Symbolische Gewalt – symbolische Kämpfe

in (12.06.2010)
Gewalt ist in westlichen Gesellschaften längst eine alltägliche Erscheinung geworden. Neben der körperlichen existiert sie auch als ökonomische - zum Bespiel als Vernichtung von Arbeitplätzen - oder als politische Gewalt, die der Staat und seine Institutionen ausüben, wie es etwa mit „Hartz IV" in Deutschland geschieht. In zunehmendem Maß sind vor allem moderne Gesellschaften aber auch auf eine weitere Dimension von Gewalt angewiesen, um die bestehenden Herrschaftsverhältnisse aufrecht zu erhalten. Gemeint ist die „symbolische Gewalt".
Symbole sind im Allgemeinen Bedeutungsverweisungen auf andere Dinge. So verweisen die Tricolore auf die französische Nation, eine Burka auf die soziale Stellung islamischer Frauen oder Hammer und Sichel auf den Kommunismus. Im Grunde genommen kann alles, Subjektives und Objektives, eine bestimmte symbolische Bedeutung, einen bestimmten Sinn erhalten, der einer Sache selbst nicht unmittelbar eingeschrieben ist. Und eine Funktion symbolischer Gewalt erfüllen Gegenstände, Handlungen, Ereignisse oder ästhetische Phänomene dann, wenn sie mit einem Sinn ausgestattet werden, der auf Unterwerfung gerichtet ist. Durch symbolische Gewalt sollen Menschen veranlasst werden, die angebliche Natürlichkeit, Legitimität und Schicksalhaftigkeit gesellschaftlicher Herrschaft anzuerkennen und zu verinnerlichen. Insofern ist symbolische Gewalt, wie Pierre Bourdieu sagt, eine „sanfte Gewalt" und deshalb viel schwerer zu durchschauen als physischer Zwang oder politischer Terror.
Symbolische Gewalt lässt ihren eigentlichen Zweck gleichsam vergessen, indem sie bei den Betroffenen Sinndeutungen auslöst, die den Interessen der Herrschenden und ihrer symbolproduzierenden Eliten (in den Medien, im Kulturbetrieb, aber auch an den Universitäten) entsprechen. Die Beherrschten sollen, so Bourdieu, den Sinn symbolischer Gewalt gleichzeitig „anerkennen" (reconnaître) und „verkennen" (méconnaître). Dieser Sinn scheint paradox zu sein, sichert aber Herrschaftsverhältnisse ungleich effektiver, als es brutale physische Repression vermag. So wird beispielsweise den Beschäftigten heute angetragen, sich nicht mehr als BefehlsempfängerIn des Managements, sondern als „ArbeitskraftunternehmerIn" und „unternehmerisches Selbst" zu fühlen. Hinter den Appellen an Autonomie, Kreativität und Risikobereitschaft - Eigenschaften, die heute symbolisch hoch aufgeladen sind -, verschwindet die eigentliche ökonomische Funktion des/der „Arbeitskraftunternehmers/ArbeitskraftunternehmerIn": sich für den Shareholder Value-Kapitalismus bis zum Kollaps selbst auszubeuten.
Symbolische Gewalt arbeitet vorzugsweise, obschon nicht ausschließlich, mit Bildern. Sie sind besonders gut geeignet, unbewusst „gespeichert" zu werden und deshalb das Fühlen, Denken und Handeln in eine Richtung lenken zu können, an der die symbolische Gewalt ausübenden AkteurInnen und Institutionen interessiert sind. Dabei spielt die Funktion der Normalisierung und Normalität eine entscheidende Rolle. Wenn, um ein weiteres Beispiel zu geben, an jeder Haltestelle dasselbe Plakat hängt, das Frauen zwar in einer sexistischen, also menschenunwürdigen Pose zeigt, aber als öffentliche Werbung stillschweigend toleriert wird, wird auch das vom Plakat vermittelte Menschenbild als legitim und normal wahrgenommen. Sexistische symbolische Gewalt verkündet in allen Schattierungen die Verfügbarkeit von Frauen für die männliche Herrschaft: als Sexualobjekt, Ware, Arbeitskraft, Versorgerin des Nachwuchses und Lieferantin von Gefühlen für den emotionalen Haushalt der Männer. Schon früh lernen Kinder so an Haltestellen, Litfasssäulen, durch Werbung, im Fernsehen und Internet die Botschaften symbolischer Gewalt „zu lesen", also zu verinnerlichen. Als Erwachsene werden sie dann in ihrem Denken und Handeln genau das reproduzieren, was sie früher als legitim und normal gelernt haben.
Bourdieu zeigt, dass symbolische Gewalt nur funktionieren kann, wenn Machthaber und Machtunterworfene über denselben symbolischen Code verfügen und zwischen ihnen ein „stilles Einverständnis" besteht. Das macht den entscheidenden Unterschied zu den anderen Formen gesellschaftlicher Gewalt aus, die gegen den Willen und ohne Zustimmung der Betroffenen durchgesetzt werden müssen. Symbolische Gewalt hat etwas der Erfahrung und Vernunft sich Entziehendes, etwas von „Magie" und „Alchimie" (Bourdieu) an sich.
Symbolische Gewalt durchdringt alle gesellschaftlichen Bereiche bis tief in die Kapillare der Lebenswelt. Sie bemächtigt sich der Kleidung, der Sprache, der Gefühle, der sozialen und geschlechtlichen Beziehungen, des Konsums, der Medien.
Aber symbolische Gewalt stößt auch auf Widerstand, wenn der von ihr transportierte verborgene Sinn, ihre Botschaften und Verheißungen in Frage gestellt und nicht mehr anerkannt werden. Ein solcher Widerstand kann „symbolische Kämpfe" auslösen, in denen der Konsens mit bisher fraglos akzeptierten und als selbstverständlich betrachteten symbolischen Konstruktionen von Herrschaft aufgekündigt wird: Streikende besetzen die luxuriösen, von den Werkshallen strikt getrennten Räume des Managements und verletzen symbolisch dessen betriebliches Machtmonopol. Demonstratives, kollektives Schwarzfahren in Straßenbahnen und Bussen widersetzt sich der Privatisierung und Profitorientierung der öffentlichen Verkehrsmittel. Studierende halten Lehrveranstaltungen im Freien ab, um gegen die Raumnot an Universitäten zu protestieren. Und selbst das Abfackeln von Nobelkarossen ist nicht nur eine Straftat, sondern auch ein Akt, mit dem die Täter zum Ausdruck bringen, dass sie die Invasion der Reichen in Wohnviertel nicht einfach hinnehmen, in denen früher auch die Rentnerin, der kleine Gewerbetreibende oder der Student/die Studentin die Miete bezahlen konnten.
Gerade auch in den Künsten spielten und spielen symbolische Kämpfe eine zentrale Rolle, geht es doch gerade in ihnen wesentlich darum, den Dingen Sinn und Bedeutung zu verleihen. Die symbolischen Kämpfe in der Kunst sind immer - direkt oder indirekt - mit den Kämpfen auf anderen gesellschaftlichen Feldern verbunden. Ob zum Bespiel im Film postmoderner Ästhetizismus oder die sozialkritische Handschrift der Gebrüder Dardenne Resonanz finden, verweist immer auch auf gesellschaftliche Auseinandersetzungen jenseits der Kinosäle, Museen und Kunstausstellungen. Es gehört deshalb zur Aufgabe von KulturproduzentInnen, sich nicht im Elfenbeinturm ästhetischer Beliebigkeit zu verschanzen, sondern sich mit ihren spezifischen Mitteln im Kampf gegen symbolische Gewalt zu engagieren.


Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Sommer 2010, „Gewaltverhältnisse".