Vier Stimmen für Rußland

Vor einigen Monaten hatte ich hier im Heft an dieser Stelle unter dem Titel „Rußland in die Nato" Überlegungen zu einer grundlegenden Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Nordatlantikpakt und Rußland dargelegt und für die Perspektive einer Integration Rußlands in die Nato plädiert (Das Blättchen, Nr. 16 vom 3. August 2009). Dieser Tage nun haben sich der frühere Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU), General a. D. Klaus Naumann, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, sowie Frank Elbe, Ex-Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt und Botschafter in Indien, Japan, Polen und der Schweiz, und Vizeadmiral a. D. Ulrich Weisser, Ex-Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium, zu diesem Thema zu Wort gemeldet: „Russland sollte die Tür der Nato zum Beitritt geöffnet werden." (Siehe: DER SPIEGEL, 10/2010, Seite 100 f.)

Ihre Position begründen Rühe, Naumann, Elbe und Weisser unter anderem mit folgender zutreffender Auflistung: „Die euroatlantische Gemeinschaft braucht Rußland aus vielerlei Gründen: für Energiesicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle, für die Verhinderung von Proliferation, für Lösungen der Probleme in Iran, Afghanistan und im Nahost-Konflikt, für die Einhegung des Krisen- und Konfliktpotenzials in Zentralasien, aber auch für die Meinungsbildung und Entschlussfassung im Uno-Sicherheitsrat wie im Rahmen von G 8 und G 20."

Wenn die Vier in diesem Kontext zugleich von einem Imperativ sprechen, dem Westeuropa folge: „Sicherheit in und für Europa gibt es nur mit und nicht gegen Rußland.", so kann dem Imperativ selbst nur zugestimmt werden, daß Westeuropa ihm allerdings folge, gilt bisher allenfalls zeit- und teilweise. Noch brechen immer wieder die aus dem Kalten Krieg sattsam bekannten Ressentiments und Beißreflexe durch, wann immer sich Gelegenheit zeigt. In der jüngsten Vergangenheit hat dies zum Beispiel der Georgienkonflikt exemplarisch vorgeführt: Antirussische Schmähungen und Anklagen wurden sofort nach Ausbruch des Konfliktes laut, und die Zusammenarbeit im Nato-Rußland-Rat wurde eingefroren, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, zuvor aufzuklären, welche Rolle Georgien selbst bei der Auslösung des Konfliktes gespielt hatte. Da wurde schlaglichtartig deutlich, daß das Klischee von Russland als dem „Reich des Bösen" immer noch in westlichen Hinterköpfen lauert - jederzeit sprungbereit.

Beachtlich ist allerdings schon, daß der zitierte Imperativ von diesen vier Vertretern des konservativen Flügels des bundesdeutschen Sicherheitsestablishments heute ohne Wenn und Aber ausgesprochen wird. Der Imperativ galt ja auch schon zuzeiten des Kalten Krieges. Als Sozialdemokraten um Egon Bahr und Willy Brandt seiner Zeit zu dessen Erkenntnis gelangt waren und als eine Konsequenz daraus die neue Ost- und Entspannungspolitik konzipierten und umsetzten, mußten sie sich von Konservativen noch als Vaterlandsverräter beschimpfen lassen.

Die Idee eines russischen Nato-Beitritts ist im Übrigen auch für die russische Seite keineswegs neu. Bereits vor zehn Jahren hat Wladimir Putin sie für ein Buch des russischen Journalisten Andrej Kolesnikow von der Tageszeitung „Kommersant" geäußert, und Kolesnikow zeigte sich noch kürzlich überzeugt: „Ich glaube, daß er sich von dieser Idee bis heute nicht verabschiedet hat." Das wäre nur folgerichtig, denn wenn man die grundlegenden sicherheitspolitischen und wirtschaftsstrategischen Interessen Rußlands in Betracht zieht, ergibt sich: Rußland braucht den Westen nicht weniger als umgekehrt, und die meisten der Punkte, um die es dabei hauptsächlich geht, finden sich im oben zitierten Begründungszusammenhang von Rühe, Naumann, Elbe und Weisser.