Befreiungskämpfe, die nicht befreien:

Gewalt und Herrschaft im Südlichen Afrika

Weltweit fiebern die Fußballfans der 2010 erstmals in Südafrika stattfindenden Fußballweltmeisterschaft entgegen. Wir möchten einen Blick „hinter die Kulissen" werfen. Dr. Henning Melber ist geschäftsführender Direktor der Dag Hammarskjöld Stiftung im schwedischen Uppsala und seit 1974 Mitglied der SWAPO (South-West Africa's People Organisation). Für die LeserInnen der Graswurzelrevolution analysiert er die Politik der ehemaligen Befreiungsbewegungen, die sich in den postkolonialen Staaten des Südlichen Afrika zu Herrschaftsparteien entwickelt haben (GWR-Red.).

Seit den 1960er Jahren leisteten antikoloniale Befreiungsbewegungen im Südlichen Afrika Widerstand gegen die dortigen siedlerkolonialen Minderheitsregime. Mit Erlangung des formalen staatlichen Selbstbestimmungsrechts in Angola und Mosambik 1975, in Simbabwe 1980, Namibia 1990 und den allgemeinen Wahlen in Südafrika 1994 etablierten sich mit der MPLA (Movimento Popular de Libertação de Angola/Volksbe­wegung zur Befreiung Angolas), der Frelimo (Frente da Li­bertação de Moçambique/Mo­sambikische Befreiungsfront), der ZANU-PF (Zimbabwe Af­rican National Union/Afrikanische Nationalunion von Simbabwe), der SWAPO und dem ANC (African National Con­gress/Afrikanischer Nationalkongress) ehemalige Befreiungsbewegungen als Regierungen an der Macht.

Sie haben diese politischen Machtposition seither nicht abgegeben. Ihre Dominanz basieren sie auf den auch ideologisch verbrämten, legitimierenden Anspruch, die Befreier und Garanten der Unabhängigkeit zu sein, welche sie mit hohem Blutzoll erkämpft haben.

Nur in Simbabwe muss sich das abgehalfterte Regime Robert Mugabes mittlerweile mit brutalem Staatsterror gegen den Willen der Bevölkerungsmehr­heit mühsam behaupten. Im benachbarten Angola regiert Eduardo dos Santos als Chef der „Öligarchie" schon länger als Mugabe nebenan uneingeschränkt weiter. Die UNITA (União Nacional para a Inde­pendência Total de Angola/Na­tionale Union für die totale Unabhängigkeit Angolas) ist nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg mit verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung seit dem Tod Savimbis in die Bedeutungslosigkeit abgedriftet. Dass auf dem fußballverrückten Kontinent der African Nations Cup dieses Jahr in Angola ausgetragen wird, ist ein großer Prestigeerfolg. Einzig der spektakuläre Anschlag auf die Mannschaft Togos in der umkämpften Ölenklave Cabinda trübte das Bild und machte der Weltöffentlichkeit deutlich, dass die Pseudo-Erfolgsgeschi­chte des Landes nur die inneren Konflikte übertüncht, diese jedoch keinesfalls gelöst sind.

In Mosambik hat die Frelimo seit dem Tode Samora Machels trotz der Destabilisierungsver­suche durch die RENAMO (Re­sistência Nacional Moçambica­na/ Nationaler Widerstand Mo­sambiks) die Position des Partei- und Staatsoberhaupts mehrfach unter diversen Funktionären der ersten Generation ausgewechselt und ihre Dominanz dabei konsolidiert.

Die RENAMO wurde politisch integriert und zur kleinen Oppositionspartei zurecht gestutzt. Mittlerweile hat die Fre­limo durch geschickte Manipulationen des Wahlgesetzes und der Wahlbezirke und mit Unterstützung einer hoffnungslos schwachen und zerstrittenen Opposition wieder eine 2/3-Mehrheit im Parlament, mit der die nachkoloniale Staatselite weiterhin uneingeschränkt ihre Schäfchen ins Trockene bringen kann.

In beiden ehemals portugiesischen Kolonien waren die Gegenbewegungen zu den Befreiungsbewegungen an der Macht mit Hilfe externer Unterstützung zur Destabilisierung ihrer Länder mit allen Mitteln und um jeden Preis bereit. Dies ging immer auf Kosten der lokalen Bevölkerung. Die auf brutalen Terror basierenden De­stabilisierungsstrategien, die noch auf die aktive Rolle des südafrikanischen Apartheid-Regimes zurück gingen, trugen letztlich zur Legitimierung der nachkolonialen Regierungen bei, indem diese die erkämpfte Unabhängigkeit weiterhin mit Waffengewalt verteidigen mussten. Diese Epoche begründete wohl auch die von den Befreiungsbewegungen an der Macht gegenwärtig vertretene Sichtweise, dass jegliche Opposition nur einen vom Imperialismus gesteuerten Re­gimewechsel im Sinne habe, dem sie mit allen Mitteln widerstehen müssen. Die Selbstdarstellung als antiimperialisti­sches Bollwerk dient damit zur ideologischen Verbrämung der eigenen Macht und der darauf gestützten Selbstbereiche­rungsstrategie durch die Plünderung der von ihnen kontrollierten Staatspfründe.  

In Simbabwe vermochte das ab­gehalfterte Regime der ZANU-PF sich trotzdem nur durch die Faust der Sekurokraten an der Macht halten, auch wenn diese durch das pragmatische Bündnis mit der oppositionellen MDC (Movement for Demo­cratic Change/Bewegung für demokratischen Wandel) getrübt ist. Durch deren Einbin­dung in eine sogenannte Regierung der nationalen Einheit hat sich diese mit der Mugabe-Despotie arrangiert.

Dadurch wurden die politischen Gegenkräfte letztlich einem Wahlverlierer untergeordnet und ausgeliefert. Der kann sich somit an den Schalthebeln der Macht behaupten und diese Verschnaufpau­sezur Sammlung neuer Kräfte missbrauchen.

In Namibia braucht sich die SWAPO darum vorerst nicht zu sorgen. Seit 15 Jahren fährt sie mangels ernsthafter politischer Alternativen über 70% der Stimmen unter den WählerInnen ein (vgl. GWR 345). Allerdings wurde die neuerliche 2/3-Mehrheit in den Parlamentswahlen vom November 2009 dadurch getrübt, dass neun Oppositionsparteien vor Gericht einen Einspruch erwirkten, der ihnen die Zeit zur Prüfung des Wahlergebnisses ermöglichte. Darauf gestützt wird im Februar 2010 vom Obergericht in Wind­hoek geprüft werden, ob bei diesen Wahlen alles seine Ordnung hatte. - Auch bei diesem verfassungsrechtlich verbrieften Vorgang handelt es sich selbstverständlich nach Auffassung der SWAPO um einen Destabilisierungsversuch von Marionetten finsterer imperialistischer Mächte.

In Südafrika verfehlte ein halbes Jahr vor den Wahlen in Na­mibia der ANC die 2/3-Mehrheit der vorherigen Legislaturperiode knapp, machte daraus aber zurecht kein Drama. Auch mit 65% der Mandate lässt es sich schließlich ganz gut im eigenen Interesse regieren.

Die Fußballweltmeisterschaft soll den alten Glanz der Mandela-Ära wieder herstellen

Die WM im Sommer 2010 soll über die sozialen Missstände hinweg täuschen, die schon zu Madibas Zeiten keinesfalls geringer waren.

Die Enttäuschungen in den Ghettos manifestieren sich mittlerweile in einem Ausmaß an sozialen Protesten und Gewalt, die hinter der Schreckensbilanz zu Apartheid-Zeiten kaum zurück stehen. Der sich in Gewaltorgien entladende Fremdenhass gegen AfrikanerInnen aus anderen Ländern macht aller Welt deutlich, dass nach der Apartheid die Diskriminierung keinesfalls vorüber ist.

In den mit Ausnahme Mosambiks an Rohstoffen und anderen natürlichen Ressourcen mehr oder weniger reichlich ausgestatteten Ländern ist die Armut nicht geringer geworden. Die Marginalisierung großer Teile der einst kolonisierten Bevölkerungsmehrheit gehört weiterhin zum Alltagsbild. Eine Befreiung vom Joch des Kolonialismus ging wohl für die meisten unter diesen mit anderen Erwartungen einher.

Vor ihren Augen mästet sich ei­ne kleine nachkoloniale Elite durch die strategischen Positionen im Staatsapparat und eine Klientelwirtschaft an dem gesellschaftlich verfügbaren Gut. Was eigentlich der Bevölkerung gehören sollte, wird von den „fat cats" (wie die nachkolonialen Neureichen im Volksmund wenig respektvoll genannt werden) in Gemein­schaftsaktion mit vielen unter denen, die schon zu Kolonialzeiten Nutznießer der damaligen Unrechtssysteme waren, neu verteilt.

„a loota continua" - die Plünderung geht weiter

„A luta continua" (der Kampf geht weiter) lautete früher die Parole. Sie mutierte unter den Befreiungsbewegungen an der Macht, die diese Parole seiner­zeit lauthals skandierten, zu „a loota continua" (die Plünderung geht weiter). In keinem der Länder hat die Armut abgenommen. Nirgend­wo hat das politische Selbstbestimmungsrecht wirkliche Demokratie, mehr als formale Gleichheitsrechte oder den uneingeschränkten Schutz der Menschenrechte gesichert. Die Herrschaftsmentalität der BefreierInnen bietet wenig bis keine Alternativen zu den totalitären Strukturen der kolonialen Gesellschaften. Das wirft die Frage auf, was aus dem Anliegen einer So­lidaritätsbewegung geworden ist, die seinerzeit den Kampf um Menschenwürde der „Verdam­mten dieser Erde" auch zu ihrer Sache machte. „Die Verdammten dieser Erde", das 1961 fast zeitgleich mit dem Tod seines Verfassers erschienene programmatische Manifest Frantz Fanons inspirierte den Internationalismus der 1960er Jahre maßgeblich. Es ist aus mehreren Gründen aufschlussreich, nochmals Fanons Streitschrift in Erinnerung zu rufen. Das eine ganze Generation prägende Werk war zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten, kam aber vor einigen Jahren deshalb wieder „in Mode", weil das darin enthaltene Kapitel über die „Missgeschicke des nationalen Be­wusst­seins" mit den ersten Misserfolgen afrikanischer De kolonisierung unter den neuen Eliten in Westafrika schonungslos abrechnet. Fanon hatte nur Verachtung für die Selbstbedienungsmentalität der selbstgerechten Patrioten, deren Vaterlandsliebe eigentlich nur sich selbst galt. Er stammte aus Martinique und studierte in Frankreich Medizin. Er spezialisierte sich als Psychiater und schloss seine Studien mit einer bahnbrechenden Analyse des Rassismus in Frankreich ab. Als „Schwarze Haut weiße Masken" erschien sie mit viel Verspätung auch in deutscher Übersetzung. Im Zu­ge der „postcolonial studies" wurde die Arbeit neu entdeckt und erfuhr späte Anerkennung. Zu Beginn der 1950er Jahre wechselte Fanon nach Alge­rien, wo er sich der Befreiungsbewegung FLN anschloss und diese auch international repräsentierte. In seinem aus diesem Milieu stammenden Hauptwerk verklärte er die antikoloniale Gewalt. Sie wurde für ihn zu einer reinigenden Metamorphose, obgleich er durch die eigene therapeutische Arbeit im Lande mit Folterern und deren Opfern auch um die zerstöre­rische Auswirkung solcher Gewalt wusste und diese thematisierte.

„Die Verdammten dieser Erde" diente vielen Protagonisten des antikolonialen Befreiungskampfes als moralische Rechtfertigung von Gewalt, die zum emanzipatorischen Akt stilisiert wurde. Besonders pointiert findet sich diese unromantische Romantisierung im Vorwort des Buches von Jean-Paul Sartre. In diesem stilisierte Sartre den Griff des Kolonisierten zum Gewehr als Akt der Menschwerdung. Sartres pseudo-revolutionäre Brachialrhetorik, im heimeligen Studierzimmer oder am gemütlichen Cafehaustisch in Paris verfasst, kontrastierte mit dem von ihm und seinesgleichen so verspotteten und verhöhnten libertären Humanismus eines Albert Camus, der fast zur gleichen Zeit tödlich verunglückte.

Als „Weichling" missverstanden und denunziert, weil er sich weigerte, ein Bekenntnis zur Gewalt abzulegen, hatte sich Camus politisch von der Linken isoliert. Seine tendenzielle Hinwendung zu einer gewaltfreien Einstellung verarbeitete Erfahrungen von der Résistance bis hin zum Algerienkrieg Ende der fünfziger Jahre. Ironischerwei­se war es Camus, der im Widerstand gegen das Nazi-Besat­zungsregime Kopf und Kragen riskierte, während Sartre sich solchen Gefahren nicht aussetzte. Dies verstellte Sartre wohl auch den Blick für die De­formationen durch Gewaltakte und den Missbrauch, der mit Gewaltanwendung zur Verfolgung keinesfalls nur emanzipatorischer Ziele betrieben wurde. Camus hingegen erkannte, dass es weder in Algerien noch sonst wo einen „gerechten Krieg" ge­ben kann, der die zer­störeri­schen Auswirkungen der Gewalt rechtfertigt. Dieser keinesfalls nur historische Exkurs (der zugleich an den 50. Todestag Camus, den 4. Januar, erinnert) eröffnet auch Einsichten für die Befreiungskämpfe zu anderen Zeiten an anderen Orten - nicht zuletzt im Südlichen Afrika. Die aus diesen Kämpfen als vermeintliche Sieger hervor gegangenen Vertreter (in der Tat fast ausschließlich Männer) der bis dahin von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossenen Mehrheit waren Produkte gewaltsamer Verhältnisse. Ihre Erfahrung als Opfer schützte sie keinesfalls davor, selbst als Täter zu enden. Vielleicht sogar war die Erfahrung von Gewalt konstitutiv für Dispositionen, die letztlich in einer relativen Skrupellosigkeit mündeten, bei Infragestellung ihrer eigenen Machtposition selbst Gewalt zu praktizieren, zumindest billigend in Kauf zu nehmen oder zu verantworten. Diese blieb keinesfalls darauf begrenzt, zur Befreiung beizutragen. Statt dessen begründete die Inkaufnahme und Prakti­zierung von Gewalt neue Formen der Unterdrückung und ein tendenziell totalitäres, von militaristischen Kommandostrukturen geprägtes Herr­schaftsverständnis, das Aus­grenzung den Vorzug gegenüber Integration gab.

„Der Krieg formt seine Leute", stellte Christa Wolf in ihrer Erzählung „Kassandra" fest. Er formt seine Leute über den Krieg hinaus.

Die militaristische Tradition einer Kriegerkultur begründete Organisationsformen und Hierarchien, die keinesfalls nur heroische Akte förderten. Ray­mond Suttner, der selbst wegen seiner Untergrundarbeit für den ANC jahrelang in süd­afrikani­schen Gefängnissen in Einzelhaft verbrachte, dokumentiert dies in dem auf Interviews und eigenen Erfahrungen basierenden Buch „The ANC Underground in South Africa", das 2008 in Südafrika erschien. Wie er darin feststellt förderte der organisierte Widerstand viele Formen des Machtmiss brauchs und nahm diese billigend in Kauf. Diese andere Form von Domi­nanzkultur manifestierte sich nicht zuletzt auch in vielfältigen physischen wie psychischen Formen einer männlichen Gewalt über Frauen. Das Organisationsverständnis im Widerstand machte den ANC zum Familienersatz. Das Persönliche wurde durch das Kollektiv ersetzt. Individuelles Urteilsvermögen und die persönliche Entscheidung wurden un­terdrückt. Sie galten als nach­rangig gegenüber der Bewegung. Die Definitionsgewalt wurde von der kollektiven Ent­scheidungsmacht im Namen des übergeordneten Interesses der Organisation übernommen, die von der Führung repräsentiert wurde. Wie Suttner aus eigener Erfahrung schlussfolgert, hat jegliche Beteiligung an revolutionären Prozessen seine Auswirkung auf die Wahrnehmung des Persönlichen: Angesichts der alles dominierenden Forderungen nach Aufopferung und Lo­yalität für eine größere Sache als sich selber ist das unvermeidliche Ergebnis eine Ver­leugnung der Privatsphäre.

Aber es gilt auch weiterhin: Das Private ist das Politische. Dies hatte schon der angolanische Schriftsteller Artur Pestana dos Santos präzise auf den Punkt gebracht. Seine Erfahrungen als Guerillakämpfer für die MP­LA im tropischen Regenwald Cabindas, dem „Mayombe", verarbeitete er Ende der 1970er Jahre in dem mittlerweile zum angolanischen Nationalepos avancierten gleichnamigen Roman unter dem Pseudonym Pepetela (seinem „nomme de guerre" aus den Kampfzeiten).

In einem Dialog mit dem Politkommissar Mundo Novo („Neue Welt") lässt er seinen Protagonisten Sem Medo („Ohne Furcht"), der als Führer einer Guerilla-Einheit kurz da­nach sein Leben für diesen opfert, die „konterrevolutionäre" Ansicht äußern, dass er froh wäre, „wenn sich ein junger Mensch entschließt, seine Persönlichkeit auszuformen, selbst wenn das politisch gesehen In­dividualismus bedeuten sollte. Aber ein neuer Mensch wird geboren, gegen alle und gegen alles, ein Mensch, der frei ist von Niedrigkeiten und Vorurteilen, und da bin ich zufrieden."

Freie Menschen sind selten auf dieser Erde. Sie finden sich lei­der kaum in den nachkolonialen Gesellschaften des Südlichen Afrika. Befreiungsbewegungen an der Macht sind dafür kein besonders guter Nährboden.

 

Henning Melber