sich das ändert, sollte die sozialen Bewegungen, die feministischen, antimilitaristischen und libertären Gruppen2  in der Türkei unterstützen, anstatt abwegige Thesen vom „anständigen Regieren" zum Besten zu geben.

Bernd Drücke

Anmerkungen:

1 Vgl.: Bernd Drücke, Serxwebun! Gesellschaft, Kultur und Geschichte Kurdistans, Edition Blackbox, Bielefeld 1998, S. 40 ff.

2 Siehe: „Otkökü" - Graswurzelbewegung in der Türkei. Ein Interview mit dem Totalen Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke (Izmir), in: Bernd Drücke (Hg.), ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche, Karin Kramer Verlag, Berlin 2006, S. 182-199

Kommentar aus: Graswurzelrevolution Nr. 346, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 39. Jahrgang, Februar 2010, www.graswurzel.net