Verfassungsgericht in Kolumbien verhindert erneute Kandidatur von Präsident Álvaro Uribe
In Kolumbien stehen in den kommenden Monaten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Die Kandidatur des amtierenden Präsidenten Álvaro Uribe ist für unzulässig erklärt worden. Die umstrittene Gesundheitsreform sorgt für Massenproteste: DemonstrantInnen trugen das Recht auf Gesundheitsversorgung symbolisch zu Grabe.
Die
Entscheidung war in Kolumbien mit großer Spannung erwartet worden. Am
26. Februar entschied das Verfassungsgericht, dass eine dritte
Kandidatur des amtierenden Präsidenten Álvaro Uribe Vélez nicht zulässig
ist. Dazu hätte wie schon vor den Wahlen 2006 die Verfassung geändert
werden müssen, doch das dafür notwendige Referendum wird nun nicht
stattfinden. Das Verfassungsgericht ist zwar inzwischen großteils mit
Richtern aus Uribes Anhängerschaft besetzt. Dennoch entschied es, eine
erneute Kandidatur des amtierenden Präsidenten sei nicht nur wegen
Verfahrensfehlern nicht zulässig, sondern verletze demokratische
Prinzipien. Lange Zeit hatten Anhänger wie Gegner der Regierung die
Wiederwahl Uribes bereits für sicher gehalten. In seiner Reaktion auf
das Urteil beeilte sich der Präsident, den funktionierenden Rechtsstaat
zu loben und rief dazu auf, den „eingeschlagenen Weg weiterzugehen“.
Somit kann er bei den Präsidentschaftswahlen am 30. Mai nicht wieder
antreten. Die Parlamentswahlen finden bereits am 14. März statt.Aus
verschiedenen Gründen schwindet erstmals die Popularität der Regierung.
Grund für Proteste ist zum einen die umstrittene Gesundheitsreform.
Angesichts völlig überlasteter Krankenhäuser und einer Finanzkrise im
Gesundheitssystem rief Uribe im November 2009 den sozialen Notstand aus.
Der Notstand ermöglichte der Regierung, geplante Neuerungen im
Gesundheitssystem in 10 Dekreten – ohne den lästigen Umweg über die
parlamentarische Debatte – festzuschreiben. Das Vorhaben hat für heftige
Diskussionen im Land gesorgt.
Während Gesundheitsminister Diego Palacios erklärte, das Recht auf eine
angemessene Gesundheitsversorgung werde nicht eingeschränkt, versammeln
sich immer wieder Menschen zu Protesten gegen die „Reform“ auf der
Straße. So gab es am 6. Februar zeitgleich in Bogotá, Cali, Medellín und
anderen Städten Großdemonstrationen, bei denen das Recht auf
Gesundheitsversorgung symbolisch zu Grabe getragen wurde. Durch die
Umstrukturierungen würden laut Palacios 683,5 Millionen US-Dollar frei,
die einen finanziellen Kollaps des Systems verhindern könnten. Die
angebliche Liquiditätskrise ergibt sich aber eher daraus, dass die
Gelder aus dem staatlichen Gesundheitsfonds zu circa 90 Prozent im
Finanzsektor investiert sind und nicht für Zahlungen zur Verfügung
stehen.
War es bisher möglich, sich „außergewöhnliche“ Behandlungen vor Gericht
zu erstreiten, sollen die Kosten nun in vielen Fällen vollständig vom
Patienten übernommen werden. Die Behandlung muss von einem „technischen
Ausschuss“ autorisiert werden. Die Beweislast liegt beim Patienten: Wer
keine Mittel hat, die eigene Behandlung zu bezahlen, muss dies
nachweisen und ansonsten mit Erspartem oder sogar mit Krediten für die
Krankenhausrechnung einstehen. Für Mittellose wurde ein neuer Fonds
eingerichtet, der allerdings nur eine bestimmte Geldmenge pro Jahr zur
Verfügung hat. Wenn diese aufgebraucht ist, werden für niemanden mehr
Kosten übernommen. Überweisungen zu Fachärzten sollen nur noch erfolgen,
wenn sie „das Gesundheitssystem nicht finanziell belasten“.
Krankenhäuser, die nicht profitabel arbeiten, werden vom Staat
geschlossen. ÄrzteInnen, die PatientInnen über einen bestimmten Katalog
von Minimalleistungen hinaus behandeln, hätten mit Sanktionen rechnen
müssen – mit dieser Maßnahme brachte die Regierung auch die ÄrztInnen
gegen sich auf. Sie musste bereits zurückgenommen werden. Bereits Anfang
der 1990er Jahre war das kolumbianische Gesundheitssystem privatisiert
worden, die Versorgung hatte sich seitdem verschlechtert. PatientInnen
waren entweder einem Beitragssystem oder bei sehr niedrigen Einkommen
dem staatlich subventionierten System Sisbén zugeordnet, das einen
bestimmten Katalog von Minimalleistungen umfasst. Diese Art, das Problem
lösen zu wollen, scheint sich für die Regierung Uribe aber eher zu
einem Bumerang zu entwickeln. ÄrztInnen, PatientInnenvereinigungen und
GegnerInnen der Regierung fordern ein gerechteres Versorgungsmodell, zu
dem möglichst Viele Zugang haben. Gesundheit dürfe nicht zum reinen
Geschäft verkommen, so der Tenor auf den Demonstrationen.
Auch die katastrophale Menschenrechtslage spielt offenbar eine Rolle in
der aktuellen politischen Debatte. Der Anfang Februar veröffentlichte
kritische Jahresbericht von Human Rights Watch, der auch für die
Beziehungen zwischen den USA und Kolumbien einiges an Gewicht hat, löste
bei der kolumbianischen Regierung heftige Reaktionen aus: Der Bericht
sei ideologisch gefärbt, man müsse endlich die Angst vor den
Menschenrechtsorganisationen verlieren, wetterte Verteidigungsminister
Gabriel Silva in einem Interview. Er war zudem vergebens nach Washington
gereist: Die finanziellen Mittel der USA für Kolumbiens Militär im
Rahmen des Plan Colombia wurden just in der gleichen Woche um 55 Mio.
US-Dollar gekürzt. Auch der Freihandelsvertrag zwischen USA und
Kolumbien ist – in Erwartung einer verbesserten Menschenrechtssituation –
vom US-Kongress noch immer nicht ratifiziert worden und liegt seit
inzwischen drei Jahren in der Schublade.
All dies führt selbstverständlich nicht zu einer Wende in der
Regierungspolitik. Obwohl sich der Skandal um den Geheimdienst DAS, der
JournalistInnen, GewerkschafterInnen und AktivistInnen ausspioniert
hatte, kaum beruhigt hat und die strafrechtlichen Ermittlungen erst
anlaufen, wartete Uribe bereits mit einer neuen Idee auf: ein Netz von
1000 als InformantInnen bezahlten Studierenden in Medellín sollte zur
Terrorismusbekämpfung beitragen, wurde aber in der Öffentlichkeit
rundweg abgelehnt. Die Mordrate in Medellín steigt wieder, und es zeigt
sich deutlich, dass die militarisierte Politik der letzten Jahre die
eigentlichen, strukturellen Probleme städtischer Sicherheit nicht lösen
kann.
Die unklare Haltung der Regierung gegenüber möglichen Verhandlungen mit
den sogenannten aufstrebenden Banden (die „neuen Paramilitärs“), die
unter Leitung der katholischen Kirche stattfinden sollen, und die
Verzögerungen bei der anstehenden Freilassung zweier von der
FARC-Guerilla entführten Soldaten tragen zur Irritation bei.
Währenddessen gehen repressive Maßnahmen gegen Oppositionelle wie
gewohnt weiter: Am 6. Februar beispielsweise wurden bei einer
Massenverhaftung durch Militärs in der Region Catatumbo einmal mehr 16
Aktivisten der Bauernorganisation ASCAMCAT festgenommen.
Geradezu bizarr wirkt die fortgeführte „Sicherheitspolitik“: In
Massengräbern werden immer wieder als verschwunden gemeldete
ZivilistInnen gefunden, die als angebliche Gueriller@s in Gefechten mit
dem Militär umgekommen sein sollen. Diese Praxis, ZivilistInnen zu
verschleppen und zu ermorden, ist nicht neu, aber ganz offenbar
systematisch geworden, seit die Regierung Uribe Bonuszahlungen für
Soldaten eingeführt hat, die getötete Gueriller@s präsentieren. Laut
Staatsanwaltschaft sind in den letzten Jahren vermutlich über 3.000
meist junge Männer aus den Slums der Hauptstadt Bogotá und anderer
Städte in diesem Zusammenhang ermordet worden.
Mehrere Mütter von Verschwundenen aus Soacha bei Bogotá wollten sich
nicht damit abfinden, dass ihre Söhne Mitglieder der Guerilla gewesen
sein sollten und erreichten in den vergangenen Monaten ein gewisses Maß
an öffentlichem Interesse. Wegen des Verdachts der Ermordung von 19
jungen Männern aus Soacha und Ciudad Bolívar stehen nun 46
verantwortliche Soldaten bis auf weiteres auf einer Militärbasis in
Bogotá „unter Arrest.“ Dorthin wurden sie aus einem
Hochsicherheitsgefängnis gebracht. Nun wurde öffentlich, welche Art
Willkommen das Militär den immerhin des Mordes Verdächtigen ausgerichtet
hatte: Ihre Familien waren anwesend, die Soldaten bekamen
aromatherapeutische Massagen, ihre Kinder wurden von Clowns unterhalten
und die Frauen der Soldaten von KosmetikerInnen verschönert. Derartige
Wohltaten hat wohl nicht jedes Militär zu bieten. Die „Mütter von
Soacha“, wie sie inzwischen genannt werden, haben dagegen nicht einmal
eine finanzielle Entschädigung erhalten. Der Vorfall sorgte selbst in
der kolumbianischen Presse, die nicht gerade für kritische
Berichterstattung bekannt ist, für scharfe Kritik. Die eher kritische
Zeitschrift Cambio wurde im Februar von ihrem Verlag geschlossen,
offiziell aus Gründen der Wirtschaftlichkeit. Erschienen war die
Zeitschrift in der Verlagsgruppe Editorial El Tiempo, die der
einflussreichen Santos-Familie gehört.
Zwar nutzte Uribe in den letzten Wochen seinen Präsidentenstatus, um
fast täglich in allen erdenklichen Kommunikationsmedien aufzutreten und
intensiv Wahlkampf für sein Projekt der „Demokratischen Sicherheit“ zu
betreiben. In der kolumbianischen Presse wird allerdings gemunkelt, der
Präsident habe seinen „Teflon-Effekt“ verloren – schien doch früher
jeder Skandal an seiner Popularität abzuperlen: Selbst viele, denen
Uribes enge Verbindungen zu paramilitärischen Terrorgruppen bewusst
waren, zuckten während seiner ersten Legislaturperiode gern mit den
Schultern. „Paraco, pero veraco“, etwa, „er mag ja ein Paramilitär sein,
aber immerhin räumt er hier mal auf“. Ganz so leicht scheint es heute
nicht mehr zu sein, über den Sicherheitsdiskurs und das Schüren von
Ängsten die autoritäre und ultraliberale Politik zu legitimieren. Denn
diese schadet möglicherweise inzwischen auch der kleinen, aber für die
Wahlen wichtigen kolumbianischen Mittelschicht. Gerade die Dekrete zum
Gesundheitssystem treffen nicht nur völlig mittellose
Bevölkerungsgruppen auf dem Land, die ohnehin einen schlechten Zugang
zur Gesundheitsversorgung haben, sondern sind auch unter ÄrztInnen und
städtischer Bevölkerung auf große Ablehnung gestoßen.
Dennoch: Selbst angesichts der Tatsache, dass Uribe für die kommende
Legislaturperiode nicht mehr selbst als Präsidentschaftskandidat
antritt. Sein aggressives Projekt der „Demokratischen Sicherheit“ kann
mit einer Fortsetzung rechnen. Der autoritäre Umbau der Gesellschaft der
letzten acht Jahre, die Legalisierung paramilitärischer Gruppen und die
utraliberale Politik zugunsten ausländischer Investoren sind angesichts
der Kräfteverhältnisse im Land kaum rückgängig zu machen. Aus Uribes
Lager hat der ehemalige Verteidigungsminister Juan Manuel Santos bereits
vor Monaten vorsorglich seine Kandidatur erklärt, sollte Uribe nicht
selbst antreten können. Zwar wird eine Stichwahl für möglich gehalten,
aber kaum eineR der zahlreichen GegenkandidatInnen wird wohl genug
Stimmen für sich gewinnen. Santos dürfte ein „würdiger“ Nachfolger
Uribes sein. Als Verteidigungsminister zeichnete er unter anderem
verantwortlich für die Ermordung von als Aufständischen ausgegebenen
ZivilistInnen und für den Bombenangriff auf ein Lager der FARC auf
ecuadorianischem Boden 2008.
Ausgabe: Nummer 429 - März 2010