Griechenland am Pranger

in (01.06.2010)

Für die national wie international weiterwuchernde Wirtschaftskrise machen die Herrschenden gern Verursacher im Ausland aus. Bundeskanzlerin Merkel richtet den Finger vorzugsweise auf den Finanzsektor der USA: »Die Bürger haben die Reformen meiner Regierungszeit nie geliebt, aber sie haben gesehen, daß die Arbeitslosigkeit ... zurückgegangen ist. Jetzt haben viele Menschen die Sorge, ob diese ganze Anstrengung umsonst sein soll, wenn ein Ereignis von außen, wie die Lehman-Pleite und der Kollaps der Finanzmärkte, das alles zu zerstören droht«, wie sie voriges Jahr im Spiegel erklärte. Inzwischen wurde sie darauf hingewiesen, daß zusätzliche Sündenböcke in der EU zu finden sind, weil sie sich zu viele Schulden über die Maastrichtkriterien hinaus geleistet haben. Ins Visier der deutschen Aufklärer gerieten die sog. »Pi(i)gs« (Schweine): Portugal, Italien, (Irland), Griechenland und Spanien. Diesen vorwiegend südlichen Ländern wird angelastet, sie könnten allesamt keine Haushaltsdisziplin einhalten, hätten sich enorme Staatsausgaben auf Pump geleistet und bisher nur zögerlich die von der EU-Kommission angemahnten »Reformen« durchgesetzt. Irland dagegen erhält bessere Zensuren, weil es inzwischen zu einem erneuten Referendum über die EU-Verfassung erpreßt werden konnte und nunmehr auch die erforderliche neoliberale »Disziplin« versprochen hat ...

Am schlimmsten aber soll es Griechenland getrieben haben: Schon die Aufnahme in den hehren Club der Euro-Länder habe es sich mit gefälschten Daten über sein wahres Bruttosozialprodukt und den Staatshaushalt erschlichen - angeblich mit Hilfe von US-Bankern und deren gewieften Finanzstrategien! Ähnliche Tricks wie zum Beispiel Cross-Border-Laesing oder Verrechnung von ständigen Verpflichtungen gegen in Aussicht genommene Privatisierungseinnahmen werden allerdings auch in den Zentralländern wie Deutschland oder Frankreich angewandt, aber was Jupiter darf, steht einem Ochsen noch lange nicht zu ... »Die Griechen« werden mit schmähenden Kampagnen an den Pranger gestellt. Einen traurigen Höhepunkt leistete sich im März der Focus mit dem Titelbild einer berühmten Statue aus hellenischer Zeit, der Venus von Milo - mit einmontiertem Stinkefinger: »Betrüger in der Euro-Familie - Bringt uns Griechenland um unser Geld - und was ist mit Spanien, Portugal, Italien?« Im Text wurde die Beschimpfung munter weitergetrieben: »Das Schlaraffenleben der Griechen auf Pump droht die Währungsunion zu sprengen.«

»Wir müssen also bluten für die Griechen, die sich in den Euro geschummelt haben?« Da sei Bundesfinanzminister Schäuble vor. Der soll Hilfen an Griechenland strikt ablehnen - bisher jedenfalls noch.

Wegen derartiger Hetzkampagnen ist es nun schon zu diplomatischen Verwicklungen und antideutschen Aktionen gekommen. Der deutsche Botschafter in Athen wurde ins griechische Außenministerium einbestellt, der geplante Besuch des griechischen Präsidenten in Berlin war zwischenzeitlich in Frage gestellt worden. Griechische Medien verweisen darauf, daß Deutschland immer noch keine befriedigende Wiedergutmachungsleistungen für die Zerstörungen und die Massaker an der Zivilbevölkerung während des 2. Weltkrieges geleistet hat. Einige Organisationen in Griechenland haben zum Boykott deutscher Waren aufgerufen.

Damit käme man der wahren Ursache schon näher. Denn die Probleme mit der Zahlungsbilanz resultieren großenteils aus dem enormen Handelsungleichgewicht mit Deutschland. Jahr für Jahr konnte die BRD vier- bis fünfmal mehr Waren nach Griechenland exportieren als von dort hierher importiert wurden; 2008 strömten für 8,3 Milliarden Euro deutsche Waren in die Republik Griechenland, der Import aus Hellas dagegen summierte sich auf nur 1,9 Milliarden Euro. Vor der Euro-Einführung hätte Griechenland die Möglichkeit gehabt, seine Währung, die Drachme, abzuwerten, wodurch das Land seine Exporte billiger hätte anbieten können, und die Importe aus dem Ausland wären verteuert worden. Nicht zuletzt um dem Land diese Möglichkeit zu nehmen und die eigenen Handelschancen zu erhöhen, drangen die EU-Zentralländer 2001 auf einen schnellen Beitritt Griechenlands zur europäischen Währungsunion. Ähnlich verhält es sich mit den Zahlungsbilanzschwierigkeiten der anderen »Pigs«. Selbst der Focus muß zugeben, daß die Ungleichgewichte Berlin wohl doch dazu zwingen werden, Unterstützung zu gewähren: Deutschland könne »die schwachen Südstaaten nicht einfach abstürzen lassen: Mehr als 500 Milliarden Euro haben hiesige Geldinstitute in Staatsanleihen und Kredite dieser Länder gesteckt. Eine Pleitewelle würde eine zweite Bankenkrise auslösen.«

Da hat selbstverständlich »Deutschlands bester Ökonom« (Bild-Zeitung), Hans-Werner Sinn, gute Ratschläge parat, er plädiert für ein Eingreifen des Internationalen Währungsfonds: »Ich befürchte fast, die EU wird von Griechenland nicht die Disziplin einfordern, die nötig ist, um das Land auf Kurs zu bringen und andere Länder hinreichend abzuschrecken, es den Griechen gleichzutun.« Der Kurs, den Sinn alternativlos im Sinn hat und den Deutschland längst mit den Agenda- und Hartz-Gesetzen vorgegeben hatte, bedeutet: Absenkung der Renten- und Sozialleistungen, weitgehende Privatisierung des Sozialsystems, Stellenabbau im Öffentlichen Dienst, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Lohnsenkung. Der Teufel soll also durch Beelzebub ausgetrieben werden, der große Ökonom sieht nicht, daß Deutschland mit seiner neoliberalen Dumpingpolitik die anderen EU-Staaten in Währungsturbulenzen gebracht und nunmehr die schwächeren in die Pleite getrieben hat.

Die deutschen Gewerkschaften IG Metall und ver.di werden in den Medien gelobt, weil sie in den letzten Wochen »sehr moderate« und »vernünftige« Tarifvereinbarungen abgeschlossen hätten. Gemeint ist damit: Sie haben - mit weiterem Arbeitsplatzabbau erpreßt - Lohnzahlungen zugestimmt, die die Nettokaufkraft hierzulande weiter absenken, wenn die Zusatzbelastungen durch höhere Gebühren aller Art gegengerechnet werden. Und nun soll mit Hilfe des IWF, der sich auf kapitalistische Verarmungsstrategien versteht, das Lohn- und Sozialdumping fortgesetzt werden. Merken denn die verantwortlichen Gewerkschaftsspitzen nicht, daß ihr Standortkorporatismus und ihre Kungelei mit den Unternehmerverbänden das Unheil der Wirtschaftskrise mit verursacht hat und nunmehr dazu beiträgt, daß die europäischen Völker wieder in nationalistische Feindschaften getrieben werden? Solidaritätsaktionen vielfacher Art mit den Arbeitern, Angestellten und Studenten auf den Straßen Athens sind das Gebot der Stunde.

 

Otto Meyer   Deutscher Euro-Imperialismus

 

Kanzlerin Merkel gab ihrem Volk schon in der Neujahrsansprache 2008/2009 zu verstehen: »Wir wollen die Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise nicht einfach überstehen. Wir wollen stärker aus ihr herausgehen, als wir hineingekommen sind ... wir Deutschen haben schon ganz andere Herausforderungen gemeistert ... Wir haben das zerstörte Deutschland nach dem Krieg aufgebaut und fest in Europa verankert.« Inzwischen ist genauer zu erkennen, was der Kanzlerin Redenschreiber im Auftrag der hierzulande herrschenden Kapitalinteressen wohl im Sinn hatten: Die »feste Verankerung« wird genutzt, um ganz Euroland zu dominieren. Beim EU-Gipfel in Brüssel am 25. März 2010, wo es um Kredithilfen für Griechenland ging, bestimmte die Kanzlerin der Deutschen fast allein gegen den Rest: Keine Direkthilfen für klamme Schuldnerländer wie Griechenland und die übrigen »PIGS« (Portugal, Italien, Griechenland, Spanien), die wohl schon bald ebenfalls hilfsbedürftig sein werden; stattdessen die Verpflichtung für sie, sich grundsätzlich zunächst beim Internationalen Währungsfonds (IWF) zu verschulden und sich den von dort zu erwartenden äußerst strengen Haushaltsspar- und Privatisierungsauflagen zu unterwerfen. Danach könnten unter Umständen auch Kredite aus EU-Ländern gewährt werden, sofern alle Mitgliedsländer zustimmen - also wahrscheinlich nie oder erst, wenn Deutschland es will.

Frankreich und die meisten übrigen EU-Mitglieder hatten sich gegen die vorrangige Verpflichtung auf den IWF lange gesträubt. Sie befürchten, daß der Gang eines EU-Landes zum IWF dem Ansehen der Euro-Währung auf den Finanzmärkten schaden könnte. Aber die deutsche Kanzlerin hielt sich an die Vorgaben der großen, von Deutschland aus international agierenden Konzerne und Banken. Deren Strategen und Berater wie Professor Sinn vom Ifo-Institut München (Ossietzky 5/10) warnen, daß die EU-Gremien nicht bereit sein würden, mit genügend Druck gegen die armen »Sünder« vorzugehen.

Merkel setzte sich auch gegen Frankreichs Präsident Sarkozy durch. Deutsche Kommentatoren aus den Herrschaftsmedien sind darüber voll des Lobes. Merkel habe Sarkozy durch ihren geschickten Kompromiß-Vorschlag, IWF-Kredite mit Einzelkrediten aus EU-Ländern zu kombinieren, gewinnen können. In Frankreich sieht man das anders: Das sei kein Kompromiß, eher eine Erpressung durch »Madame Non«, wie Merkel tituliert wurde. Stefanie Lob weiß auf Welt-online aus Brüssel zu berichten, Europäer sprächen vom »Diktat der deutschen Kanzlerin«. Merkel werde als »Eiserne Lady, knauserig und europafeindlich« dargestellt. »Europa hat eine neue Eiserne Lady, und ihr Name ist Angela Merkel«, habe ein EU-Diplomat den Brüsseler Gipfel zusammengefaßt.

Doch darin sehen die Welt-online-Kommentatoren Schiltz und Schaeder einen triumphalen Sieg: »Deutschland schwimmt sich frei aus der Rolle der ewigen Melkkuh. Das schafft eine neue Kultur der Verantwortung. Es sind gute Tage für Europa.«

Gemeint ist das von Deutschland mit der Exportwalze beherrschte Europa. Merkel soll den Griechen zeigen, was eine Harke ist, oder ihnen mit einer vom IWF gestählten Hacke beibringen, was es heißt, daß Schulden zu bezahlen sind: Renten runter, Urlaubsansprüche kürzen, länger arbeiten bei weniger Lohn, die soziale Krankenversorgung ausdünnen, möglichst viel vom auch dort zwischenzeitlich »auswucherndem Sozialstaat« auf Privatversicherung umstellen, Eisenbahnen privatisieren, desgleichen Universitäten, Schulen, Krankenhäuser. Kurz: Lohn- und Sozialdumping auf allen Ebenen.

Griechenland habe doch auch noch mehr  anzubieten, schlugen deutsche Finanzmedien vor, zum Beispiel so manche unbewohnte Insel ... Aber warum so bescheiden bleiben? Könnte der deutsche TUI-Konzern nicht gleich eine größere Anleihe für den Aufkauf der gesamten Ferieninsel Kreta auflegen? Was die deutsche Wehrmacht nur für wenige Jahre schaffte, ließe sich doch heute, bald 70 Jahre später, mit viel friedlicheren Mitteln erreichen, weil vom angeblich anonymen Markt und Kapital aufgeherrscht.

Vieles, was den Griechen heute droht, wurde uns in der BRD schon durch die Vorgängerregierungen, vor allen die rot-grüne und die schwarz-rote, beschert. Die jetzige Merkel-Westerwelle-Connection hat den Auftrag, zügig weiterzumachen und wie in Deutschland so in ganz Europa für die richtige Ordnung zu sorgen. Griechenland ist zur Zeit das Testgebiet, auf dem erprobt werden soll, wie schnell und wie weit man gehen darf. Ob das hierzulande alle abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften begreifen? Und ob sie sich zu solidarischen Aktionen aufraffen, sobald in Hellas Generalstreiks das Land lahm legen oder in Athen und Saloniki die Polizei den Auftrag erhält, den Widerstand auf den Straßen zusammenzuknüppeln? Oder ob Deutschland dann Polizeihilfe leistet?

 

Mit diesem Beitrag setzt Otto Meyer die Serie fort, die er in Heft 5/10 unter der Überschrift »Griechenland am Pranger« begonnen hat.

 

 

Otto Meyer   Hindernisse für die deutsche Exportwalze

 

Im Streit um Griechenlands Staatsschulden konnte sich Kanzlerin Merkel auf dem EU-Gipfel in Brüssel durchsetzen - aber zu einem hohen Preis. Nicht nur Merkels Auftritt als »Madame Non« und neue »Eiserne Lady« rief in den Medien europaweit Empörung über neudeutsches Großmachtgehabe hervor. Noch empfindlicher traf die deutschen Kapitalmanager die zunehmende Kritik an den Exportüberschüssen der BRD. Die aggressive deutsche Exportwirtschaft verdrängt seit Jahren mit ihren geringen und immer noch weiter abgesenkten Lohnstückkosten, den viel zu niedrigen Löhnen und Sozialabgaben ihre Konkurrenten vom Markt und ist so auch die eigentliche Ursache für das Schuldendesaster nicht nur der verächtlich »PIGS« abgekürzten Länder Portugal, Italien, Griechenland und Spanien. Sie bringt selbst Länder wie Frankreich und England in Schwierigkeiten.

2008 konnten zum Beispiel in Frankreich deutsche Waren für 97 Milliarden Euro abgesetzt werden, die Importe von dort nach Deutschland hatten dagegen nur einen Wert von 66,7 Milliarden Euro; so entstand gegenüber der BRD ein Defizit von 30 Milliarden Euro in der französischen Handelsbilanz, das zu ähnlichen Fehlbeträgen aus den Vorjahren zu addieren ist. Gegenüber Großbritannien lag der deutsche Exportüberschuß 2008 bei mehr als 22 Milliarden Euro, gegenüber Italien bei 18 Milliarden, fast ebenso hoch gegenüber Spanien. Dagegen sind die griechischen Defizite (rund acht Milliarden Euro jährlich gegenüber der BRD) eher Peanuts. Doch werden sie offenbar als existentiell für die Durchsetzungskraft deutscher Wirtschaftsinteressen eingeschätzt, so daß ein Exempel statuiert werden muß, auch unter Inkaufnahme aufkommender antideutscher Ressentiments.

Wirklich gefährlich könnte es allerdings werden, wenn Forderungen aus den Nachbarländern nach einem Stabilisierungsbeitrag der BRD um sich griffen. »Luxemburgs Premier Juncker forderte einen höheren Tarifabschluß für den öffentlichen Dienst in Deutschland«, wußte empört die FAZ zu berichten; doch unsere immer noch staatsnah agierende Gewerkschaft ver.di begnügte sich mit einem geringeren Abschluß. Frankreichs Finanzministerin Lagarde verlangte bei einem Deutschlandbesuch, daß »deutsche Unternehmen höhere Löhne zahlen«, und sie nannte dafür wettbewerbspolitische Gründe; doch die angeblich so starke IG Metall schloß einen gedeckelten, unternehmerfreundlichen Tarifvertrag ab. Der »Zeitung für Deutschland« (Eigenzuschreibung der FAZ) gingen derartige Appelle aus EU-Ländern - auch wenn die deutschen Gewerkschaften keinen Nutzen daraus zogen - entschieden zu weit. Sie klärte auf, was zu tun sei und wer in Europa führt und wer gefälligst zurückzutreten hat: »Muß man jetzt aufpassen, daß die Bundesregierung nicht auch noch Hand an die Tarifautonomie legt? Die schrumpfende französische Industrie ist doch kein Vorbild fürs Überleben in einer globalisierten Wirtschaftswelt. Europa wäre nicht geholfen, wenn man Deutschland schwächt.«

Das manager magazin argumentierte scheinbar verständnisvoller und titelte: »Deutsches Lohndumping sprengt die Währungsunion«. Ausführlich wurde zunächst die Einschätzung von Heiner Flassbeck referiert, für kurze Zeit Finanzstaatssekretär unter Oskar Lafontaine, heute Chefökonom bei der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) in Genf. Dessen Fazit: »Wir haben kein Problem mit Griechenland, sondern mit Deutschland«, denn durch systematisches Lohndumping grabe Deutschland den anderen EU-Staaten Marktanteile ab. Ökonomische Fakten wurden aufgezählt: »Während die Lohnstückkosten der deutschen Industrie seit der Einführung des Euro um 14 Prozent gesunken sind, blieben sie in Griechenland ... gleich. In Portugal stiegen sie um fünf Prozent, in Spanien um 28 und in Italien gar um 46 Prozent.« Ich ergänze: In Frankreich betrug der Anstieg 14, in England 18 14 Prozent.

Anschließend kam im manager magazin der Finanzexperte Michael Heinen von der Deutschen Bank zu Wort, der Flassbecks Einschätzung anfänglich sogar zu teilen schien: Die Haushaltsdefizite der Südländer »gehen auch auf das Konto geringerer Wachstumsperspektiven, die eine Folge mangelnder Wettbewerbsfähigkeit sind«. Doch Heinen zog andere Konsequenzen als Flassbeck. Aus der Sicht des Großbank-Experten »sollten dafür aber nicht unbedingt die Löhne steigen«. Er forderte stattdessen: »Die griechischen Löhne beispielsweise müßten um 25 Prozent sinken ... Die Anpassung ist zu schaffen.« Außerdem plädierte er für eine »Steuerstrukturreform, die den Bürgern wieder mehr Geld in die Hand gibt.« Welche »Bürger« der Banker aus Deutschland da im Sinn hatte, ließ er unausgesprochen. Wohl kaum die Arbeiter und Angestellten im unteren und mittleren Lohnbereich, auch nicht die Rentnerinnen und Rentner; sie sollen - außer durch Senkung der Reallöhne auch durch Anhebung der Mehrwertsteuer und Kürzung der Sozialleistungen alle Lasten tragen. »Mehr Geld in die Hand bekommen« müssen nach Meinung des Bankers selbstverständlich die Bezieher höherer Einkommen und die Kapitalbesitzer - ähnlich, wie es die neoliberalen Steuer- und Sozialreformer aus SPD, Grünen, Union und FDP in Deutschland schon vorgemacht haben und wie es gegenwärtig die schwarz-gelbe Koalition mit neuem Elan weiterführen will.

Die Welt der Bezieher des manager magazins dürfte damit wieder in Ordnung sein. Ähnlich verrenkt sich der Spiegel. Die Bild-Zeitung hat derweil dafür zu sorgen, daß die Massen nach Anstachelung nationaldeutscher Gefühle mitziehen und sich freuen, wenn den »faulen Südländern« mal ordentlich der Marsch geblasen wird.

Doch wie lange sich Resteuropa diesen deutschen Crashkurs gefallen läßt, ist damit noch nicht entschieden. Der Spiegel zitierte den französischen Ökonomen Christian Stoffaes mit der Warnung: »Deutschland muß sich vorsehen, nicht zum Haßobjekt in Europa zu werden.« Die BRD-Exportwalze zeigt schon erste Bremsspuren, ihr könnte bald ein Stopp drohen.

 

Dies ist der dritte Teil von Otto Meyers Serie, die im Heft 5/10 unter der Überschrift »Griechenland am Pranger« begonnen hat. Fortsetzung folgt.

 

 

Otto Meyer   Griechenland-Krise als Lehrstück (4)

 

Die Forderungen aus der Brüsseler EU-Administration, Deutschland müsse zu seiner Verantwortung stehen, die sich aus seinen massiven Exportüberschüssen gegenüber fast allen anderen Ländern der Gemeinschaft ergäbe, klangen alarmierend und waren auch so gemeint: Die BRD solle Griechenland Kredithilfen leisten und zudem die Löhne im eigenen Land erhöhen, um die Binnenkonjunktur auf den Verbrauchermärkten zu steigern!

Doch derartige Forderungen weist die Bundesregierung in Übereinstimmung mit den hier herrschenden Kapitalfraktionen regelmäßig mit dem Argument zurück, in Deutschland gelte auf den Arbeitsmärkten »Tarifautonomie«, zuständig für die Lohnentwicklung bei uns seien die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften. Naßforsch stellte Der Spiegel klar: »Die Deutschlandkritiker tun so, als legte die Regierung die Löhne fest. Tatsächlich wird die Bezahlung in Deutschland von Unternehmensverbänden und Gewerkschaften ausgehandelt.« Könnte dieses »Modell Deutschland« der Einbindung und Zähmung der Gewerkschaften - so der zarte Hinweis - nicht auch in Griechenland und den anderen Defizitländern erfolgreich Anwendung finden? Zumal in Hellas ja seit einigen Monaten eine in Teilen der Arbeiterschaft verankerte sozialdemokratische Regierung amtiert, die ähnlich wie Schröders und Steinmeiers SPD »notwendige Reformen« besser »kommunizieren« könnte als die Konservativen. Schließlich hat ja die Sozialdemokratie ganz allgemein als »Arzt am Krankenbett des Kapitalismus« eine lange Erfahrung ...

Unsere Regierenden wollen davon ablenken, daß sie sehr wohl die Lohnentwicklung wie insgesamt die Kaufkraft auf dem Binnenmarkt entscheidend beeinflussen. In Bund, Ländern und Gemeinden sind sie Arbeitgeber für mehrere Millionen Beschäftigte und schon deshalb direkt verantwortlich. Die Reallöhne haben sich aber seit Jahren im Öffentlichen Dienst noch schlechter entwickelt als in anderen Sektoren. Zudem ist von den einst sechs Millionen Arbeitsplätzen in diesem ihrem Arbeitgeberbereich nicht einmal die Hälfte übriggeblieben. Damit haben die Regierungen unter Kohl, Schröder und Merkel das Heer der Arbeitslosen vergrößert und schon allein hierdurch die Konkurrenzsituation für die Arbeitsuchenden erheblich verschärft. Nicht zuletzt die Agenda- und Hartzgesetze der Regierung Schröder, die unter Schwarz-Rot ausgebaut wurden und jetzt unter Schwarz-Gelb perfektioniert werden sollen, »flexibilisierten« die Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt zuungunsten der ArbeitnehmerInnen. Die Lockerungen des Kündigungsschutzes, die Einführung der Leiharbeit, Teilzeit- und Kurzarbeitsregelungen und viele weitere staatliche Maßnahmen beschleunigten die Entwicklung zu den heute Millionen prekären Jobs. Nicht vergessen sei die staatlich durchgesetzte Absenkung in der Renten-, Pflege-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung, womit der in Jahrzehnten erkämpfte »Soziallohn« der Arbeiterklasse insgesamt massiv minimiert worden ist. Das ganze Ausmaß des ständigen Raubes an sozialen Errungenschaften wird auch von den Gewerkschaften unterschätzt und bei Tarifverhandlungen ständig ausgeblendet.

Immer wieder lassen sich deutsche Gewerkschaften für angebliche Vorteile in der Standortkonkurrenz einspannen, statt für angemessene Lohnerhöhungen zu streiten. Internationale Solidarität bleibt auch auf EU-Ebene ein Posten für Festtagsreden ohne wirksame Folgen. Immer noch vertreten hochrangige Gewerkschaftsfunktionäre die These, das deutsche Modell, Spartentarife mit den Unternehmensverbänden auszuhandeln und in den Betrieben »Co-Management« mit den Kapitaleignern zu pflegen, habe sich für die deutsche Arbeiterschaft besser ausgezahlt als die Taktik der Kollegen in anderen Ländern, die Auseinandersetzungen auch mit politischen Streiks bis hin zum Generalstreiks auf die Straßen zu tragen. Erst jetzt wird in der deutschen Öffentlichkeit allmählich bekannt, daß in den Nachbarländern wesentlich höheren Einkommen und Soziallöhne erreicht worden sind.

Am Desaster Griechenlands kann man studieren, wohin es führt, wenn Produktivitätsgewinne nicht zur Sicherstellung der Lohneinkommen aller am Arbeitsergebnis Beteiligten und zur Verbesserung der Lebensverhältnisse insgesamt verwendet, sondern einseitig von den Unternehmern verbucht werden, die sie vorwiegend dazu nutzen, zusätzliche Konkurrenzvorteile zu erringen. Solange sich neue Marktanteile, sei es in Europa oder global, erobern lassen, können zumindest die Arbeitsplätze im eigenen Land sämtlich oder größtenteils erhalten werden - das war die Prämie, mit der Gewerkschaften und Sozialdemokraten sich in Strategien des Standortwettbewerbs einbinden ließen und sogar Reallohnsenkungen zustimmten. Daß sich dadurch im Nachbarland oder weltweit die Einkommens- und Lebensverhältnisse weiter verschlechtern müssen, wird ausgeblendet oder billigend in Kauf genommen. Den Lohnsenkungswettbewerb kann aber letztlich kein Land gewinnen. Das Mittel der Kreditausweitung für einzelne oder Unternehmen und dann auch für ganze Staaten hilft nur eine Zeitlang - bis schließlich die Kredite platzen. Dann droht das Schuldendesaster auch auf die zuvor erfolgreichen Länder zurückzuschlagen.

Der Fall Griechenland kann zudem zeigen, wozu Exportguthaben, die nicht durch Importe von Waren oder durch Zahlungen für Dienstleistungen aufgewogen werden, den Gewinnern in der Regel dienen: Die Exportsieger verwenden ihre Profite aus den Auslandsgeschäften nicht für zusätzliche Investitionen hier im Inland. Stattdessen erwerben sie lieber Firmenanteile und Immobilien sowie Staatsanleihen in den Verliererländern und gewähren dafür großzügig Kredite. Das heute faktisch insolvente Griechenland hat sich auf diese Weise mit vielen Milliarden Euro vorwiegend bei deutschen Finanzinstituten verschulden müssen, namentlich bei der Deutschen Bank.

Den Aufkauf relevanter Wirtschaftsteile im Ausland durch deutsches Kapital haben also letztlich die braven deutschen Arbeiter mit ihrer jahrelangen Lohnzurückhaltung bezahlt. Doch wenn heute dem in die Pleite konkurrierten Griechenland erlaubt würde, seinen Schuldverpflichtungen nicht mehr zur Gänze nachzukommen, könnte es auch für die deutschen Kapitalbesitzer und -verleiher eng werden. Am Ende hätte es sich für sie nicht gelohnt, auf Globalisierung und Exportoffensive zu setzen. Die vorläufig in andere Länder ausgelagerte große Kapitalkrise könnte zurückschlagen. Es ist keineswegs sicher, ob Bundeskanzlerin Merkels Neujahrswunsch von 2009, »wir Deutschen« wollten »stärker aus der weltweiten Finanzkrise herausgehen, als wir hineingekommen sind«, in Erfüllung geht.

Josef Ackermann von der Deutschen Bank flog schon mehrmals zu Beratungen nach Athen und ist häufiger Gast bei Angela Merkel. Sicher geht es auch um die Bezahlung jener Aufträge, die die konservativen Vorgänger der jetzigen griechischen Regierung für den Ankauf deutscher Schützenpanzer bei Krauss Maffei in Kassel sowie für U-Boote an die HDW-Werft in Kiel erteilt hatten. Die jetzt regierenden Sozialdemokraten versuchen einen Stopp auszuhandeln. Bisher vergeblich, denn »pacta sunt servanda!« Und Kriegsvorbereitungen darf man in Krisenzeiten auf keinen Falls einstellen, schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht. So funktioniert nun mal der Kapitalismus. Solange man ihn gewähren läßt.

 

 

Otto Meyer   Schwaben gegen Griechen?

 

Die beruhigenden Beteuerungen, das Ende der Weltwirtschaftskrise stehe kurz bevor, sind wieder einmal Makulatur. Nachdem in allen großen Industriestaaten vor anderthalb Jahren für mehrere hundert Milliarden Euro angeblich alternativlose Schutzschirme für Banken aufgespannt worden waren, braucht man nun noch größere Schirme für ganze Staaten, nicht nur für Griechenland. Die Regierungschefs der EU-Länder haben in einer neuerlichen dramatischen Sitzung die Europäische Zentralbank veranlaßt, bis zu 750 Milliarden Euro für Kredite an Mitgliedsstaaten bereitzustellen oder dafür zu bürgen. Der von der BRD garantierte Betrag soll - entsprechend der Größe ihrer Volkswirtschaft - 125 Milliarden Euro betragen. Nach der angeblichen Rettung »systemrelevanter« Banken mit Staatsgeldern sind nun mehrere Staatshaushalte im Euro-Raum gefährdet, weil sie auf den Finanzmärkten nicht mehr die zur Schuldenfinanzierung benötigten neuen Kredite bekommen können. Der »kluge Kopf«, der angeblich »immer« hinter der »Zeitung für Deutschland«, der Frankfurter Allgemeinen, steckt, wurde im Kommentar des Herausgebers Berthold Kohler mit der Überschrift gelockt: »Bis alle Schwaben sind«; in einem weiteren Kommentar von Stefan Dietrich erfuhr er dann: »Längst ist klar, daß die ›griechische Krankheit‹ eine Euro-Pandemie ist.«

Die Bild-Zeitung als selbsternannte Stimme fürs gemeine Volk hatte schon Tage zuvor ihre wochenlangen Hetzkampagnen gegen die Griechen auf andere EU-Länder ausgedehnt. Die großen weißen Buchstaben auf schwarzem und rotem Grund bedienten Volkes Frust und gaben der aufkommenden Wut ein Ventil: »Wir sind wieder mal Europas Deppen!«, »750 Milliarden für Pleite-Nachbarn, aber Steuersenkung gestrichen«. Und dann erklärte Bild-Kommentator Einar Koch seinem Schlagzeilen lesenden Volk, wer Schuld daran ist, wenn es ihm bald noch mehr an den Kragen geht: »Zehn Jahre lang haben wir Deutsche für einen stabilen Euro geschuftet, haben Opfer gebracht. Haben uns bei den Löhnen zurückgehalten, haben - ohne groß zu murren - bei den Renten Nullrunden hingenommen. Haben Soli geblecht, haben die höchste Mehrwertsteuererhöhung aller Zeiten hingenommen. Wir haben die Zeche gezahlt - während andere auf unsere Kosten schamlos Party feiern konnten! ... Das ist die verheerende Botschaft: Die anderen haben Schulden ohne alle Maßen gemacht, wir müssen dafür den Gürtel noch enger schnallen!«

Der »kluge Kopf« der FAZ bekommt feinere Kost, seine Verblödung geschieht subtiler. Herausgeber Kohler unterstützt den Kurs von Kanzlerin Merkel, die er mit dem Satz zitiert: »Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.« Wenn der Euro gerettet werden solle, brauche die EU »tatsächlich eine gänzlich ›neue Stabilitätskultur‹« sowie eine »Verbesserung der gegenseitigen Überwachung«. Die Währungsunion, so Kohler, kranke daran, daß »die Voraussetzungen dafür nicht in ausreichendem Maße erfüllt waren«. Das betreffe »nicht nur Unterschiede in der Wirtschaftskraft, sondern auch Unterschiede in den Mentalitäten und Kulturen. Selbst in der Eurozone gehen, wie gesehen, die Anschauungen zu Konsum, Verschuldung, Inflation und sogar Prinzipien wie Treu und Glauben mitunter weit auseinander.« Merkel wolle endlich »diese europäisch bunte Mischung auf eine Linie zwingen - auf die der schwäbischen Hausfrau. Denn nur mit Sparsamkeit und Disziplin ließe sich das Feuer endgültig löschen.«

Tatsächlich verraten die Macher der Bild-Zeitung mehr als die der FAZ. Sie sagen, wer die Zeche schon bisher gezahlt hat und nun den Gürtel noch enger schnallen soll, nämlich die Masse der abhängig Beschäftigten und all jene, die von Sozialleistungen abhängig sind. Bild sagt sogar, daß »wir« uns bei den Löhnen schon lange zurückgehalten haben. Bild sagt allerdings nicht, daß eben dieses deutsche Lohn- und Sozialdumping der Hauptgrund dafür ist, daß die Währungsunion heute kurz vor dem Scheitern steht. Ihre LeserInnen könnten jedoch auf solche Gedanken kommen, wenn ihre Gewerkschaften ihnen dazu Hinweise gäben und endlich auch in Deutschland zu wirksamen Streikaktionen für Löhne entsprechend dem Produktivitätsanstieg sowie für Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich aufriefen. Doch die letzten Tarifabschlüsse waren alles andere als Zeichen der Solidarität mit den griechischen, portugiesischen, spanischen und den anderen Kollegen in der EU; da zeigte sich mehr die Mentalität der »schwäbischen Hausfrau« - so, als hätten die Deutschen weiterhin die Aufgabe, die angeblich »Party« machenden »Anderen« niederzukonkurrieren.

Daß die FAZ und andere Herrschaftsmedien unbeirrt verlangen, die Löhne zu senken, also den Konsum der Massen einzuschränken, und daß sie nunmehr fordern, in ganz Europa staatliche Leistungen kaputtzusparen, kann kaum überraschen. Darin offenbart sich die Blindheit derer, die Nutznießer des kapitalistischen Systems sind. Konsequent systemimmanent gedacht könnte man ja auch auf den Gedanken kommen, daß erhöhte Produktion auf kaufkräftige Abnehmer angewiesen ist. Was unsere Staats- und Kapitallenker ebenfalls regelmäßig verschweigen, ist die Tatsache, daß all die vielen Milliarden und Billionen an Schulden, die die Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten aufgehäuft haben, um den wegbrechenden Binnenkonsum einigermaßen zu stabilisieren, bisher immer auf der anderen Seite reiche Gläubiger gefunden haben, die froh waren, daß ihnen der als sicher geltende Staat ihre überflüssigen Reichtümer gegen Bundesschatzbriefe abnahm und dafür Zins und Zinseszins zahlt.

Es wäre logisch und sogar »systemimmanent«, heute endlich wieder eine höhere Besteuerung der Gewinneinkommen zu fordern und die hierzulande seit mehr als zehn Jahren ausgesetzte Vermögenssteuer wieder zu erheben. Stattdessen schüren der hessische Ministerpräsident Koch und andere die Angst, wir verpraßten »die Zukunft unserer Kinder«, wenn wir jetzt nicht auch bei der Bildung sparten - absurder geht es kaum noch. Die heutigen Staatsschulden, sollten sie tatsächlich noch vererbt werden, wären doch in 30 Jahren die weiter angewachsenen Vermögen der Kinder der Reichen. Deren Zukunft wäre also nicht »verpraßt«, sondern mehr als »gesichert« - sofern das Kapitalsystem mit seinen Mechanismen der Verarmung für die Massen und der schamlosen Bereicherung für wenige überhaupt bis dahin eine Zukunft haben sollte. Wenn jetzt, entsprechend der FAZ-Klugheit, die »Mentalitäten und Kulturen« in Europa auf die Spar-Kultur der »schwäbischen Hausfrau« gezwungen werden, kann das nur weiter in die Unkultur des Massenelends führen. Mir sagen da die Mentalitäten der Griechen und anderer Südländer mehr zu.